Hans Broschs selbstreferenzielle Malerei und ihre Kontexte

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2010

Hans Broschs selbstreferenzielle Malerei und ihre Kontexte

Eine aufschlussreiche Notiz zum künstlerischen Werdegang von Hans Brosch findet sich im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Oktober 1975. Dort resümiert der in Frankreich lebende Kunsthistoriker Werner Spies seine Eindrücke vom Rundgang über die IX. Pariser Biennale der Jungen Kunst und kommentiert in seiner Rezension äußerst überrascht den Beitrag des weithin unbekannten Malers Hans Brosch aus Ostberlin, der zur Sensation dieser Veranstaltung avanciert sei: „Er bietet Collagen, teilweise mit reliefhaften Zutaten, die keinerlei gegenständliche Assoziation zulassen.“1 Jürgen Schweinebraden lieferte später eine genauere Kennzeichnung solcher Collagen als „Serien von collagierten Zeichnungen, bei denen Papierstreifen aufgeklebt, zeichnerisch weiterbearbeitet, in der Zeichnung verwischt, mit Wachsspuren versehen und teils auch durchbrannt werden.“ Statt die Prinzipien des Sozialistischen Realismus zu exemplifizieren, orientierte sich hier ein Künstler aus der DDR am experimentellen Erbe der Moderne. Broschs Arbeiten, so bemerkt Spies in seiner Rezension weiter, würden in Paris kaum derartige Verwunderung hervorrufen, „wüsste man nicht um ihren paradoxen geographischen Entstehungsort.“2

In der Tat war es nicht der Verband Bildender Künstler der DDR, der die Nominierung des seinerzeit 32-jährigen Brosch für die Biennale der Jungen Kunst initiierte. Auf Grund eines neuen Auswahlverfahrens durch ein Komitee von Kritikern und Museumsleuten erfolgte die Einladung von Brosch sogar gegen den Willen des Verbandsvorsitzenden Willi Sitte, der zuvor politischen Druck walten ließ, um die DDR in Paris durch eine dem Sozialistischen Realismus entsprechende Künstlerposition repräsentieren zu lassen. Wer den überraschenden Coup in Gang brachte, beleuchtet Spies im Bewusstsein, eine kulturpolitische Sensation offenzulegen, in seinem Ausstellungsbericht: „Die Initiative, Hans Brosch auf der Pariser Biennale zu zeigen, liegt bei einem Mitglied des Komitees, bei Raoul-Jean Moulin, Kunstkritiker der kommunistischen Tageszeitung L’Humanité. Er lernte Brosch vor einem Jahr während der Tagung der AICA, des Internationalen Verbandes der Kunstkritiker, in der DDR kennen. Die Einladung wurde von dem Kulturattaché an der DDR-Botschaft in Paris und seinem französischen Kollegen in Ost-Berlin befürwortet und gegen den Widerstand des Verbandes Bildender Künstler durchgesetzt.“3

In der DDR besitzt Hans Brosch zu dieser Zeit einige Reputation als Bühnenbildner. Denn der Meisterschüler des bekannten Bühnengestalters, Malers und Grafikers Karl von Appen ist freischaffend für so renommierte Häuser wie das Berliner Ensemble und das Deutsche Theater tätig. Doch die Malerei, die er ohne Auftrag betreibt und in der er anpassungsfrei einen ureigenen Bildraum formuliert, ist ihm wichtiger als die Theaterarbeit, mit der er seinen Lebensunterhalt bestreitet. Sein jäher Erfolg als Maler auf der Pariser Biennale findet jenseits der Mauer allerdings keinerlei Widerhall, vom offiziellen Kunstbetrieb bleiben Broschs Bilder ausgeschlossen. Mit Ressentiment begegnet man seiner bildästhetischen Strategie, die sich dem narrativen Abbild des sozialistischen Alltags verweigert, um stattdessen Matetrialanalysen und piktogrammhafte Zeichen eigenster Prägung in Farbräume einzubetten, die unmittelbar auf der Bildfläche erzeugt werden.

1979 nutzt Brosch einen Studienaufenthalt in Paris, um im Westen zu bleiben. Doch seine darauf folgende Übersiedlung nach West-Berlin erweist sich für den Künstler nur bedingt als Befreiung. Angekommen im Herrschaftsfeld des Kunstmarktes, wird Brosch einem Vermittlungssystem von Kunst ausgesetzt, dessen Mechanismen ihm fremd sind. Unter westdeutschen Feuilletonisten hat sein spektakulärer Biennale-Auftritt zwar Neugier auf jenen Künstler geweckt, der sich erfolgreich dem Sozialistischen Realismus und dessen seit 1971 erweiterten stilistischen Handschriften verweigerte. Auch hatten bereits renommierte Galeristen wie Karsten Greve in Köln, dann Meyer-Ellinger in Frankfurt am Main und schließlich Georg Nothelfer in West-Berlin das Werk des ostdeutschen Außenseiters von 1976 an vertreten, es auf den internationalen Kunstmessen gezeigt und ihm Einzelausstellungen in ihren Galerieräumen gewidmet, aber die an diese Aktivitäten geknüpften Erfolge bleiben hinter den Erwartungen zurück.

Im Sommer 1980 publiziert das Kunstmagazin art ein Feature über Hans Brosch mit dem Titel „Entdeckt. Endlos malen mit Kopf und Körper“ und betont darin seine Dissidenz von dem, „was als DDR-Kunst hierzulande bekannt ist“.4 Diese Würdigung approbiert Brosch als subversiven Vertreter einer ostdeutschen Gegenposition zum Sozialistischen Realismus, obwohl seine Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen allen bildnerischen Spektren aus der DDR – den offiziellen wie auch den subkulturellen – bereits seit den frühen 1970er Jahren entrückt sind und eigensinnigen malerischen Möglichkeitsformen des Bildes nachgehen.

Einer der Wenigen, die Broschs künstlerisches Schaffen als „Reflex auf die momentane Situation“ der in Westdeutschland allenthalben virulent gewordenen Malerei erkennen und zugleich sein Anderssein scharfsichtig diagnostizieren, ist der in West-Berlin lebende Kunstkritiker Wolfgang Max Faust. Wo die für den westdeutschen Kunstbetrieb wieder gefundene Malerei im Gefolge ihres spontanen Sprachgestus eine bildnerische Erzählfreude entwickelt, beschränkt sich Brosch auf Zeichen, die auf ihrem fragmentarischen Zustand beharren und in einem Zwischenbereich von Figuration und Abstraktion schweben: „Ihr Zeichenstatus vor der möglichen Figuration wirkt mit dem Blick auf die gegenwärtig beherrschende figurative Malerei zugleich wie ein nach der Figuration“, kommentiert Faust 1982 und fährt fort: „Die Bildgewissheit der neuen, erzählenden Bilder, die charakterisiert werden von einer Ästhetik der Verstreuung, wird von Brosch zurückgenommen und auf ihre Bedingungen überprüft.“5

In der Formulierung eines bildnerischen Zwischenraums, in dem sich Überschreitungen und Metamorphosen anbahnen, sieht Faust einen neuen Weg malerischer Selbstbehauptung. „Nicht mehr die Sujets entwerfen hier eine latente Bedeutung“; sondern die Bildwerdung, als „Sprache in statu nascendi“, radikalisiert die Frage nach den Möglichkeiten der Malerei in ihrem prozessualen Vollzug.

Durch freundschaftliche Nähen zu einigen Gruppierungen unter den heftigen Malern in West-Berlin, Köln und Hamburg sowie zu deren Galeristen motiviert, richtet Faust jedoch sein publizistisches Augenmerk schon von 1982 an, dem Hunger des Marktes nach lesbaren Bildern folgend, verstärkt auf figurative Positionen der neuen Malerei, während Broschs eigenwilliges Sondieren von Malerei jenseits des Motivs aus dem Blick dieses wichtigen Unterstützers zu schwinden scheint. Im weiteren Verlauf der 1980er Jahre gerät Hans Brosch darauf hin auch im Westen zunehmend in eine Nischenposition und seine Bilder, die, mit Fausts Worten, „eine thematische Ortlosigkeit“ zum Prinzip machen, werden nun von anderen Kritikern in totaler Fehleinschätzung lediglich als ein nachgeholtes, aus einer rein ostdeutschen Gegenkultur zur offiziellen DDR-Kunstdoktrin erwachsenes Informel  gelesen.

Spätestens hier stellt sich die Frage nach der Wirkmächtigkeit übergreifender kulturpolitischer Meinungsbildungen, durch die solcherlei Fehlwahrnehmungen verursacht werden. In der alten Bundesrepublik wusste man vor der Wende kaum etwas von einer informellen Malerei aus dem anderen Deutschland. Doch auch in der DDR selbst blieb die Existenz ungegenständlicher Kunst ein vage umschriebenes Phänomen, da ihre Präsentation unter drastischer Beschränkung nur in privaten Galerien und halbprivaten Veranstaltungen erfolgen konnte.

In den 1950er-Jahren ist der in Dresden lebende Hermann Glöckner noch im fortgeschrittenen Alter der einzige Künstler, der trotz heftigster Formalismus-Polemik seitens der Kulturadministration ein weit gefächertes Werk individueller Prägung hervorbringt. Im direkten Anschluss an das Erbe der konstruktivistischen Vorkriegsmoderne durchdringen sich Materialcollagen, Experimente mit Papierfaltungen und exakte Proportionsanalysen mit gestischen Farbsetzungen, wie sie der bis 1937 in Dresden ansässige Hans Hartung bereits in seinen frühen Aquarellen der 1920er-Jahre praktiziert hatte. Aus all diesen Anregungen formt Glöckner ein innovatives Tafelwerk, dessen  Originalität „aus dem beherrschten Widerspiel von Informel und strenger Konstruktion“ hervorgeht.6

Jüngere Kollegen und Interpreten nennen ihn daher voll Bewunderung den Dresdner „Patriarchen der Moderne“7, und es erstaunt nicht, dass Reflexe auf sein beeindruckend vielgestaltiges Oeuvre in jenen abgeschotteten Zirkeln und Ateliers auftauchen, wo man sich in aller Stille der Doktrin des Sozialistischen Realismus zu entziehen versteht. Dieser Mut zur Eigenständigkeit zeigt sich  bereits bei einer älteren Generation von Dresdner Malern, die wie Hans Christoph oder Herbert Kunze noch vor ihrer Isolation durch den Mauerbau in den Westen gereist waren, um dort auf den beiden ersten Documenta-Präsentationen in Kassel die „Weltsprache Abstraktion“ besichtigen zu können.

Anders als in den bundesrepublikanischen Künstlerkreisen orientiert sich ihr Nachvollzug der Moderne fortan keineswegs nur an einer postsurrealistischen Version des Informel oder an den sich selbst ritualisierenden Farbprozessen des Abstrakten Expressionismus. Mit den vielschichtigen Traditionen der Elbestadt verbunden, greifen sie auch die Dresdner Peinture auf und werten dieEntwicklungsgeschichte der analytischen Materialcollage von ihren kubistischen Anfängen bis zu den Bauhaus-Exerzitien von Itten und Albers aus.

Doch bis weit in die Nachwendezeit hinein werden den Arbeiten von abstrakt malenden Künstlern aus Ostdeutschland in der nachgeholten Rezeption von Kunst aus der DDR nur Randnotizen gewidmet. Erst die Marburger Ausstellung Gegenwelten. Informelle Malerei in der DDR hat im Jahr 2006 die subversive Kontinuität einer  informellen Bildgestaltung in ihren vielschichtigen Verzweigungen am Beispiel Dresdens nachvollziehbar gemacht.8

Während die Faszination der Pop Art mit ihrer wiedergewonnenen Gegenständlichkeit am Beginn der 1960er Jahre in der Bundesrepublik die bis dahin unangefochtene Hegemonie lyrischer und geometrischer Abstraktion unterlief, avancierte die in Ostdeutschland entstandene ungegenständliche Malerei mit ihren spezifischen Ressourcen zu einem identitätsstiftenden Potenzial, aus dem unangepasste Künstler – unter ihnen auch Hans Brosch – den Ansatz eigenständiger Wege schöpfen. Dabei vollzieht sich eine komplexe Differenzierung, die mit dem Stilbegriff „informell“ nicht mehr angemessen beschrieben ist, weil sich die Künstler der jüngeren Generation den vielschichtigen Nachlass der Abstraktion jeweils in individueller Weise aneignen und eigenständig auswerten.

So lässt Hans Brosch am Beginn der 1970er Jahre soziale und mediale Kontexte, die er aus Anregungen der Pop Art und der Fluxus-Bewegung bezieht, unterschwellig in seine Assemblage-Arbeiten einfließen. Ohne Anlehnung an konkrete Vorbilder entsteht nun ein Werkkomplex, in dem sich dunkle Farbigkeit und Materialerforschung mit der Reflexion über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verzahnen. In Arbeiten wie Mann und Gewehr (1971), Sektor (1973), Kein Westfernsehen (1973), Industrielandschaft (1974) oder Sonnensegel (1974) werden aus einer in gestischer Farbsetzung gewonnenen Tiefenräumlichkeit gegenständliche Assoziationen beschworen, die jedoch keine konkrete  Figuration nahelegen.

Hier vollzieht sich bei Brosch ein ähnlicher Prozess, wie er um die Mitte der 1960er Jahre durchaus auch bei Markus Lüpertz in Erscheinung tritt, als dieser mit der Dithyrambe Körperformen ohne eindeutige gegenständliche Benennbarkeit in seinen Formenfundus einführt. Doch im Vergleich zu diesen mit Pathos aufgeladenen Dithyramben bleibt Brosch in seinem malerischen Ansatz wesentlich offener und belässt seine körperhaften Gebilde auch in seinen Assemblagen in einem Schwebezustand zwischen Abstraktion und Figuration. Dieser hatte in Broschs früher künstlerischer Orientierungsphase seinen Ausgangspunkt in der Rezeption Picassos genommen.

Durch seinen Lehrer Karl von Appen, war Brosch ab 1966 in das Teamwork des Berliner Ensembles eingebunden worden, wo die Bildkunst in der Synthese mit dem Theater eine Enklave jenseits der Platitüden des Sozialistischen Realismus besaß. Hier schmückte seit 1953 Picassos Friedenstaube den Bühnenvorhang, und hier trafen sich die aus dem Exil in die DDR zurückgekehrten Künstler, für die der antifaschistische Maler des Guernica-Bildes als beharrlicher Ankläger der Kriegsgräuel in Korea und als Kämpfer für den Frieden ein unangefochtenes Idol blieb. Als Picasso 1973 starb, war mit ihm „eine Legende gestorben“, wie Jürgen Schweinebraden in seinen Erinnerungen konstatiert: „In ihm inkarnierte sich nicht nur faszinierende Malerei, sondern eine Lebensauffassung von individueller Freiheit, Erfolg (auch bei den Frauen) und damit Glück.“9 Unter den 30 Künstlern aus Berlin und Dresden, die sich in einer Ausstellung seiner privaten Galerie am Prenzlauer Berg im Mai 1974 mit dem großen Vorbild solidarisieren, nennt Schweinebraden auch Hans Brosch. Es sind die melancholisch expressiven Lyrismen der Rosa Periode sowie die primitivistischen Vereinfachungen im Anklang an das Porträt der Gertrude Stein und die Demoiselles d’Avignon, die sich beispielsweise in Broschs frühen Gemälden Sitzender weiblicher Akt von 1965 oder Bildhauer und Modell von1968/69 wiederfinden.

Auch bei A.R. Penck lassen sich Analogien zu diesen Picasso-Aneignungen entdecken. Penck erprobt 1963 nicht nur die maskenhafte Vereinfachung der Bildnisform, er verwendet darüber hinaus auch das Prinzip der Mehransichtigkeit in der Porträt-Gouache Sabine W.  Wo Penck an die Picasso-Rezeption seines Dresdner Lehrers Jürgen Böttcher (Strawalde) anschließt, folgt Brosch jedoch derjenigen seiner älteren Ostberliner Freunde Harald Metzkes und Manfred Böttcher aus den ausgehenden 1950er Jahren. Zu dem Zeitpunkt, da Schweinebraden seine Gedächtnisausstellung zum Tode Picassos veranstaltet, hat Brosch indessen schon jene neue Phase seiner experimentierenden Orientierung begonnen, die auf Pop Art und neodadaistisches Vokabular sowie auf die medialen Synthesen der Fluxus-Bewegung reagiert.

In seinen Pop Art-Adaptionen 1971 bis 1973 verbindet Brosch technoide mit organoiden Elementen; danach folgen Auseinandersetzungen mit Neo-Dada- und Fluxusanregungen. An diese Phase kurzzeitiger Stilaneignungen schließt sich eine Periode an, die in weit ausladenden, fast kartografisch anmutenden Vogelperspektivsichten auf Flugplätze, Sportstätten und Straßenkarrees, aber auch an diversen Interieurs die malerische und zeichnerische Vergegenwärtigung oszillierenden Raumempfindens erprobt. Arbeiten dieser Phase tragen Titel wie Berlin (1976/77), Sportplatz (1977), Brandschatz (1977), Aeroplane (1978).

Ironische Distanz zum Konsumfetischismus, politische Herausforderungen durch die Grausamkeiten im Vietnamkrieg und spontane Erfahrung aus freier Improvisation vermittelt die engagierte Beobachtung von Fluxus-Aktivitäten, die der Franzose Robert Filliou in Ostberlin initiiert. Jürgen Schweinebraden berichtet, dass er als fünfte Ausstellung seiner Zimmergalerie im Januar/Februar 1975 eine „Hommage à Robert Filliou“ veranstaltete, an der unter anderen auch Hans Brosch teilnahm.10 Filliou, der sich 1974 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Westberlin aufhielt, war in dieser Zeit auch häufiger Gast in Schweinebradens Ostberliner Galerie gewesen und hatte die Galerie-Freunde mit seiner 1974 entstandenen Fluxus-Installation Recherche sur l’origine bekannt gemacht. In ihr zieht Filliou eine Analogie zwischen der modernen Astrophysik und dem Dao-de-jing, dem von Laotsi verfassten Hauptwerk des chinesischen Taoismus. In Broschs eigener Werkphase um 1975 ist die Teilnahme an dieser Hommage mit einer bemalten Schranktür und einem von der Decke herabhängenden, zerstörten Regenschirm, der wie eine Fledermaus anmuten sollte, vorrangig eine Sympathiebekundung für den Fluxus-Künstler und dessen taoistische Lebensdevise von der permanenten Kreativität. Im freien Spiel des anschaulichen Denkens und der Unschuld – Filliou spricht von „imagination“ und „innocence“ – erlebt die Schöpfung einen durch jeden Menschen fortsetzbaren Prozess. Brosch bezieht aus dem kreativen Vagabundieren Fillious für sich die ermutigende Aufforderung, ureigene Wege einzuschlagen. Diese konkretisieren sich im offenen Konzept seines Malens, in dem sich grenzüberschreitend Poesie, Imagination, subtiler Humor und meditatives Sondieren amalgamieren.

In diesem Geist eines prozessualen Werkverständnisses entstehen 1974/75 auch jene Arbeiten, die Brosch bei seinem Pariser Debüt auf der Biennale der Jungen Kunst ausstellen kann. Nach seiner Übersiedlung nach Westdeutschland schlägt Brosch – den Anachronismen eines sich in der DDR gegenkulturell zum Sozialistischen Realismus verstehenden Informel vollends enthoben – eine Wegrichtung ein, mit der sich seine Malerei, wie man im Rückblick diagnostizieren kann, durchaus in der Nachbarschaft zu zeitgleichen Werkkonzepten befindet, wie sie bei Gerhard Richter oder Imi Knoebel in Erscheinung treten. Skripturale Notate und malerische Gesten, fragmentarische Zeichen und angedeutete figurative Assoziationen betten sich ein in Farbmeere von suggestiver Transparenz und erhalten in diesen Farbgründen ihre rätselhafte Vieldeutigkeit diesseits und jenseits des Realen.

Schon seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre haben Georg Baselitz und Markus Lüpertz die emphatische Vehemenz gestischen Malens und die sinnliche Wirkung der Farbe wieder in die bundesrepublikanische Kunst hinein geholt. Wenn diese Künstler sich selbst als abstrakte Maler titulierten, so bezogen sie sich angesichts ihrer figurativen Bildmotivik auf ihre malerische Auseinandersetzung mit Formen, Farben und Linien, was etwa Georg Baselitz dadurch apostrophierte, dass er seine Sujets auf den Kopf stellte, um sie gegenüber der Relevanz des Malvorgangs zu relativieren.

Gerhard Richter überrascht sein Publikum von 1977 an mit abstrakten Gemälden, die informell erscheinen, aber aus gänzlich anderer Intention hervorgehen. Denn Richter vermeidet in ihnen Komposition und konzentriert sich stattdessen auf die Selbstdarstellung unterschiedlicher malerischer Gesten. Erstaunt stellt der Künstler selbst fest, dass aus dem Miteinander von zufällig oder gelenkt geführten Rakel- und Pinselstrichstrukturen auf der Leinwand eine imaginäre Bühne entsteht, auf der sich Farbflächen, Linien und grafische Muster zu einem illusionären Bildraum ausweiten.11

Imi Knoebel beginnt – 1980 ebenso überraschend wie Richters Experiment der abstrakten Bilder – eine Probierphase mit farbigen Papiermustern und Plastikfolien und durchbricht mit spannungsreichen Farbkombinationen seine zuvor praktizierte Beschränkung auf die Primärfarben Gelb, Rot und Blau. Eine raffinierte Collagetechnik schichtet zerschnittene Kunststofffolien und bemalte Papierformen teils neben- und teils übereinander, während sich getropfte Farbschlieren und gestrichene Pinselschwünge mit den glatten Flächen der Kunststofffragmente berühren. Daraus entsteht in den sogenannten Drachenzeichnungen ein illusionärer Bildraum, in dem sich durch das Ineinanderschieben der Papiere und Folien „keine eindeutige räumliche Wirkung im Sinne eines optischen Vorder- und Hintergrundes einstellt“12, sondern ein vielschichtig facettiertes Perspektivengemisch aufscheint.

Mit diesen Experimenten vollziehen Richter und Knoebel gewiss keine Reanimation informeller Traditionen, wie sie von Kandinsky bis Pollock als Projektionen für psychische Gestimmtheiten evoziert wurden. Sie nutzen vielmehr die Verfügbarkeit des abstrakten Bildes, um an ihm die Möglichkeiten von Gestaltungsprozessen mit der autonomen Farbe zu exemplifizieren.

Diese Position nimmt nun, seit Beginn der 1980er Jahre, auch Hans Brosch ein, wenn er in vielfachen Feucht-in-Feucht-Überarbeitungen auf seinen Gemälden und Aquarellen die Verräumlichung der Farbe vollzieht. Der theatererfahrene Maler schafft sich einen imaginären Schauplatz für seine bildnerischen Aktivitäten aus den Potenzialen der Farbeigenschaften. Das Bild wird, wie der weitsichtige Interpret Wolfgang Max Faust bereits 1982 konstatiert hat, zur „Möglichkeitsform“, zur „proteischen Konfiguration“, die sich als „thematische Ortlosigkeit“ lesen lässt, aber auch das unerwartete Aufscheinen „kryptisch-fragmentarischer Figurationen“ provoziert.13 Die Leinwand mutiert zur Bühne, auf der in breiten Strichbahnen oder filigranen Lineamenten aufgetragene Farben Räume öffnen, die wieder mit neuen Farbflüssen durchtränkt werden. Als die Galerie Karsten Greve 1981 einige dieser unbetitelten Gemälde im Foyer des Kölner Opernhauses ausstellen kann, formuliert Lothar Romain in einem die Präsentation begleitenden Faltblatt den sprechenden Satz: „Die Bilder wurden mit Hilfe der Farbe nach innen aufgeschlüsselt.“ Was in diesen Bildern als mutmaßliche Reminiszenz an informelle Vorbilder auftaucht, ist nur noch Material für einen schöpferischen Prozess, der sich eine nach innen geöffnete Bildwelt erobert.

Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre verdichten oder entflechten sich bei Brosch die übereinander geschichteten Farbgründe häufig zu plastischen Formen, zu figuralen Schemen wie Krieger (1986), der Harlekinade-Serie (1987) und Najaden (1999) oder zu filigranen Geweben. Bänderartige Linien durchziehen die Farbräume wie Gazeschleier, Sedimente von Akten und Gesichtern, etwa Kopf S (1987), sowie fleckenartig gesetzte Spuren, die Fußabdrücke suggerieren, tauchen aus den Farbverläufen hervor. Gelegentlich erinnern graffitiartige Zeichen an die Kalligrafien Cy Twomblys, und plastische Farbballungen erhalten eine fleischliche Anmutung, die Vergleiche mit der expressiven Breiigkeit der Körperfragmente von Chaim Soutine oder Frank Auerbach nahe legen (Das Fest, 1987). Doch nach wie vor konkretisieren sich diese Assoziationen in keinem festgelegten, lesbaren Bildinhalt. In den Weiten der aus der puren Malerei hervorgehenden Farbräume folgt Brosch geradezu lustvoll den anarchischen Regungen seiner spontan agierenden Hand und reagiert zugleich mit konstruktiven Eingriffen auf die figurativen Verdichtungen, die sich im Farbschlamm herausschälen, ohne dass er dabei einer Motivik Ausdruck verleiht.

Es ist bemerkenswert, dass sich ein Künstler wie Albert Oehlen in den ausgehenden 1980er Jahren in vergleichbaren Parametern einer puristischen „Malerei über Malerei“ ohne vorgefasste Thematik bewegt. Während Oehlens vorausgegangene Arbeiten der Bad-Painting-Phase mit provokanter Kritik, beißender Ironie und heftiger Geste auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik reagierten, folgt ab 1988 eine Periode, in der er eher die expressiv-abstrakte Malweise Willem de Koonings zitiert und figurative Elemente lemurenhaft aus einer diffusen Farbmasse hervordringen lässt. Wie für Brosch ist auch für Oehlen offenkundig das Informel dabei nur stilistisches Material einer Malerei, die das Potenzial bildnerischer Mittel spontan und konstruktiv zugleich auslotet. Hier ist zugleich die maßgebende Differenz zu verorten, durch die sich Hans Brosch von der zweiten Generation der informellen Maler aus der DDR unterscheidet und seine Zeitgenossenschaft innerhalb einer westdeutschen Avantgarde bekundet.

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Anmerkungen

1 Spies, Werner, Feen der Arbeitswelt und die Ausbeutung des Flohmarkts. Von China bis zur Selbstdarstellung der Avantgarde auf der Pariser Biennale junger Kunst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 06. 10. 1975. Wieder abgedruckt in: Ders., Das Auge am Tatort. 80 Beggegnungen mit Kunst und Künstlern, München u. a. 1979, S. 32ff.

2  Schweinebraden, Jürgen, Hans Brosch, in: Gallwitz, Klaus (Hg.), Zeitgenössische Kunst in der Sammlung Deutsche Bank, Stuttgart 1990, S. 64.

3  Spies, Feen der Arbeitswelt (wie Anm. 1), ebd.

4  Bosetti, Petra, Entdeckt. Endlos malen mit Kopf und Körper, in: art, Heft 8/1980, 116f.

5  Faust, Wolfgang Max, Stichwörter, in: Galerie Georg Nothelfer (Hg.), Hans Brosch (Ausst.- Kat. Galerie Georg Nothelfer), Berlin 1982, o. S.

6  März, Roland, „Formalistisch“ Informel, in: Blume, Eugen/März, Roland (Hgg.), Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie (Ausst.-Kat.Neue Nationalgalerie Berlin u.a.), Berlin 2003, S. 135.

7  1983 gibt John Erpenbeck im Verlag Der Morgen (Berlin/DDR) eine Monografie heraus, die den Titel trägt: „Hermann Glöckner – Ein Patriarch der Moderne“.

8  Siehe dazu den Essay von Hofer, Sigrid, Wider die Kunstdoktrin. Dresdens Beitrag zur informellen Malerei nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Streifzug, in: Hofer (Hg.), Gegenwelten (wie Anm. 8),  S. 9ff.

9 Schweinebraden, Jürgen, Reflexionen und Beschreibungen einer vergangenen Zeit. Erinnerungen 1956-1980, in: Feist, Günter/Gillen, Eckhart/Vierneisel, Beatrice (Hgg.) Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990. Aufsätze, Berichte, Materialien, Köln 1996,S. 699.

10 Schweinebraden, Reflexionen (wie Anm. 9), S. 703.

11  Siehe dazu Richter, Gerhard, Antworten auf Fragen von Marlies Grüterich, 2.9.1977, in:Ders., Text. Schriften und Interviews, hg. von Hans-Ulrich Obrist, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 81ff.

12 Siehe dazu Butin, Hubertus, Komplexität als Produktionsmodus. Zu den Papierarbeiten von Imi Knoebel, in: Ders. (Hg.), Imi Knoebel: Ich nicht – Neue Arbeiten/ENDUROS. (Ausst.-Kat. Deutsche Guggenheim Berlin), Ostfildern 2009,S. 77.

13 Faust, Stichwörter (wie Anm. 5).

In: Hans Brosch.  Ausst.-Kat. Sttiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig 22. Januar bis 5. April 2010. Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2010, S. 46-52.

© Karin Thomas

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