Die architektonische Komposition des Raumes als Abbild des Himmlischen Kosmos

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2005

Die architektonische Komposition des Raumes als Abbild des Himmlischen Kosmos

 

Noch heute bewundern wir  die gewaltigen Anstrengungen, die das mittelalterliche Abendland mit der Errichtung der romanischen und gotischen Kathedralen vollbracht hat. Staunend stellen wir uns die Frage, wie die Menschen, die damals zumeist auf engstem Raum in dunklen Behausungen lebten, zu solchen ehrgeizigen Leistungen und finanziellen Opfern fähig waren. Aus den Quellen zum Bau der heute zerstörten Kirche von Saint-Trond bei Lüttich erhalten wir ausführliche Auskunft darüber, wie die Gläubigen „in großer Frömmigkeit freiwillig Steine und Säulen aus Köln auf ihren Wagen zur Baustelle fuhren“, und aus anderen Berichten erfahren wir auch, daß Bauern Nahrungsmittel zu billigen Preisen in die Werkstätten der Kathedralen lieferten. Und doch ist die verbreitete Vorstellung, die großartigen Kirchenbauten des Mittelalters seien Denkmäler überbordender christlicher Frömmigkeit der jeweils ortsansässigen Bevölkerung eine romantisierende Legende. Tatsächlich waren Bischöfe mit fürstlichem Status und Äbte reicher Klöster Bauherren der großen Kathedralen und Abtei-kirchen, und der Klerus bediente sich zur Ausführung seiner Bauvorhaben geschulter Baumeister und ambulanter Werk-gemeinschaften, die von Baustelle zu Baustelle zogen.

 

Der sakrale Raum bot den Priestern und Mönchen den geweihten Ort für den Vollzug der liturgischen Gebete und Gesänge sowie für die Verkündigung der christlichen Lehre an die weithin leseunkundigen Gemeinden. Wesentlicher Gehalt der Heilshandlungen ist die Leidensgeschichte Christi zur Erlösung der Menschheit, und eine der großen Errungenschaften der romanischen sakralen Kunst bestand darin, in ihren plastischen und malerischen Bild-werken dieser Heilserzählung sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Wie die Triumphbögen Roms die Siege der römischen Kaiser über den barbarischen Feind in ihrer steinernen Monumentalität verherrlichten, verkünden die Skulpturen und reliefartigen Szenarien an den Portalen und Säulenkapitellen der romanischen Kirchen den Triumph des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Den antiken Basiliken vergleichbar, schaffen die von mächtigen Pfeilern gestützten und von anspruchsvollen Gewölbe-konstruktionen überdachten Gotteshäuser den auratischen Raum für die Feier des Dialoges mit dem Himmlischen Kosmos und der Vergegenwärtigung der Heilstat Christi in der Eucharistie.

 

Raum war in der mittelalterlichen Vorstellung weit entfernt von der abstrakten Begrifflichkeit, die wir in der Moderne ausgebildet haben. Raum war sichtbare Ausdehnung, meßbares Intervall, und seine überwältigende Wirkung in der erhabenen Weite und Höhe der Kathedralen verlebendigte die Worte der apokalyptischen Vision des Johannes aus der Offenbarung 21: „Ich sah, wie die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkam. Sie war festlich geschmückt wie eine Braut, die auf den Bräutigam wartet (…), und der Engel trug mich auf die Spitze eines sehr hohen Berges. Er zeigte mir die Heilige Stadt Jeru-salem, die von Gott aus dem Himmel herabgekommen war. Sie strahlte die Herrlichkeit Gottes aus und glänzte wie kostbarer Stein, wie ein kristallklarer Jaspis. Sie war von einer sehr hohen Mauer mit zwölf Toren umgeben.“  Die strahlenden Kaskaden regenbogenfarbigen Lichts, die durch die kunstvoll verglasten Fensterrosetten in die Kathedralen einströmten und die homophone Meditationsmelodik Gregorianischer Choral- und Antiphongesänge gaben dieser Vision des neuen Jerusalem kristallinen Glanz und akustischen Widerhall in einem Raum, dessen Dimensionen die Empfindung der menschlichen Körper-größe auf Zwergenmaß reduziert haben mag.

 

Romanische und gotische Kunst sind Amalgamgebilde aus viel-schichtigen Einflüssen. Der Terminus >Romanik<, den die Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts prägten, betont die seit Karl dem Großen vollzogene Wiederbelebung der römischen Antike unter christlichen Vorzeichen. Doch darüber lagern sich auch die labyrinthische Flechtornamentik der insularen Kunst sowie Einflüsse aus Byzanz in der Darstellung des Himmlischen Kosmos mit der Majestas Domini, der Muttergottes, den Aposteln und Heiligen sowie den himmlischen Heerscharen. Obwohl die große Kathedralarchitektur auf englischem Boden mit der Herrschaft der normannischen Invasion begann, ist die angelsächsische Spätromanik kein kolonialer Baustil nach nordfranzösischem Vorbild. Wenn auch die englischen Kirchenräume in ihrer Raumatmosphäre französischen Vorbildern folgen, konnte sich eine insulare Eigenständigkeit in den Wandaufbauten und Gewölbekonstruktionen entwickeln, die erst unter Heinrich VIII. mit dem Ende der katholischen Kirche in England verebbt.

 

Die Kreuzzüge brachten die kriegerische Auseinandersetzung der Kreuzritter mit den Osmanen, aber auch das Eindringen islamischer Motive und bordenartigen Dekors in das christliche Baukunstprogramm von Südwestfrankreich, Nordspanien und Sizilien. Die akute Gefährdung des Oströmischen Reiches durch türkische Eroberungen löste die das gesamte christliche Europa erfassende Bewegung der Kreuzzüge aus. 1095 erbat eine byzantinische Gesandtschaft den Beistand des Papstes. Am 18. November 1095 berief Papst Urban II. ein Konzil ein, das zur Befreiung der im Orient lebenden Christen und der Heiligen Stadt Jerusalem aufforderte und den Teilnehmern des Kreuzzuges den Sündenablaß versprach. Als heiligste Stätten der Christen waren die Orte des Leidens und das Grab Christi wesentliche Motivation für die Eroberung Jerusalems. Im Herbst 1096 brach das erste Kreuzfahrerheer auf und eroberte am 14./15. Juli 1099 Jerusalem. Auf dem beschwerlichen Weg nach Osten mußte der Kampfesmut durch wundersame Reliquienfunde wie die der Heiligen Lanze immer wieder neu entfacht werden, und weitere fünf Kreuzzüge waren notwendig, um die Eroberung Jerusalems zu sichern, bis die letzten Kreuzfahrer unter französischer Führung der muslimischen Übermacht unterlagen und Jerusalem 1244 endgültig verloren ging. Kulturell getragen wurde der Impuls der Kreuzzüge von einer burgundisch-provenzalischen Ober-schicht, in der die Gesellschaftskunst der Troubadore herangereift war und sich geistliche Musik in der Gestalt der Gregorianischen Choräle und lateinischer Hymnen in den Abteien und Domen entfalten konnte.

 

Als multinationale Organisation war die Kirche im Mittelalter wichtigste Instanz für die Verbreitung künstlerischer Kenntnisse in Anbindung an die Verkündung der christlichen Heilsbotschaft, da sie mit dem Lateinischen eine einheitliche Sprache besaß. Große Förderung erlebten Architektur, Skulptur, Buch- und Glasmalerei durch das Klosterleben, das Mönchen und Nonnen neben dem Gebet auch  künstlerische Betätigung und Ideenaustausch im Kontext der Ordensniederlassungen ermöglichte. Eng mit den Klöstern verbunden waren Wallfahrten und Pilgerreisen zu den Reliquien  von besonders verehrten Heiligen. Die drei populärsten Pilgerwege führten nach Jerusalem, nach Rom mit den Reliquien von Petrus und Paulus sowie nach Santiago di Compostela, wo angeblich der Leichnam des Apostels Jakobus des Älteren mit einer von der göttlichen Vorsehung gelenkten Schiffsbarke angelandet war. Auf den Reiserouten boten die Klöster den Pilgern Herberge und geistliche Erbauung. Um den Reliquien einen feierlichen Rahmen zu verleihen, entstanden prächtige Kirchen-bauten wie die der hl. Magdalena geweihte Kirche von Vézelay, die sich auf einem der festgelegten südfranzösischen Reisewege nach Santiago di Compostela befand.

 

In den hochgotischen Kathedralen Frankreichs wird die reich verzierte Westfassade zum sichtbaren Anklang an die „Wohnungen des Himmlischen Jerusalem“ (Joh. 14,2). Die Weihenamen vieler französischer Kathedralen wie die von Chartres, Reims, Amiens und L’Epine bekunden die Gestalt Mariens als Bindeglied zwischen Gott und den Menschen.  Die filigranen Kirchenbauten der Gotik verwandeln sich mit ihrer durch Strebebögen, Maßwerkfenster und schwerelos aufragende Bündelpfeiler erzeugten ätherischen Vertikalität zum Abbild des himmlischen Raumes, in dem sich das Licht des Göttlichen materielos niederschlägt. König Ludwig IX. von Frankreich, der den Beinamen >der Heilige< erhielt,  ließ inmitten seines Königspalastes auf der Pariser Ile de la Cité ein gigantisches Reliquiar, die Sainte-Chapelle, zur Aufbewahrung der Leidenswerkzeuge – u.a. der Dornenkrone, die er von Byzanz erworben hatte – errichten. Der vom kaleidoskopischen Licht der Buntglasfenster entmaterialisierte Raum machte die Sainte-Chapelle zum locus sanctus, von dem sich auch das kapetingische Königshaus mit weihevoller Glorie überhöhen ließ.

 

Italien nahm an der gotischen Baukunst keinen wesentlichen Anteil, und schon in der frühen Renaissance betrachtete man in Florenz und Rom den Stil der Strebebögen als >barbarische< Abkehr von den Errungenschaften der auf ausgewogenen Proportionen fundierten antiken Baukultur.  Orientiert an den 27 v. Chr. geschriebenen Zehn Lehrbüchern über Architektur und Bautechnik des römischen Bauingenieurs Vitruv verfaßte der Florentiner Künstler und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti eine Proportionslehre, die er an den Intervallverhältnissen antiker Gebäude exemplifizierte. Besondere Würdigung widmete Alberti 1435 der kurz zuvor von Filippo Brunelleschi vollendeten Kuppel des Florentiner Domes, die er überschwenglich als derart groß beschrieb,  daß „die gesamte Bevölkerung der Toskana in ihrem Schatten Platz finden könnte“. Was Alberti als kühne Neuerung bewunderte, war die technische Großtat eines riesigen Kuppelbaus, der zum Symbol eines neuen Stils, der Renaissance, werden sollte.

 

Schönheit ist für Alberti Übereinstimmung der Teile zum Ganzen, und gemäß dieser auf ausgewogenenen Proportionen gegründeten Harmonievorstellung sieht er eine Analogie zwischen der Architektur und der Musik. Ein Zeitgenosse Albertis, Guillaume Dufay, komponierte in diesem Geist anläßlich der Florentiner Domeinweihung am 25. März 1436 die Motette >Nuper rosarum flores<, die in ihrem Aufbau vielfachen Bezug auf die Architektur nimmt. David Fallows erläutert diese Intervallkongruenz zwischen der Raumkomposition der Architektur und den Zeitproportionen der Motette sehr konkret: Dufay „baut sein Nuper rosarum flores auf zwei tieferen Stimmen auf, die viermal mit verschiedener Geschwindigkeit in einem Längenverhältnis von 6:4:2:3 auftreten – das entspricht dem Verhältnis von Schiff, Vierung, Apsis und Höhe der Kuppel im Dom“. Mit ihrer eleganten Außenhülle prägte die Kuppel Brunelleschis die Kulisse der Stadt Florenz und wurde – anders als der in die himmlischen Sphären weisende Turm der Gotik – zum Symbol städtischen Reichtums und mäzenatischen Selbstbewußtseins, das vor allem die kunstsinnigen Medici zu demonstrieren verstanden.

 

Die von der Antike inspirierten Zehn Bücher über die Architektur von Alberti beeinflußten auch die päpstliche Baukunst in Rom, wo in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Peterskirche nach dem Vorbild der antiken Maxentius-Basilika und des Pantheon umgestaltet wurde. Am 18. April 1506 legte Papst Julius II. den Grundstein für die neue Peterskirche, deren Bau in der Folgezeit ein Jahrhundert beanspruchen wird. Nach den Entwürfen Bramantes sollte ein kolossaler Zentralbau über dem Grundriß eines griechischen Kreuzes innerhalb eines quadratischen Außenbaus entstehen. Die Kuppel nach dem Modell des Pantheons sollte die triumphierende Kirche als Vermittlerin zwischen Geist und Materie, zwischen den himmlischen und irdischen Sphären versinnbildlichen, letztere repräsentiert durch die Päpste in der Nachfolge von Christus und Petrus.

 

Im Bauentwurf für den Tempietto auf dem römischen Monte Gianicolo, wo frühen Chroniken zufolge Petrus mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sein soll, griff Bramante die Zentralität der Peterskirche wieder auf und gestaltete den Rundtempel ganz nach den antiken Lehren Vitruvs. Den Durchmesser von 16 altrömischen Säulen, die er für den Bau zur Verfügung hatte, benutzte Bramante als Proportionsgrundmaß. So beträgt der Abstand zwischen den Säulen das Vierfache, ihr Abstand zur Raumwand das Zweifache ihres Durchmessers. In dieser Dehnung und Öffnung des Raumes nach außen manifestiert sich der von Petrus ausgehende Missionsauftrag der römischen Kirche in der geometrischen Perfektion der Architektur. Eine vergleichbare harmonische Proportionalordnung wie die des Tempietto sah auch Bramantes Entwurf für den Außenbau des Petersdoms vor, Michelangelos spätere Ausführungen brachen jedoch mit den antiken Regeln zugunsten eines dynamischen Aufwärtsdrangs in Gestalt von Doppelpilastern.

 

In Venedig, wo der Byzantinismus bis in die Renaissance hinein den Kirchenbau prototypisch bestimmte, war es Andrea Palladio, der mit San Giorgio Maggiore und Il Redentore die Neudefinition des sakralen Raumes nach antikem Muster einführte.  Als der Senat der Serenissima nach einer verheerenden Pestseuche 1576 den Beschluß faßte, eine Votivkirche zu Ehren des Erlösers zu errichten und Palladio mit dem Bauauftrag betraute, hatte der Baumeister eine dreifache Aufgabe zu erfüllen. Il Redentore sollte Votivkirche, Prozessionskirche – für die alljährliche Stadtprozession am 21. Juli – und Klosterkirche der Kapuzinermöche sein. Allen diesen unterschiedlichen Funktionen trug Palladios Raumkonzept Rechnung. Der zum Wasser hin gelagerte, weithin sichtbare Portikus bildet wie eine antike Tempelfront den einladenden Introitus zum Langhaus, in dem sich das letzte Stück des feierlichen Prozessionsweges vollzieht. Hat der Gläubige das von Langpfeilern rhythmisierte Langhaus durchschritten, öffnet sich ihm der von einer mächtigen Tambourkuppel überwölbte ovale Zentralraum des Presbyteriums, in dessen Rundung sich die Unendlichkeit Gottes versinnbildlicht. Abgetrennt von den vorderen Raumkompartimenten dient die Exedra hinter der Rotunda ausschließlich der mönchischen Andacht. Sinnfälliger kann der Kontrast zwischen den byzantisierenden Figurationen von San Marco und der antikischen Klarheit von Il Redentore nicht sein: Statt irisierender Farbigkeit vor schwerem Gold strahlt ein puristisches Weiß symbolhaft für die Reinheit des göttlichen Geistes.

 

In den Kirchen des süddeutschen Hochbarock, die den ekstatischen Geist katholischer Glaubenserneuerung nach den Herausforderungen durch die Reformation und den Greueln des Dreißigjährigen Krieges atmen, dient eine übersprudelnde Prachtentfaltung dazu, die Herrlichkeit des Göttlichen als raumgreifendes Andachtsbild den Sinnen erfaßbar werden zu lassen. Bestimmten in der Renaissance die mathematischen Regeln einer harmonischen Proportionalität die Baukunst, intendiert barocke Architektur die Überwältigung des Auges. So gleitet der Blick des Gläubigen über das strahlende Weiß der Freipfeiler, Wandaufbauten und Putti zu den jubelnden Farbrhythmen von Stuckmarmor, Kartuschen und Draperien, um in den illusionären Malereien riesiger Gewölbeovale paradiesische Seligkeit im Angesicht Gottes, Marias sowie der Heiligen und Märtyrer als bildliche Vision zu erleben. Ähnlich wie in der Gotik schafft die barocke Sakralarchitektur den Rahmen für ein spirituelles Gesamtkunstwerk, das sich im feierlichen Vollzug der Liturgie und der kirchlichen Gesänge, begleitet vom Duft des Weihrauchs, meditativ konstituiert. Zu den zentralen Ausstattungen der Barockkirche treten neben Altar und Kanzel die Orgel und die Empore für den Chor. Messe-Kompositionen zu den Texten der Liturgie, Oratorien und Kantaten bringen mit Chorgesängen, Da-capo-Arien und instrumentalen Zwischenspielen eine polyphone Rhetorik in die Kirchenmusik ein, deren drama-tischer Gestus seinen Widerhall im konzertierten Theatrum sacrum von Architektur, Dekor und Malerei erfährt.

 

Idyllisch in die Landschaft eingebettete Wallfahrtskirchen, denen sich die Gläubigen häufig auf mehrtägigen Fußmärschen näherten, um Gnade oder Gesundung von körperlichen und seelischen Gebrechen zu erflehen, reagieren in ihrer Baustruktur auf die Kulisse ihrer Umgebung und holen die Schönheiten der Natur in Gestalt floralen Dekors in ihre Innenräume hinein. So erhebt sich die Birnau mit ihrem haubenbekrönten Turm als Schauseite weithin sichtbar auf einer Weinbergterrasse über dem Bodenseeufer, während die Dachlinie der oberbayerischen Wieskirche in Steingaden die gestufte Silhouette der hinter den Wiesen sich aufbauenden Tauchberge nachzeichnet.

 

Mit der 1754 geweihten Wies, die das wundertätige Gnadenbild des >Gegeißelten Heiland< beherbergt, schuf Dominikus Zimmermann die vollendete Raumform einer Wallfahrtskirche. Der Gedanke der Erlösung von allem Übel durch das Leiden Christi bestimmt das Bildprogramm des Altars und gipfelt im Deckengemälde von Johann Baptist Zimmermann.  Das Kreuz schwebt als Zeichen ewiger Versöhnung mit der Menschheit im strahlenden Zentrum des Bildes. Hell in das Kirchenschiff einfallendes Tageslicht verbindet den realen Raum, in dem sich die Pilger in andächtiger Meditation aufhalten, mit dem illusionistischen Raum der gemalten Himmelsanschauung, die vorwegnimmt, was die Pilger für das Ende ihres Lebensweges ersehnen: den Eintritt in die Herrlichkeit Ewigen Lebens.

 

Eine besondere Vorliebe für die Rotunde verbindet die Barock-architektur mit der Renaissance. Balthasar Neumann wählt den von vier Freisäulen flankierten Rundtempel als Mittelpunkt der Benediktinerabteikirche Neresheim und läßt in ihn Langhaus und Chorraum einmünden. Auch Johann Bernhard Fischer von Erlach konzipiert das Kernstück der Wiener Karlskirche als Oval, um das sich Chor und Kapellen reihen. Markante Akzentuierung erhält diese Raumkonzeption durch die mächtige Tambourkuppel, die sich über dem Kernoval wölbt. Ihre Innenrundung schmückte der kaiserliche Hofmaler Johann Michael Rottmayr 1725 bis 1730 mit einem in leuchtenden Farben gehaltenen Deckenfresko, das den hl. Karl Borromäus in der Glorie zeigt. Der Renaissancegeist des päpstlichen Rom und die Herrschaftsattitüde der deutschen Kaiseridee spricht aus dem von zwei mächtigen Triumphsäulen gerahmten antikisierenden Tempelportikus. Anders als die auf Andacht ausgerichteten Wallfahrtskirchen ist die Karlskirche nicht nur sakraler Ort, sondern auch Machtmonument unter dem Habsburger Kaiser Karl VI., regierte dieser doch über ein Reich, in dem – wie ein geflügelter Spruch stolz verkündete – „die Sonne nicht unterging“.

 

In Österreich verarbeiteten die Baumeister unter der Habsburger Dynastie das schöpferische Potential der vorausgegangenen Renaissance, ließen sich aber nicht vom strengen Regelkanon der auf Vitruv basierenden Traktatliteratur einengen. Sie verbanden die Wiedergeburt der antiken Baukunst mit einer phantasiereichen Theatralik, in der die Pracht des schönen Scheins und zeremonielle Frömmigkeit gleichermaßen Ausdruck finden. Jacob Burckhardt sah daher in der Baukunst des 18. Jahrhunderts das „eigentliche Ende“ und das „glanzvolle Hauptresultat“ der epochalen Architekturgeschichte im christlich geprägten Abendland.

 

 

© Karin Thomas

 

In: Himmlische Harmonien. Heilige Räume und geistliche Musik.(Architekturfotografien von Achim Bednorz).Mit 2 CDs.Köln: DuMont 2005, S. 7-13.)

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