2015 Kunst und Künstler im geteilten Deutschland

Karin Thomas

Kunst und Künstler im geteilten Deutschland

25 Jahre nach dem Vollzug der Deutschen Einheit ist der zeitliche Abstand heute groß genug geworden, um die bildende Kunst im geteilten Deutschland unter dem Einfluss gesellschaftspolitischer Entwicklungen und ideologischer Instrumentierungen kritisch in den Blick zu nehmen. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches sahen sich deutsche Künstler vor der Aufgabe, eine neue Identität und Mentalität auszubilden. Durch ihre jahrelange Isolation entfremdet gegenüber der 1945 aktuellen Formensprache des internationalen Modernismus, verbanden sie ihre stilistische und thematische Distanzierung von der repräsentativen NS-Kunst mit dem Rückgriff auf die von den Nationalsozialisten als „entartet“ verpönten expressionistischen und halbabstrakten Traditionen. Mit der Symbolkraft archaischer, mythischer und christlicher Ikonografie suchten sie nach einer bildlichen Wiederbelebung humanistischer Werte, die sie jedoch fern der Realität in einer zeitentrückten Starre ansiedelten. 1950 wird Theodor W. Adorno diese Kunst, die das Vakuum ausfüllte, als „epigonenhaft und hilflos“ resümieren: „Es ist ein gespenstischer Traditionalismus ohne bindende Tradition.“[1] Erfahrung von Terror und Holocaust blieben in den >Hekate<-Bildern von E.W. Nay und den >Urformen< von Willi Baumeister ebenso ausgeblendet wie in den Ausstellungen, die in den beiden ersten Nachkriegsjahren unter der Aufsicht der Besatzungsmächte stattfanden und zunächst der Rehabilitierung als „entartet“ verfemter Künstler dienen sollten, schon bald aber zur Bühne politisch-ideologischer Einflussnahme avancieren werden.

Deutsche Kunst als Szenarium im ideologischen Ost-West-Konflikt

Ausstellungen neuer deutscher Kunst in den drei Westzonen förderten ab 1947/48 fast ausschließlich abstrakte Exponate. Diese orientierten sich zunehmend an den Vorbildern des internationalen Modernismus und wurden von den Westmächten, vor allem von den Amerikanern, im Kontext der Reeducation-Programme als neue Weltsprache der Freiheit inszeniert, weil sie sich sowohl von der NS-Kunstdoktrin als auch von dem in der SBZ propagierten Sozialistischen Realismus grundlegend unterschieden. Dieses hegemoniale Stildiktat der Abstraktion verursachte einen Anpassungszwang, dem sich nicht selten auch jene Künstler unterzogen, für die ein Festhalten an gegenständlicher Malweise substanziell fruchtbarer gewesen wäre.[2] In der SBZ erhielt die bildende Kunst von der sowjetrussischen Kulturadministration die Aufgabe zugewiesen, im Dienst der Politik Sozialismus und Antifaschismus zu repräsentieren. Aus der Emigration nach Kriegsende  zurückgekommene Künstler der vom NS-System verfolgten Linken, die in der bedingungslosen Kapitulation die Befreiung vom Terror erkannten, wurden von diesen Grundsätzen angezogen, so dass sie sich für ein Leben und Wirken in der SBZ entschieden. Auch Hans Grundig, der in den 1920er Jahren der „Assoziation revolutionärer Künstler“ (ASSO) angehört hatte, war nach fünfjähriger Haft im Konzentrationslager Sachsenhausen, Fronteinsatz, Übertritt zur Roten Armee und einjährigem Moskau-Aufenthalt 1946 nach Dresden zurückgekehrt und widmete noch im selben Jahr den im KZ hingerichteten Widerstandskämpfern, die seine Mithäftlinge gewesen waren, mit dem Gemälde >Den Opfern des Faschismus< eine von expressivem Pathos durchpulste Totenehrung. Das vom Künstler in zwei Fassungen gemalte Bild ist in der frühen deutschen Nachkriegsphase das einzige Kunstwerk, das – unter dem Vorzeichen des Antifaschismus – der politischen Opfer des nationalsozialistischen Terrors gedenkt und das Grauen der jüngsten Vergangenheit ins Gedächtnis ruft. Schon unmittelbar nach Fertigstellung seiner Hommage für die Opfer des Faschismus muss Grundig jedoch zur Kenntnis nehmen, dass die deutsche Bevölkerung in Ost und West ein Schuldempfinden verdrängt und sich in Selbstmitleid über die Zerstörungen einer Trauerarbeit angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen entzieht. Am 23. Dezember 1946 schreibt er seiner jüdischen Frau Lea, die 1939 nach Palästina flüchten konnte und dort auf ihre Rückkehrmöglichkeit nach Dresden wartet: „Gleichgültig ist den allermeisten KZ und das, was man an Grauen darüber berichtet, es erscheint ihnen als übertrieben und Propaganda. Seine eigenen Nächte im Keller […] sind Realität.“[3] In der zweiten Bildfassung von 1947 bezieht Grundig dezidiert auch den Holocaust in sein Gedenken mit ein, indem er „über den roten Winkel der politischen Häftlinge, den auch die erste Fassung zeigt[…] einen selben Winkel zum Davidstern“ legt.[4]  Damit verweigert sich Grundig der in der SBZ offiziell von der bildenden Kunst eingeforderten Gedächtnispraxis. „Die antifaschistische Staatspropaganda verurteilte zwar die Judenverfolgung, gedachte aber nur jener Opfer der Hitlerjahre, die auf kommunistischer Seite gestanden hatten; denn es ging nicht um Trauer und Schuldbewusstsein, sondern um gegenwärtige Politik.“[5] Auf der Tagesordnung künstlerischen Schaffens in der DDR steht nun die Darstellung des glücklichen Menschen, der den sozialistischen Aufbau voranbringt. Fragen nach Schuld und Gedenken der Opfer gelten ab 1948 als rückwärtsgewandt und geschichtspessimistisch.

Unangepasste Einzelgänger

Die vier Jahre zwischen dem Kriegsende und der Gründung der beiden deutschen Staaten  sind geprägt von den massiv eskalierenden Interessenkonflikten zwischen den Westmächten und der Sowjetunion. Deutschland war schon seit der Berlin-Blockade 1948/49 zum Austragungsort des Kalten Krieges geworden, wo die Ideologien von Kapitalismus und Kommunismus und die antagonistischen politischen Systeme aufeinanderprallten und beide Seiten Kunst und Kultur für ihre Interessen instrumentalisierten.

Abstrakte Kunst stieß in konservativen Kreisen der westdeutschen Elite zunächst noch auf Ressentiments. Ihre Akzeptanz als förderungswürdige Sprachform gelang jedoch zunehmend mit einer komplexen Argumentation, an deren Vermittlung Akteure der Westmächte mit deutschen Kritikern und Verbänden aus Politik und Wirtschaft kooperierten. So beanspruchte die ungegenständliche Kunst für sich eine genuine Wechselwirkung mit Freiheit und Demokratie, während man die in der DDR staatlich eingeforderte sozialistische Kunst mit Kommunismus und Kollektivismus gleichsetzte. Darüber hinaus förderte der westdeutsche Anschluss an den internationalen Modernismus die wirtschaftlich erwünschte Westintegration und die Versöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern.

Zu den wenigen Künstlern, die sich dieser Konfrontation zwischen deutscher Ost- und Westkunst enthielten, gehörte der auf der Schwäbischen Alb lebende HAP Grieshaber. Den Ost-West-Konflikt empfand er als Bedrohung für den Erhalt einer gemeinsamen deutschen Kultur und pflegte daher den Brückenbau  zwischen den ideologischen Lagern. In diesem Sinne verstand er seinen monumentalen Holzschnitt in acht Farben >Deutschland< von 1952 als Aufruf zu Solidarität und grenzübergreifender Verständigung. Der Holzschnitt greift das Motiv von einer alten Spendenpostkarte der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger auf und transformiert das Rettungsboot in einen von Pferden gezogenen Wagen, der Menschen in Not in Sicherheit bringt. Die Figuration dieses Menschenzuges wird zur Metapher für die Situation, in der sich ganz Deutschland in dieser Zeit angesichts der vielen heimatlos gewordenen Vertriebenen und Flüchtlinge befunden hat.[6]

In der Bundesrepublik der 1950er Jahre konnten sich Künstler, wenn sie bereit waren, ihre Abseitsstellung in Kauf zu nehmen, dem ökonomischen Zwang zur ungegenständlichen Formensprache entziehen. In der DDR war das Abweichen vom kunstideologischen Diktat für unangepasste Individualisten mit dem Risiko verbunden, als staatsgefährdend eingestuft zu werden. Zu den wenigen Künstlern, die sich dieser gefährlichen Ausgrenzung aussetzten, gehörte Carlfriedrich Claus. Er entstammte einer Familie, in der auch während des Dritten Reiches Kontakte mit jüdischen Freunden gepflegt wurden. Als Künstler sah sich Carlfriedrich Claus in der Tradition einer experimentellen Vorkriegsmoderne und kultivierte in skripturalen Miniaturen ein eigenständiges gesellschaftsvisionäres Denken im Rekurs auf die Schriften Ernst Blochs. Auf der Zeichnung >Erinnertes Gedicht eines jüdischen Mädchens< von 1959 lösen sich geschriebene Worte in ein kalligrafisches Bild auf, das sich dem subkutan Lesenden als chiffrierter Verweis auf das verweigerte Bekenntnis zur gesamtdeutschen Schuld am Holocaust entschlüsselt. Die DDR zählte sich – „der Zukunft zugewandt“ –  bereits in den 1950er Jahren zu den „Siegern der Geschichte“ und schrieb die historische Verantwortung für den Nationalsozialismus allein der Bundesrepublik zu.

Seit März 1956 öffnet sich in der DDR nach der Abrechnung Chruschtschows mit dem Personenkult und den Verbrechen Stalins in einer Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU in der so genannten „Tauwetterperiode“ (benannt nach einem Roman Ilja Ehrenburgs) für nur wenige Monate ein schmales Tor für kritische Blicke der Kunst auf den vom Stalinismus geprägten Sozialistischen Realismus und auf die ausgeblendete deutsche Kriegsschuld. Angeregt durch Picassos Antikriegsbilder  >Guernica< (1937) und >Massaker in Korea< (1951)< beschäftigt sich der Hallenser Maler Willi Sitte in mehreren Studien mit dem Lidice-Verbrechen. Den historischen Hintergrund bilden die Gräueltaten, die nach dem Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich, 1942 von der SS als Racheakt an den Einwohnern des tschechischen Ortes Lidice begangen worden waren. Sitte wählt den stilistischen und motivischen Bezug auf Picasso, um das Thema Lidice als kathartische Antikriegsbotschaft zu vermitteln. Den westdeutschen Modernismus lehnt der überzeugte Kommunist dagegen für sich als unakzeptable Stilform der kapitalistischen Bourgeoisie ab. Nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes im Herbst 1956 erringen die Hardliner in der Parteiführung der SED wieder die Oberhand. Unter deren Druck gibt Sitte 1963 die Auseinandersetzung mit Themen wie Lidice auf und bekennt sich ostentativ zur systemkonformen Mitgestaltung an der sozialistischen Gesellschaft.

Künstlerische Wahrnehmung des Mauerbaus

Am 13. August 1961 wird der Eiserne Vorhang Realität. Um die anhaltende Fluchtwelle in den Westen zu unterbinden, die seit 1960 neue Höhepunkte erreicht, vollzieht die DDR mit dem Bau einer befestigten Grenze quer durch Berlin die Schließung der letzten offenen Verbindung zwischen Ost- und Westdeutschland. Gegenüber ihrer eingesperrten Bevölkerung versucht die SED, die Mauer als „antifaschistischen Schutzwall“ zu rechtfertigen. In ihrer offiziellen Auftragskunst sind die Grenzanlagen nie zu sehen, denn diese waren mit einem generellen Darstellungsverbot belegt. Die verordnete Bildikonografie beschränkte sich auf den als friedenstiftend apostrophierten Dienst der Grenzsoldaten. Dennoch wagten es einige kritisch eingestellte Künstler in der DDR – unter ihnen Roger Loewig – den bedrohlichen und inhumanen Charakter der Grenzanlagen darzustellen. So brandmarkte Loewig in einer Serie von Tuschezeichnungen mit apokalyptischen Motiven die Grausamkeit der Überwachung und des Schießbefehls und nahm dafür Verhaftung und Verurteilung in Kauf.

Im Westen lebende Künstler näherten sich dem Mauerthema vorwiegend über die Vergegenwärtigung der geteilten Stadt und des leeren Niemandslandes, das Berlin aus der Vogelperspektive gesehen, weithin sichtbar durchschnitt. Auf den Freiheitsentzug durch die Mauer konnten zumeist nur Künstler wie beispielsweise Georg Baselitz Bezug nehmen, weil sie vor der Grenzschließung aus der DDR emigriert waren. Das Selbstbildnis von Baselitz als die Mauer sprengender >Hirte< von 1965 besitzt einen komplexen Symbolhorizont, porträtiert sich doch der Maler hier sowohl als Grenzgänger wie als Außenseiter. Fremd und unbehaust gelassen inmitten der polarisierten Gesellschaftssysteme des Kalten Krieges, sieht er eine Zukunft für sich ausschließlich im Prozess des Sich-selbst-Definierens als autonomer Künstler jenseits von Ideologien und Stilverbindlichkeiten.

Der Mauerbau und der Verlust enger Freunde machen A.R. Penck ebenfalls zum Einzelgänger, der dennoch mit großem Selbstbewusstsein den „Versuch einer sozialistischen Eigenmoderne“ wagt.[7] Ein frühes Bild seiner berühmten Piktografien >Der Sturz< von 1960 thematisiert die kurz zuvor vollzogene Abrechnung des Sozialismus mit der Stalin-Ära, das Monument des Diktators wird vom Sockel gestoßen. Wenig später entstehen die Weltbilder, auf denen Penck den Kalten Krieg zwischen Ost und West als ein System von politischen und sozialen Haltungsbezügen visualisiert. Auf dem >Weltbild 1< von 1961 stehen sich die feindlichen Brüder auf dem vom Krieg noch immer rot glühenden Boden Deutschlands gegenüber und bedrohen sich mit Waffen und Propagandagefechten.

Die schwierige Entstehung einer Erinnerungskultur

In der ersten Hälfte der 1960er Jahre wird in der ost- und westdeutschen Kunst ein grundlegender Wandel sichtbar. Der vom Kalten Krieg angefachte Gegensatz zwischen Abstraktion und Realismus relativiert sich mit einer Neubewertung der historischen Avantgarde und der intellektuellen Linken aus der Weimarer Zeit. Bezeichnenderweise wird die undogmatische Aufnahme von gegenständlichen Sprachformen in der Bundesrepublik vorrangig von Malern wie Georg Baselitz, Eugen Schönebeck oder Gerhard Richter betrieben, die mit dem Realismus-Diktat in der DDR aufgewachsen waren und sich nach ihrer Übersiedlung in den Westen dem Mainstream eines inzwischen verbrauchten Informel verweigerten.

Hatte die gesamtdeutsche Öffentlichkeit den Genozid an den Juden in den 1950er Jahren ignoriert, so ändert sich dies mit der enormen Medienpräsenz des Eichmann-Prozesses in Jerusalem 1961 und der darauf folgenden Auschwitz-Prozesse in Frankfurt am Main 1963 bis 1965. Dass sich aber dennoch die fast zwei Jahrzehnte verdrängte Schuld im kollektiven Gedächtnis der Deutschen nur zögerlich einbetten kann, problematisiert Wolf Vostell in seiner Collage >Wir waren so eine Art Museumsstück<. Der Titel ist dem in das BIld eingeklebten Bericht der FAZ vom 30. Juli 1964 zum Auschwitz-Prozess entnommen, in dem die Aussage eines ehemaligen polnischen Häftlings über die Grausamkeiten der KZ-Wachmannschaften referiert wird. Die Zeitungsseite, auf der die Bemerkung des Zeugen: „Wir waren so eine Art Museumsstück“ die Überschrift liefert, ist im Bild nur bruchstückhaft lesbar. Sie wird überblendet von spektakulären Fotos zum jüngsten Zeitgeschehen, dessen Spektrum vom Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953, über die Flucht eines Grenzsoldaten während des Mauerbaus 1961 und eine Demonstration zur „Spiegel“-Affäre, bis zur viermal wiederholten Erschießung des Kennedy-Mörders Oswald am 24. November

1963 reicht. Der bildnerische Prozess, der Fotodokumente zu einer spannungsgeladenen Szenerie heterogener Ereignisse zusammenfügt, macht deutlich, dass eine nur verbale Vergegenwärtigung des Auschwitz-Grauens ohne die Schockkraft der Bilder kaum wirkungsvoll in die Erinnerung einzudringen vermag. Erst die unterdrückten und vergessenen Bilder aus der NS-Zeit, die allmählich in der Kunst aufscheinen, enthüllen die Verführung und Verrohung der Täter, die Gleichgültigkeit und das Wegschauen der Mitläufer sowie die Leiden der Opfer.

Bilder aus Gerhard Richters verwischter Fotomalerei wie >Onkel Rudi< von 1965 haben erst einige Zeit nach ihrer Entstehung offenbart, dass ihre Vorlagen aus den Familienalben des Malers mehr enthalten als persönliche Erinnerung. So beteiligte sich Richter unter dem Eindruck der Auschwitz-Prozesse mit dem Gemälde >Onkel Rudi< an der Gedenkausstellung >Hommage à Lidice<, die René Block im Oktober 1967 mit Werken von 21 Künstlern in seiner Berliner Galerie veranstaltete. Der im Krieg gefallene Onkel Richters wurde im Familiengedächtnis als Kriegsheld verklärt – ein Image, das sich auf den ersten Blick auch in Richters Bild widerspiegelt. Doch durch die Assoziation mit Lidice bricht Richter diese Anmutung und setzt die Geschichte seiner Familie mit den Verbrechen des Dritten Reiches in Beziehung. Während die Kulturadministration der DDR es abgelehnt hatte, Sittes letzte Fassung des Lidice-Sujets, das heute verschollene Diptychon von 1959/60, als Geschenk 1962 an Lidice für ein geplantes Museum zu übereignen, gelangte Richters Gemälde mit den übrigen Exponaten der Block-Ausstellung als Schenkung in das geschundene Bergarbeiterdorf.

Lange Zeit wenig bekannt blieb das Rasterbild >Puppe<, das Sigmar Polke 1965 malte und zusammen mit seiner Ikone zu Auschwitz >Lager< von 1982 unter seine wichtigsten Bilder eingereiht hat. Da Puppen die unentbehrlichen Begleiter von Kindern sind, lässt die verlassenen Puppe das Schicksal des Kindes erahnen, dem sie gehörte. In der sublimierten Form dieser Darstellung macht das Bild sichtbar, „dass es etwa gibt, das man denken, nicht aber sehen oder sichtbar machen kann.“[8] Geht von diesem Bild Polkes eine  hintergründige Katharsis aus, so enthüllt Thomas Bayrle 1966 mit beißendem Humor die bis in die damalige Gegenwart virulente Mentalität des faschistischen Mitläufertums in seinen von Elektromotoren bewegten Pop Art-nahen Installationen >Nürnberger Orgie< und >Ajax<.  Während die erste Maschine mit der Penetranz ihrer mechanisch perpetuierten Armbewegung die tausendfachen Huldigungsrituale des Hitlergrußes auf den Nürnberger Reichsparteitagen karikiert, bezieht sich der Reinigungswahn  der Maschine >Ajax< auf die politische Realität der Nachkriegsjahre, in der  „die ethnische Säuberung im Dritten Reich […] durch den Putzwahn ersetzt“ wurde.  Man musste, wie Bayrle lapidar seine Maschinen kommentiert „einfach einen Schalter“ umlegen. [9]

In der DDR distanzieren sich die Künstler der so genannten Leipziger Schule um die Mitte der 1960er Jahre von der klischeehaften Genremalerei des doktrinären Sozialistischen Realismus sowie von den Verwertungsinteressen des Staates an ihrer Kunst und konzentrieren sich trotz kulturpolitischer Kritik statt dessen auf Bildprogramme, die sie sich selbst auferlegen.

Von dem mörderischen Kriegsgeschehen geprägt, das er als junger Soldat bei der Verteidigung des zur Festung erklärten Breslaus erlebt hatte, unterstützt Bernhard Heisig in seiner Grundhaltung die Ausrichtung der Kunst am Sozialismus als Utopie, verweigert aber einen Optimismus, der Gewalt und Leiden und damit ein realistisches Geschichtsbewusstsein tabuisiert. Seine seit Kriegsende verdrängten Schreckens- und Schuldtraumata schlagen sich nun in sinnbildlichen Erinnerungsszenarien nieder, für deren Darstellung sich der Maler die expressive Farbdynamik von Dix, Corinth und Kokoschka aneignet.[10]

Für Werner Tübke werden die Frankfurter Auschwitz-Prozesse zum Anlass, sich zwischen 1964 und 1967 intensiv in dem Werkzyklus >Lebenserinnerungen des Dr. jur. Schulze< mit der Vernichtung der Juden und der in beiden deutschen Staaten weitgehend ungesühnten Nazi-Justiz auseinanderzusetzen. Bestimmend ist auf der Gemäldefassung III der Nazirichter mit dem Allerweltsnamen Schulze, der als monumentale Gliederpuppe inmitten einer in Schreckenskammern und idyllische Gefilde aufgespalteten Bühne thront und teilnahmslos auf das Inferno bestialischer Folterszenen hinabblickt.

Angriffe der Kulturpolitik auf die Konfliktbilder der Leipziger Schule folgen umgehend und stehen im engen Zusammenhang mit dem Vorwurf von Westeinflüssen, den das Zentralkomitee der SED auf seinem berüchtigten „Kahlschlag-Plenum“ im Dezember 1965 gegen Film, Literatur, Kunst und Unterhaltungsmusik erhebt. Doch trotz aller Polemik erzielen die innovativen Akzente aus der Leipziger Schule nachhaltige Wirkung in der ostdeutschen Kunstlandschaft und sind Vorboten der Desillusion und des Utopieverlustes, der in den 1970er Jahren unaufhaltsam in der DDR um sich greifen wird.

Zerrissene Heimat

Das Reiseverbot in den Westen, das Gefühl nach dem Mauerbau eingesperrt zu sein und die schmerzliche Trennung von jenseits der Grenze lebenden Familienmitgliedern und Freunden verursachen innerhalb der DDR-Bevölkerung intensivere Reaktionen auf die Teilung Deutschlands als bei den bundesrepublikanischen Bürgern.[11] So verwundert auch nicht die heftige Polemik der Parteiorgane auf Hartwig Ebersbachs verzweifelte Selbstdarstellung von 1966 als >Brennender Mann< – ein Bild, auf dem der Maler in dramatischer Expressivität seine persönliche Krise als Leiden an der Trennung von seiner in den Westen emigrierten Schwester offenbart. Die Leipziger Volkszeitung vom 25. Dezember 1966 kritisiert in scharfen Worten den „extremen Individualismus“ des Malers, der „im Bewußtsein des Betrachters das sozialistische Leben“ emotional diskreditiere.

Mit dem alttestamentarischen Brudermord findet Wolfgang Mattheuer in seinem Gemälde >Kain< (1965) eine sprechende Allegorie für die geteilte Nation, ohne dass er Gewalt und Erleiden nach dem Muster eines plakativen Freund-Feind-Schemas deutet. Zwei Jahrzehnte später verdichtet die Ikonografie seiner Bronzeskulptur >Jahrhundertschritt< die zerrissene Mentalitätsgeschichte der Deutschen seit den Unruhen der Weimarer Republik in der Dingsymbolik des zur Hitlerhuldigung erhobenen rechten Arms und der zum Kampfesgruß geballten Faust. Als sprechende Gesten wecken sie Assoziationen an Nationalsozialismus und Kommunismus als Verursacher der geteilten Nation.

In den 1970er Jahren hat sich die in der frühen Bundesrepublik stets betonte Zielsetzung der Politik, Deutschland wieder zu einen, verflüchtigt. Statt dessen etabliert sich mit der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages im Dezember 1972 ein Pragmatismus, der sich vorerst mit der Koexistenz zweier deutscher Staaten abfindet.

Aufarbeitung des Faschismus durch den Tabubruch

Joseph Beuys hatte 1958 als erster Künstler das seit Kriegsende tabuisierte Thema Auschwitz aus der Verdrängung herausgeholt, als er sich an dem international ausgeschriebenen Wettbewerb für ein Denkmal im ehemaligen Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau beteiligte. Teile dieser Arbeit werden erst ein Jahrzehnt später in der westdeutschen Rezeption wahrgenommen, als Beuys 1968 im Kontext seines Werkarrangements für das Hessische Landesmuseum Darmstadt in der Vitrine >Auschwitz-Demonstration< Entwurfzeichnungen aus dem Auschwitz-Projekt gemeinsam mit Fotografien, Objekten und Aktionsrelikten aus dem Zeitraum 1956 bis 1964 versammelt, die nicht alle in direktem Zusammenhang mit dem Todeslager stehen. In einem Gespräch betont Beuys einige Jahre später, dass diese Arbeiten nicht entstanden sind, „um die Ereignisse eines Lagers darzustellen, sondern das Wesen und die Bedeutung einer Katastrophe.“[12]

Mit dem Aufkommen der politischen Protestbewegung seit Mitte der 1960er Jahre verfolgt eine jüngere Generation von Künstlern, die den Faschismus nicht wie Joseph Beuys selbst erlebt hat, andere Intentionen bei ihrer Rückschau auf die deutsche Diktaturgeschichte. Um den Wahnsinn der nationalsozialistischen Massenverführung verstehen zu können, muss sie deren lange Zeit ins Vergessen abgedrängte Bildsprache „ein Stück weit“[13] mit ihrem Pathos nachvollziehen und zugleich durch Verfremdung dekonstruieren. In diesem Sinne stellt Georg Baselitz mit dem Adler-Motiv 1972 ein traditionsreiches Emblem des deutschen Nationalgefühls auf den Kopf und diskreditiert es dadurch als Zeichen imperialer Machtansprüche.

Markus Lüpertz bringt 1974 den in der Frankfurter Paulskirche 1848 beschlossenen Farbakkord der Nationalfahne auf den Bildern >Schwarz, Rot, Gold dithyrambisch I,II, III< mit Kriegsinsignien wie Stahlhelm, Harnisch und Geschützlafette in Verbindung, die er scheinbar zu einer Kriegstrophäe auftürmt. Doch bei genauer Sichtung entlarvt sich das Gebilde als Ansammlung ruinierter Ausrüstungsrelikte, die seriell wiederholt eine falsche Geschichte entlarven.

Anselm Kiefers Wiederaneignungen deutscher Themen vollziehen sich auf der Grenze, „auf der Geschichte in Legende umschlägt“[14], das heißt wo sich die nationalsozialistische Propaganda die Vergangenheit für Hitlers Herrschaftsansprüche und Aggressionen zurechtlegte. Für diesen Aneignungsprozess konstruiert sich Kiefer mit Dachboden-, Wald- und Feldkulissen eine Bühne, auf der er Geistesgrößen, Schlachten und Mythen der deutschen Nationalgeschichte mit dem Pathos ihrer nationalsozialistischen Vereinnahmung in Szene setzt, um die faschistische Versuchung und Wirkkraft zu beschwören und gleichzeitig mit grotesken Brechungen zu unterlaufen. So oszillieren die Imaginationen von >Deutschlands Geisteshelden< auf den Holzbohlen eines Dachstuhls zwischen pathetischer Walhalla und parodistischem Theaterdonner.

Bilder mit politischer Diktion

Seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zeigt sich bei linksorientierten westdeutschen Künstlern eine neue Sichtweise auf die politische Situation unter den Vorzeichen des Kalten Krieges. So malt Thomas Bayrle 1966 ein popiges Mao-Porträt, umrahmt von vielen kleinen Maoisten, das den Personenkult mit hintergründigem Humor persifliert. Zugleich diagnostiziert der Maler mit Blick auf die chinesischen Rituale von Massenversammlungen Verwandtschaften zwischen kapitalistischen und kommunistischen Darbietungsmustern. Anders als der Kalte Krieg glauben macht, liegen für Bayrle der Westen und Maos China im Hinblick auf ihre Propagandastrategien nicht sehr weit auseinander. Denn hier wie dort ist das „Marketing“ ein wesentlicher Bestandteil der Massensuggestion. Diese Parallelität demonstriert Bayrle mit sinnlicher Offenkundigkeit, indem er das Symbol des bundesrepublikanischen Wirtschaftswunders, den VW-Käfer, in gleicher Weise wie ein Stalin- oder Mao-Porträt als sogenannte „Superform“ aus vielen identischen Bildeinheiten zusammensetzt.

Geprägt von linken Gruppenaktivitäten und von den Ideen seines Lehrers Beuys, wonach Kunst direkt mit dem Leben verbunden sein müsse, versteht Jörg Immendorff seine Malerei als emanzipatorischen Impuls, in dem sich sein gesellschaftspolitisches Engagement mit seinem künstlerischen Selbstverständnis synthetisiert. In seinem ab 1977 entstandenen Bilder-Zyklus >Café Deutschland< richtet sich sein eigensinniger >Malermut< auf die Überwindung der deutschen Teilung. Er tut dies zu einem Zeitpunkt, als in der Bundesrepublik die Veränderungseuphorie der 68er-Rebellen verdampft ist und statt dessen extremistische Gewalt eskaliert. In Stammheim münden die Prozesse gegen die Mitglieder der RAF 1977 im kollektiven Selbstmord der Angeklagten. Im Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR ersetzt der Pragmatismus der Entspannungspolitik die Illusionen und rückt die deutsche Wiedervereinigung in den Bereich des kaum mehr Vorstellbaren. Mit den >Café Deutschland<-Bildern konstruiert Immendorff einen fiktiven Handlungsraum, indem er die Utopie vom Mauerdurchbruch als Akt der Freundschaft mit dem in der DDR lebenden Kollegen Penck, aber auch als politisches Szenarium abarbeitet. In einem Nebeneinander diverser Aktionssequenzen im Ambiente einer Disco erzählt er seine traumgesichtige Vision, bettet sie aber zugleich in eine kritische Wahrnehmung der Realität ein. Während sich die Freunde durch die durchbrochene Mauer die Hand reichen, schreiben Helmut Schmidt und Erich Honecker im Hintergrund auf der Deutschlandfahne den Status quo fest. Staatsembleme wie das Brandenburger Tor, der Adler, Hammer und Sichel treten zusammen mit Persönlichkeiten aus Literatur, Kunst und Politik ironisch wie pathetisch in Interaktion und stehen einerseits für den imaginären Bau der Vereinigung von Ost und West, andererseits aber auch für Enttäuschungen.

Die Terrorakte der RAF, die 1977 in der Entführung der Lufthansamaschine Landshut sowie der Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer gipfeln und außerordentliche Gegenmaßnahmen des Staates u. a. im Spezialkommando der GSG 9 provozieren, werden in der Öffentlichkeit durch eine umfassende Medienberichterstattung unmittelbar vor Augen geführt und meinungsbildend kommentiert.

Auf diese Situation reagiert die Kunst mit einer politisch aufgeladenen Bildsprache, die sich kritisch mit der Legitimation staatlicher Gewalt und der Rolle der Massenmedien auseinandersetzt. Katharina Sieverding benutzt für ihre Fotoarbeit >Schlachtfeld Deutschland XI/78< ein Pressefoto aus dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel, auf dem fünf Männer der GSG 9 in Kampfanzügen zu sehen sind. Indem die Künstlerin das Raster des Medienbildes fototechnisch auf kontrastierende Schwarzweißwerte reduziert, mit einer aggressiven pinkroten Farbe hinterlegt und das Motiv leicht versetzt dupliziert, erzeugt sie eine bedrohliche Anmutung ihres Sujets. Über den Ausdruck von staatlicher Stärke und nationaler Selbstbehauptung, den das Pressebild auszustrahlen intendierte, legt die Künstlerin den Schleier eskalierender Gewalt in einer bleiernen Zeit. [15]

Erst ein Jahrzehnt nach den Geschehnissen des „Deutschen Herbstes“ wird Gerhard Richter in den 1988 gemalten Episodenbildern seines Zyklus >18. Oktober 1977< mit melancholischer Empathie auf den selbstzerstörerischen Versuch der Baader-Meinhof-Gruppe, die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik zu revolutionieren, zurückblicken. In einem Kommentar beschreibt Gerhard Richter 1989 die Motivation zu seinem malerischen Akt einer persönlichen Trauerarbeit: „Der Tod der Terroristen und alle damit in Zusammenhang stehenden Geschehnisse davor und danach bezeichnen eine Ungeheuerlichkeit, die mich betraf und die mich, auch wenn ich sie verdrängte, seitdem beschäftigte, wie etwas, das sich nicht erledigt hatte. […] Die Bilder [..] sind in erster Linie zu emotional und sind, wenn möglich, ein Ausdruck einer sprachlichen Ergriffenheit, sie sind der nahezu hilflose Versuch, Gefühlen von Mitleid, Trauer und Entsetzen eine Form zu geben.“[16]

Subjektive Ironie statt Utopismus

In den 1980er Jahren demontiert eine neue Generation von Hochschulabsolventen, denen der Kunstmarkt rasch das Etikett >junge Wilde< verleiht, die Historienmalerei, wie sie von Anselm Kiefer 1980 auf der Biennale Venedig mit den monumentalen Bildern >Wege der Weltweisheit – Die Hermannsschlacht< und >Deutschlands Geisteshelden< vorgeführt wurde. Wo Kiefer seine Gemälde mit Mythen und Emblemen aus der deutschen Nationalgeschichte auflädt, persiflieren Walter Dahn und Jiri Dokoupil solche Symbolik im parodistischen Rückgriff auf die sich wiederholenden Bildinhalte Kiefers.

So lenkt auf dem rotzig gemalten Bild >Deutscher Wald< (1981) eine übermütige Comic-Figur ein aus vielen Hakenkreuzen zusammengebautes Gefährt unbekümmert durch ein Waldgelände. In dem Maße, wie sich der Holocaust mit dem Sterben der Täter und der Opfer als museal gewordenes Geschehen von der Gegenwart entfernt und die Erinnerungsrituale anschwellen, reagieren die >jungen Wilden< mit einer gehörigen Portion an Ironie und Karikatur auf die Widersprüche von Schein und Anspruch in der uferlos gewordenen Gedächtniskultur, zumal inzwischen auch rechtsradikale Jugendliche ausgiebig das Zeichenrepertoire des Nationalsozialismus für ihre Propaganda okkupieren.

Vorreiter der jungen Wilden ist Martin Kippenberger, der seine Anregungen aus der Werbung, den Medien und dem Journalismus herholt und seinen Bildwitz gern mit alltäglichen Phrasen und leicht abgewandelten Schlagzeilen würzt. Mit subversiver Ironie reagiert Kippenberger in seinem Bild von 1984 >Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz erkennen< auf die Vielzahl von Gedenkritualen, die dem Nationalsozialismus und dem Holocaust in Fernsehen und Filmen der 1980er Jahre zuteil werden. Indem er den Betrachter mit der Titelformulierung seines Bildes dazu auffordert, im lapidaren Balkengeflecht des Motivs nach dem verborgenen Hakenkreuz Ausschau zu halten, parodiert er die aufkommende Manie, überall einen faschistischen Bodensatz aufzuspüren.      Hochburg und besonderes Biotop der jungen Wilden ist Westberlin, wo aus farberuptiver Malerei und Punk-New Wave ein ungezügelter Aufbruch von subkultureller Energie und extrem subjektivistischem Lebensgefühl hervorgeht. Wer wie Rainer Fetting die Mauer mehrfach in seinen Bildern zitiert, malt sie nicht als politisches Fanal, sondern als absurdes Sinnbild Berlins, das jeder Besucher dieser Stadt sehen will. Über die Mauer hinweg werden Punkmusik und neoexpressionistisches Malen verbindende Elemente einer dem jeweiligen Establishment entfliehenden jungen Künstlergeneration

Als die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der DDR in ihrer Ostberliner Residenz 1982 eine Ausstellung mit Werken der jungen Wilden veranstaltet, findet ihre Vernissage trotz der Mahnung der DDR-Kulturadministration an die ostdeutschen Künstler, der Einladung fernzubleiben, große Resonanz.

Am Prenzlauer Berg malt Klaus Killisch wie sein Westberliner Kollege Fetting im benachbarten Kreuzberg eine Reihe von Mauerbildern, ohne dass sie direkt politisch konnotiert sind. Für ihn, der Berlin nicht anders als geteilt kennengelernt hat, ist der „antifaschistische Schutzwall“ Teil seiner alltäglichen Stadterfahrung, und so integriert er die Mauer kulissenartig in seine Bilder, in deren Zentrum ein Einzelgänger, ein Aussteiger aus dem Kollektiv steht. Mit scharfer Kontur gezeichnet, verknäueln sich in dieser mit filmischen Attitüden ausgestatteten Figur Lebenslust und Bedrohung, Auflehnung und Zynismus.

Ein anderer Blick auf die Geschichte

In der DDR verweigerten die Hardliner in der SED trotz zunehmender Austauschprogramme mit dem Westen die Anerkennung der gemeinsamen Kulturtradition beider deutscher Staaten – eine Haltung, die in der Bevölkerung, vor allem aber im intellektuellen Milieu, Ressentiments gegenüber der verblendeten Kulturpolitik provozierten. Zudem hatte bereits Ende 1976 die Biermann-Zwangsausbürgerung eine tiefe Kluft zwischen der SED-Politik und vielen Kulturschaffenden aufgerissen. Desillusioniert von dem Willkürakt gegenüber einem unbequemen, aber der Utopie des Sozialismus verbundenen Liedermacher kündigten vor allem junge Literaten, Künstler, Musiker und Theaterleute dem Staat ihre Gefolgschaft, stellten Ausreiseanträge oder zogen sich wie Klaus Killisch in die Enklave ihrer subkulturellen Boheme zurück.

Auch der in Dresden lebende Maler Hubertus Giebe blickt in den 1980er Jahren mit tiefer Enttäuschung auf den verkrusteten DDR-Sozialismus und die vom SED-Staat noch immer verweigerte Aufarbeitung der Vergangenheit. Er bekämpft jedoch die eigene Frustration mit einem nie versiegenden aufklärerischen Impetus, der gezielt auf die Geschichte der deutschen Linken ausgerichtet ist. Ab 1984 bildet der Roman von Peter Weiss >Die Ästhetik des Widerstands< den Leitfaden für sein bildnerisches Durchleuchten der in der DDR tabuisierten Geschichte des Widerstands und der Liquidierung von Sozialdemokraten und Kommunisten unter dem stalinistischen Terrorregime. Diese Spurensuche wird 1986 durch den Tod des Vaters intensiviert, der trotz seiner Hitlergegnerschaft und Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie in ein sowjetrussisches Lager verschleppt worden war und erst 1950 halb verhungert zu seiner Familie zurückkehren konnte.[17] Als Requiem für den Vater und viele noch nicht rehabilitierte GULAG-Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft ist Giebes Bild >Das Lager< von 1988 zu verstehen. Im Betrachter weckt das Gemälde unwillkürlich die Assoziation an ein sehr ähnliches Bild von Sigmar Polke aus dem Jahr 1982, das in fast dokumentarischer Strenge die Überwachungsanlagen von Auschwitz reproduziert. „Die Malerei in > Lager< ist gar keine Malerei“, kommentiert Polke sein Bild. „Ich habe die narrative Form und das Objektive eines Fotos benutzt als reproduzierte Tragik.“[18] Beide, Polke und Giebe,  bekunden in ihren Bildern, dass sie die Leidensgeschichte der Terroropfer nur aus Erzählungen kennen. Sie verzichten daher auf jede allegorische Paraphrasierung oder Situationsdarstellung und beschränken sich statt dessen auf die Reproduktion der Todesstätten, hinterlegen aber diese Orte in der malerischen Überarbeitung der Dokumentationsfotos mit ihren eigenen Gefühlen der Trauer.

1989 hat der westdeutsche Maler Heribert C. Ottersbach mit seinem Gemälde >Geschichte (ist was verschwindet)< dem Verdrängungsprozess gegenüber der nationalsozialistischen Vergangenheit, der in beiden deutschen Nachkriegsstaaten mit unterschiedlichen ideologischen Vorzeichen aber gleicher Zielsetzung betrieben worden war, ein allegorisches Bild gegeben: Ein alles verschlingender Sog hinterlässt nichts als ein riesiges Vakuum. Nach dem Mauerfall am 9. November 1989 beginnt Ottersbach schon bald damit, in Archiven abgelegte Fotos aus der Geschichte des geteilten Deutschlands zu sammeln und sie zusammen mit den Fotobeständen aus der Nazizeit einem „vergleichenden Sehen“ ohne Rücksichtnahme auf chronologische Abläufe zu unterziehen. Diese Seherfahrung aus der Sprache der Bildfragmente offenbart dem Maler erstaunliche Kontinuitäten und Parallelitäten in den Ritualen und Verhaltensmustern von ideologisch völlig unterschiedlichen Jugendbewegungen, die er 1994/95 auf der aus 44 Tafeln kombinierten Arbeit >o. T. (Jugend)< ablesbar gemacht hat. Die Bildzitate dieser Arbeit enthüllen nicht nur Ähnlichkeiten im Kollektivverhalten von Hitlerjugend und Freier Deutscher Jugend, sondern erweitern den Vergleich von den Wandervögeln am Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Hippiebewegung, der Studentenrevolte von 1968 und den Verhaltensweisen der RAF-Mitglieder, die Ottersbach in seiner eigenen Jugend aufmerksam wahrgenommen hat. Jugendbewegungen erweisen sich in diesem bildlichen Sehvergleich als Nährboden fanatisierter Strömungen in Politik und Weltanschauung. Ihr pathetisches Festhalten an einer Heilsversprechung war wirkmächtig bis zur Todesbereitschaft und kollabierte erst mit dem Scheitern ihres verpflichtenden Ideenpotenzials.[19] Erinnerung wird hier zum Einfallstor für einen anderen Blick auf die deutsche Mentalitätsgeschichte, der sich nach dem Mauerfall und dem Zusammenbruch des SED-Regimes dem wiedervereinigten Deutschland als Aufgabe stellt.

 


Anmerkungen

[1]  Theodor W. Adorno, in: Frankfurter Hefte, Jg. 5, Mai 1950, S. 471.

[2]   Siehe dazu das Kapitel >Wiederanschluss an die Moderne im geteilten Deutschland<, in: Karin Thomas, Blickpunkt Moderne. Eine Geschichte der Kunst von der Romantik bis heute, Köln 2010, S. 304ff.

[3] Brief von Hans Grundig an Lea Grundig vom 23. Dezember 1946, in: Hans Grundig, Künstlerbriefe aus den Jahren 1926 bis 1957, Rudolstadt 1966, S 118.

[4] Siehe dazu Eckhart Gillen, Feindliche Brüder? Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945-1990, Bonn 2009, S. 60.

[5] Wolfgang Hütt, Schattenlicht, Halle 1999, S. 315.

[6] Siehe dazu Wilhelm Boeck, HAP Grieshaber, Holzschnitte, Pfullingen 1959, S. 44.

[7] Paul Kaiser: Die Moderne als Feindbild und Leitidee, in: Stephanie Barron und Sabine Eckmann (Hrsg.), Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89, Köln 2009, S. 175.

[8] Siehe dazu Anne Erfle: Sigmar Polkes Deutschlandbilder, in: Ausst.-Kat. Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land, hrsg. von Eckhart Gillen, Martin-Gropius-Bau, Berlin 1997, S. 272.

[9]  Martina Weinhart im Gespräch mit Thomas Bayrle, Frankfurt am Main , 23. Juli 2014, in: Ausst.-Kat. German Pop, hrsg. von Martina Weinhart und Max Hollein, Schirn Kunsthalle, Frankfurt 2014, S. 151.

[10] Siehe dazu detailliert Karin Thomas, Kunst in Deutschland seit 1945, Köln 2002, S. 198ff.

[11]  Die Trennung der Menschen und die dadurch verursachten Sehnsüchte sind auch ein zentrales Thema der 1963 in ganz Deutschland Aufsehen erregenden Erzählung von Christa Wolf „Der geteilte Himmel“.

[12] Joseph Beuys, hrsg. v. Caroline Tisdall, Ausst.-Kat. Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1979, S. 21.

[13] In dieser Weise äußerte sich Anselm Kiefer 1980, als er auf der Biennale Venedig mit Georg Baselitz die Bundesrepublik vertrat und mit seinem Holzschnitt >Wege der Weltweisheit – Die Hermannschlacht< Irritationen auslöste.

[14] Walter Grasskamp, Die unästhetische Demokratie, München 1992, S. 125.

[15] Siehe dazu Svea Bräunert: Die RAF und das Phantom des Terrorismus in der Bundesrepublik, in: Kunst und Kalter Krieg (wie Anm. 7), S. 268f.

[16] Gerhard Richter: Notizen November 1988 (für die Pressekonferenz Februar 1989 – Museum Haus Esters, Krefeld), in: Gerhard Richter: Text. Schriften und Interviews, hrsg. von Ulrich Obrist, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 77.

[17] In einem Gespräch mit Eckhart Gillen vom 27. März 2002 hat Hubertus Giebe auf die familiäre Motivation für seine Fokussierung auf die offiziell in der DDR tabuisierte Geschichte des Widerstands gegen den stalinistischen Terror hingewiesen. Siehe dazu: Geschichte als Allegorie. Hubertus Giebe, in: Wahnzimmer, hrsg. von Eugen Blume, Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen und Hans-Werner Schmidt, Ausst.-Kat. Klopfzeichen, Leipzig 2002, S. 119.

[18] Bice Curiger im Gespräch mit Sigmar Polke. Ein Bild ist an sich schon eine Gemeinheit, in: Parkett, Nr. 26, Dezember 1990, S. 16f.

[19] Siehe dazu den Text von Karin Thomas in: Heribert C. Ottersbach. Bilder aus dem Proberaum. Arbeiten der frühen 80er, Ausst.-Kat. Beck & Eggeling, Düsseldorf 2013, S.37.

Quelle: KUNSTFORUM INTERNATIONAL Bd. 238 Oktober November 2015, S. 32-49.

(Aus urheberrechtlichen Gründen sind die in dem Beitrag enthaltenen Abbildungen  hier nicht einbezogen.)

 

 

 

 

 

2015 Hubertus Giebe: Malen gegen Widerstände

Karin Thomas

Hubertus Giebe: Malen gegen Widerstände

 

„das auffallendste an ihm waren neben dem unkonventionell kurz geschorenen Haar, die ganz hellen Augen, Augen eines Kindes und eines Fanatikers zugleich. Dazu das hastige, hemmungslose Sprechen – die Entladungen eines Menschen, der sehr einsam, sehr in sich selbst lebt, das eruptive Lachen und die Unmöglichkeit, von etwas anderem als Kunst zu sprechen.“[1]  Treffender als es diese wenigen Sätze aus der Feder von Eva Strittmatter vermögen, lässt sich das Psychogramm von Hubertus Giebe nicht umreißen. Als die Schriftstellerin diesen Text 1977 verfasst, ist der 1953 in Dohna geborene junge Mann gerade 24 Jahre alt und versteht sich nichtsdestotrotz schon selbstbewusst als „freischaffender Maler“. Während seiner Wehrdienstzeit vom November 1972 bis Mai 1974 hatte Giebe dem verehrten Literaten Erwin Stritttmatter einen Brief geschrieben, woraus sich nicht nur ein Briefwechsel, sondern auch eine enge Freundschaft entwickelte. Den Wohnsitz der Strittmatters in der märkischen Heide, den Schulzenhof,  erlebt Giebe fortan bei seinen Besuchen als „poetisch-magischen Ort“, von dem er wegweisende Impulse empfängt. Angezogen von den Schätzen der Strittmatterschen Bibliothek, liest er bis tief in die Nächte hinein. Rilke, Gottfried Benn, Carl Einstein, Louis Aragon, Bertolt Brecht und Pablo Neruda gehören schon bald zu seinen Favoriten. Die Lesungen des Hausherrn aus seinen noch unveröffentlichten Manuskripten genießt er als wahre „Sternstunden“ und bringt dabei unermüdlich mit raschen Strichen die markanten Gesichtszüge der Gäste zu Papier. Auf seinen stundenlangen Wanderungen fertigt er ganze Stapel von Zeichnungen und Aquarellen an, auf denen er seinen Dialog mit der Natur und den Wechsel der jahreszeitlichen Stimmungen skizziert. Drei Jahrzehnte später, 2005, wird sich Giebe in einem Eva Strittmatter gewidmeten Rückblick an die Erlebnisfülle seiner Aufenthalte auf dem Schulzenhof erinnern, die im krassen Gegensatz zu seinem von Entbehrungen und Zwängen geprägten Dresdner Studentenalltag standen: „Da draußen erwanderte ich mir die Motive, arbeitete dann versunken, oft stundenlang. Langsam stellte sich ein Ausdruck, ein Klang, ein Rhythmus der Landschaften ein. […] Stille und Schönheit des weiten und kargen Landes wurden vertraut und sprachen.“[2]

In Dresden lebt Giebe seit 1976 als freischaffender Maler und Grafiker „mit befristeter Arbeitserlaubnis“. Absolviert hat er inzwischen nicht nur ein Abendstudium schon als Sechzehnjähriger während seiner Schulzeit, sondern auch nach dem Wehrdienst vier Semester Studium der Malerei und Grafik an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste. Doch seine Lehrer Bammes, Bondzin, Eisel, Michaelis langweilten ihn mit ihren theoretischen Unterweisungen und der Engstirnigkeit ihres linientreuen Sozialistischen Realismus. Eine Ausnahme bildete nur der Zeichner Gerhard Kettner, von ihm wurde er darin bestärkt, seinen eigenen ausdrucksstarken zeichnerischen Duktus zu entwickeln. Was Giebe an der Akademieausbildung vermisst hat, den aktiven Bezug zum Leben, sucht er – ausgestattet mit Zeichenblock und Stift – auf den Straßen von Dresden-Neustadt. Sein bildnerisches Wissen und Können formt sich aus den musealen Begegnungen mit den Alten Meistern in den Dresdner  Kunstsammlungen, aus den Anregungen, die ihm Literatur Philosophie und kunstgeschichtliche Lektüre sowie die Herausforderungen der eigenen künstlerischen Praxis bieten.

Wie sein frühes >Selbstbildnis mit Mohnblumen< von 1974 bezeugt, sieht er sich selbst mit subkutanem Blick als einsamen Beobachter und orientiert sich dabei stilistisch am Verismus der zwanziger Jahre, vorrangig an Otto Dix. Mit der wachsenden Ausprägung seines künstlerischen Wollens verdrängt „das Problematische, Rebellische, Anarchistische, Brutale des Lebens“[3]  die in der Abendakademie praktizierte Nachbildung anatomischer Gefälligkeit. So verwandeln sich die Aktstudien am Ende der 1970er Jahre in marionettenhafte Puppen, mit denen der Maler dem Zustand von Entfremdung ein allegorisches Bild gibt. Auf ihren überlängten Stelzenbeinen wirken diese in Künstlichkeit erstarrten „Puppenkörper hygienisch-steril und wie Produkte der Wegwerfgesellschaft“.[4]

Da Giebe seine Vorstellungen von Malerei an der Dresdner Hochschule nicht verwirklichen kann, beantragt er im September 1976 seine Exmatrikulation mit der Begründung, dass er sich weiter autodidaktisch als Maler ausbilden möchte. Unumwunden bekennt er: „Man kann nicht Jahre in einer Akademie sein, und draußen rollen Menschen und Ereignisse vorüber […]“[5]

Zwei Monate später, am 26. November 1976, vermerkt er die Ausbürgerung Wolf Biermanns in seinem Tagebuch und reflektiert über sich selbst: „Nun bin ich wieder frei, nach Kraftanstrengungen, die fast das Leben kosteten.“ Vor dem drohenden Verbot weiterer künstlerischer Betätigung bewahrt ihn vor allem Gerhard Kettner, der einerseits sein Ausscheiden aus der Hochschule bedauert, aber auch mit Hochachtung den mutigen Schritt des Studenten registriert. 1977 bewirkt Kettners Bürgschaft für Giebe dessen Aufnahme als Kandidat in die Sektion Malerei/Grafik  des VBK- Bezirksverbands Dresden und damit die offizielle Zulassung als freiberuflicher Maler. Im gleichen Jahr vertieft sich die Nähe zwischen den beiden durch Giebes Heirat mit Kettners Tochter Marlies.

1978 kann Giebe sein Studium mit einem extern erworbenen Diplom in Grafik abschließen und verbringt das folgende Jahr an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst als Meisterschüler bei Bernhard Heisig. Wie die Kommilitonen Walter Libuda und Johannes Heisig, mit denen sich Giebe anfreundet, schätzt er das furiose Ausdruckspotenzial, das Heisig aus Ensors  dämonischen Maskeraden, Beckmanns verschachtelten Welttheaterdramen und den Farbexplosionen von Dix, Grosz und Kokoschka für seine Handschrift herausfiltert. Vor allem aber fasziniert ihn die das eigene Ich einbindende Auseinandersetzung Heisigs mit der deutschen Kriegsschuld.  Traumatische Obsessionen und lange Zeit verdrängtes Grauen, das Heisig als junger Soldat erlebte, schlagen sich in sinnbildlichen „Erinnerungskonstrukten“ nieder, die ihre Wirkung bis in die Gegenwart ausdehnen.[6]

Diese aus dem assoziativen Erinnern herausfließende Gestaltbildung  Heisigs ist nun wegweisend für Giebes eigene Malerei, die sich in den 1980er Jahren explizit den politischen und menschlichen Auswirkungen des ideologischen Diktats und des Terrors zuwenden wird.

1979 geht Giebe zurück nach Dresden-Neustadt und wirkt als Assistent von Günter Horlbeck an der Dresdner Hochschule. Die Kontakte zum neoexpressionistischen Kreis der Leipziger Heisig-Schüler lässt er fortan nicht abreißen, schließt sich aber auch der Dresdner Boheme an, in der Theaterleute, Musiker, Literaten und Künstler in einer subkulturellen Szene alternative Projekte und Punk-Feste organisieren. Denn mit der Biermann-Zwangsausbürgerung hat sich in der jungen Generation die Infragestellung der staatlichen Macht und des sozialistischen Kollektivs erheblich verstärkt. Die den Künstlern von der Kulturadministration zugedachte Aufgabe, den optimistischen Blick auf die politische Linie der SED zu vermitteln, ist ihm wie auch den Freunden suspekt. Es ist die Zeit, da in Ost und West gleichermaßen ein Bewusstsein dafür entsteht, dass mit der Stationierung von atomaren Kurzstreckenraketen die beiden Weltmächte im Ernstfall den deutschen Boden zum alles vernichtenden Austragungsort ihres Rüstungswahns machen würden. Unter den Kulturschaffenden formieren sich  angesichts dieser Bedrohung Initiativen, die unter Berufung auf den Ende 1972 unterzeichneten Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten das grenzüberschreitende Gespräch erproben wollen.

Auf westdeutscher Seite gehört Günter Grass zu den Schriftstellern, die über alle Schwierigkeiten hinweg mehrfach in die DDR einreisen, um sich mit ihren ostdeutschen Kollegen zu treffen. Für Hubertus Giebe wird um 1979/80 der in der DDR nicht veröffentlichte Grass-Roman „Die Blechtrommel“, der auf klandestinen Wegen in seine Hände gelangt, zum Schlüsselerlebnis und Motivator eigener Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen Faschismus im Spiegel eines in dumpfer Gewaltbereitschaft entfesselten Kleinbürgertums. Die Arbeit an der Radierfolge zur >Blechtrommel< 1980 erweist sich für ihn als Prozess eines eigenständigen sinnlichen Denkens im freien Dialog mit dem Romanstoff des westdeutschen Literaten. Dabei thematisiert er mit der Nazivergangenheit den in der DDR latent schwelenden Generationenkonflikt und macht den grotesken Zwerg Oskar Matzerath mit der Trommel zum symbolischen Ankläger einer verführten Jugend.

Zeitgleich mit den Radierungen zur >Blechtrommel< entstehen grafische Blätter zu Heiner Müllers Stück „Die Schlacht“, das der Nachwuchsregisseur Wolfgang Engel auf Giebes Fürsprache im Gebäudekomplex der Dresdner Kunstakademie inszenieren kann. Giebe ist nicht nur ein engagierter Beobachter der Proben, er reagiert auch auf das aus einer Folge kurzer Szenen bestehende Stück mit dem Bildertheater einer aus sieben Motiven gebildeten Offsetlithografie.

Unter den jungen Intellektuellen, Literaten und Künstlern ist Heiner Müller, wie Giebe 1997 zurückblickend konstatiert, ein „Geheimtipp“, in dessen Dramen sie ihre subversive „Seelenlage“ widergespiegelt  finden. [7]  Denn trotz seiner solidarischen Grundhaltung mit der SED als Verfechter antifaschistischer und humanistischer Ideen des Kommunismus war der Dramatiker immer wieder in Konflikte mit der Partei geraten, weil er in seinen Stücken unter Nutzung von Stilelementen der westlichen Avantgarde die Widersprüche in der DDR-Gesellschaft  zur Sprache gebracht hat.

Giebe ist über den Stoff hinaus auch von Müllers dramatischer Methodik fasziniert, die mit den Mitteln der fragmentarischen Synthese individuelle Schicksale mit der deutschen Tragödie parallelisiert. In Bildern wie >Die Schuld<, >Das Ende eines schönen Traumes< (1980/81) oder >Faschistisches Inferno< (1981) greift Giebe diese Methodik  in Form von allegorischen Verdichtungen, Montagen und  surrealen Kombinationen  auf, um die appellatorische Expressivität seiner Darstellungsweise zu steigern.

In den Jahren nach der Biermann-Ausbürgerung herrscht in der DDR ein Klima der Desillusion, das eine tiefe Kluft zwischen der Politik und den Kulturschaffenden aufreißt und eine Welle von Ausreiseanträgen provoziert. Auch in der BRD macht sich angesichts der Nachrüstungsdebatte und des RAF-Terrorismus Resignation breit, da sich die 68er Revolte der Jugend gegen die Geschichtsverdrängung der Väter in einer kapitalistischen Ökonomiedomnanz relativiert hat. So wundert es nicht, dass diesseits und jenseits der Mauer um 1980 in der jungen Kunst Bilder des Scheiterns zu finden sind und man in ihrer expressiven Sprachgestik Anzeichen von Konvergenzen konstatiert, die von der offiziellen Kulturpolitik der DDR mit Argusaugen wahrgenommen werden.

1982/83 findet im Westberliner Martin-Gropius-Bau die viel beachtete ZEITGEIST-Ausstellung als Übersichtsschau zur aktuellen Kunst in der BRD und Italien statt, in deren erzählenden Exponaten eine unruhige Welt voller „Mythen, Erinnerung, geschmolzener oder zerfetzter Formen und Farben“ [8] freigesetzt wird. Ebenfalls 1982 veranstaltet die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland  in der DDR in ihrer Ostberliner Residenz eine Ausstellung mit Werken der „Jungen Wilden“, die trotz der offiziellen Mahnung an die ostdeutschen  Künstler, der Einladung fernzubleiben, große Resonanz findet.  Das Lebensgefühl, das sich in den Bildern der heftigen Malerei aus dem Westen niederschlägt, entspricht dem Begehren  nach Selbstverwirklichung, das viele in der DDR lebende Künstler – unter ihnen auch Giebe – bewegt.

Zu dieser Zeit verfolgt die DDR eine janusköpfige Kulturpolitik zwischen kalkulierten Begünstigungen und repressiven Strafmaßnahmen, deren Auswirkungen Giebe zu spüren bekommt. Während er 1980 im jährlich stattfindenden Wettbewerb des Staatlichen Kunsthandels >100 Ausgewählte Grafiken< für ein Blatt des Radierzyklus >Die Blechtrommel< einen Preis erhält, wird die Arbeit auf der Ausstellung >Junge Künstler< in Frankfurt/Oder nicht gehängt.[9] Einerseits gehört er zur Gruppe der Künstler, die der Staatliche Kunsthandel bei der Ausstellung von DDR-Kunst in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland als talentierte Hoffnungsträger lanciert, andererseits belegt ihn  eine doktrinäre Pressekritik angesichts seiner auf der IX. Kunstausstellung der DDR in Dresden 1982/83 gezeigten Geschichtsbilder mit dem Vorwurf, „verklausulierte Gefährdung des Menschen“ und Geschichtsfatalismus zu betreiben[10] – Vorwürfe, die von der Kulturadministration auch gegen Günter Grass und Heiner  Müller ins Feld geführt werden.

Dennoch entscheidet sich Giebe, anders als einige seiner Freunde, die – Penck folgend – in den Westen übersiedeln oder in die Subkultur abtauchen, für den mühsamen Gang durch die Institutionen. Ab 1982 leitet er mit Johannes Heisig das künstlerische Grundlagenstudium für Malerei und Grafik an der Hochschule für bildende Künste in Dresden. 1983 wird er in den Vorstand des Dresdner Bezirksverbandes Bildender Künstler gewählt und gemeinsam mit Johannes Heisig engagiert er sich in der seinerzeit von Christoph Tannert unter progressiven Zielen geleiteten >Zentralen Arbeitsgruppe Junge Künstler<. Seine trotz aller Frustrationen nie versiegende Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des verkrusteten DDR-Sozialismus äußert sich im aufklärerischen Impetus seiner Arbeit – und die unterscheidet sich grundlegend von der Rhetorik westlicher Kollegen, die ihren No-future-Gefühlen mit Grotesken, Zynismen und Persiflagen Ausdruck geben.

Als 1983 das Bild >Schein und Schock (für Walter Benjamin)< entsteht, darf man davon ausgehen, dass dieses Gemälde ein malerischer Reflex auf die Gedanken darstellt, die der Philosoph Karl-Heinz Bohrer in seinem für den ZEITGEIST-Katalog geschriebenen Aufsatz „Schein und Chock. Zur esoterischen Ästhetik Walter Benjamins“ entwickelt hat.  Giebes Bild wirkt wie eine Manifestation zur Benjaminschen Notiz aus dem Nachlass: „Das in ihm [dem Kunstwerk KT] bebende Leben muß erstarrt und wie in einem Augenblick gebannt erscheinen. […] Jenes Beben macht die Schönheit, diese Erstarrung die Wahrheit des Werkes aus.“[11]

Im März 1983 lässt Werner Schmidt, der Direktor des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, Giebe wissen, dass Günter Grass, dem Fotos von den Radierungen und Gemälden zur „Blechtrommel“ übermittelt wurden, seinen Dank mit der Bitte verbindet, einen Werkaustausch zwischen ihm und dem Maler zu arrangieren. Daraus entwickelt sich auf Umwegen eine briefliche Korrespondenz, in der sich „ein Gefühl von Gleichklang in wesentlichen Fragen“ einstellt.[12] Im Juni 1987 lernen sich beide erstmals während einer Lesung von Günter Grass in Dresden persönlich kennen.

1984 wird der im Westen  zwischen 1975 und 1981 bei Suhrkamp erschienene, in der DDR jedoch erst nach einigem Zögern 1983 in einer kleinen Auflage edierte dreibändige Roman von Peter Weiss „Die Ästhetik des Widerstands“ in mehrfacher Hinsicht ein Leitbuch für Giebe. Filmischen Schnitten vergleichbar, montiert Weiss hier reflektierende Passagen des Ich-Erzählers mit historischen Szenen und Fragmenten aus der Geschichte der deutschen Linken, sodass sich Bericht und Diskurs, Vergangenheit und Gegenwart überblenden. Aus dem Inhalt und der Form dieser Romantrilogie schöpft Giebe Anregungen für ein bildnerisches Durchleuchten des rechten und linken Terrors, vernetzt mit dem Handeln und Leiden mutiger Widerständler vom Spanischen Bürgerkrieg bis hin zu den stalinistischen Verbannungen im GULAG und den Liquidierungen von Sozialdemokraten und Kommunisten, die als Verräter beschuldigt wurden.[13] Das Gemälde >Der Widerstand (für Peter Weiss)< von 1986/87 erprobt das erkennende Erinnern in einer surrealen „Zusammenschau des Disparaten“.[14] Inmitten einer brutalen Folterszene und aufgebahrter Leichen  versucht eine Mutter, ihr Kind zu schützen. Von Verfolgung und Flucht gezeichnet,  beobachtet Willi Münzenberg vom rechten Bildrand aus das  schreckliche Szenarium. Der linke Politiker, KPD-Parteifunktionär und Publizist, der in Paris gegen den Hitlerterror kämpfte und 1937 als Abweichler aus der Partei ausgeschlossen wurde, fiel in einem südfranzösischen  Internierungslager einem wohl von Stalin angeordneten Fememord zum Opfer.

Die Zitierung des immer noch in der DDR geächteten Münzenberg implaniert das eigentliche Anliegen des Malers in die kathartische Bilderzählung, Schlaglichter auf die Verblendungen der gegenwärtig Mächtigen auszusenden. So schweben über der szenischen Montage zwei monumental über Kreuz verkeilte Männer als Metapher für die deutsch-deutsche Gegenwart, in der die gemeinsamen Wurzeln und die ideologischen Irrwege der Vergangenheit nachwirken. Giebe notiert zu dem Topos der gekreuzten Männer, der sich in seinen Bildern mehrfach wiederholt und die Ost-West-Situation des Kalten Krieges bezeichnet: Sie „sind eine Metapher des Kampfes. Sie sind ausgeleuchtet, überblendet bis auf Schwarz und Weiß. Ungleichzeitig, gleichzeitig, vergangene wie verzauberte Brüder im Märchen, sich gegenbewegend, gebannt. Versunken in einer Zeit, die unter unserer Zeit liegt und hier und dort, klaffend, in sie hineinreißt.[15]

Seit der ersten, von der Kunstzeitschrift art initiierten >Zeitvergleich<-Ausstellung, die ab 1982 durch mehrere bundesdeutsche Städte wanderte, konnte sich bei der Kataloggestaltung zu Künstlern aus der DDR in der Bundesrepublik zunehmend ein dialogisches Procedere etablieren. So wurde es üblich, die Exponate der Künstler nicht mehr ausschließlich von offiziell benannten Interpreten aus der DDR, sondern zusätzlich von Kunsthistorikern aus dem Westen kommentieren zu lassen.

Dies gilt auch für die im November 1986 in der Bonner Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen gezeigte Ausstellung >Menschenbilder – Kunst aus der DDR<, die zeitlich mit der in Ost-Berlin stattfindenden ersten offiziellen Präsentation von zeitgenössischer Malerei aus der BRD >Positionen< zusammenfällt. Anders als bei vorangegangenen Ausstellungen von Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik ist sie die erste, die nicht den Verkaufsinteressen des Staatlichen Kunsthandels dient. Obwohl Giebe der Jüngste unter den teilnehmenden Künstlern ist, erregen seine Exponate – neben Arbeiten zur >Blechtrommel< das Doppelporträt >Christoph und Linda< – besondere Aufmerksamkeit. So rückt die damalige Feuilletonchefin und spätere Kulturdezernentin der Stadt Köln, Marie Hüllenkremer, das groß abgedruckte Doppelbildnis in den Mittelpunkt ihrer Ausstellungsbesprechung im Kölner Stadt-Anzeiger: „Das Bild, 1983 entstanden, ist eins der bestechendsten in einer Ausstellung, deren kulturpolitische Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist.“[16] Scharfsichtig registriert Hüllenkremer die in dieser Zeit in der DDR virulenten Spannungen und Widersprüche, die sich in die schrillen Farben und verkrampften Physiognomien des mit Giebe befreundeten Paares eingeschrieben haben.

Die Verfasserin dieses Essays gehörte seinerzeit im Auftrag des Verlagshauses DuMont Schauberg, das die Katalogproduktion finanzierte, zu der Delegation aus Nordrhein-Westfalen, die im Sommer 1986 bei den Vorbereitungen für die Ausstellung >Menschenbilder< auch Hubertus Giebe in seinem Hochschulatelier auf der Brühlschen Terrasse persönlich kennenlernen konnte. Bei einem privaten Besuch bei ihm im darauffolgenden Jahr, veranlasst durch die X. Kunstausstellung der DDR in Dresden, bemerkt sie den deutlichen Anflug von Resignation, mit der Giebe über den Verlust der vielen in den Westen ausgereisten Freunde räsoniert. Hinter einem Vorhang verbirgt er vor unliebsamen Aufpasseraugen auf langestreckter Hartfaserplatte ein fiktives Porträt von Münzenberg, dem eine Reihe weiterer Bildnisse des gehetzten Widerständlers folgen werden. Im Gespräch wird offenkundig, wie sehr ihn der bleierne Stillstand bedrängt, in dem sich die unberechenbar zwischen angedrohten Repressionen und punktuellen Zugeständnissen schwankende Kulturadministration zu dieser Zeit befindet.

Auf der X. Kunstausstellung in Dresden 1987/88 werden Giebes anklagende Geschichtsbilder – darunter das oben zitierte Gemälde >Der Widerstand (für Peter Weiss)< endlich dem DDR-Publikum nicht mehr vorenthalten, bleiben aber im Katalog unkommentiert. Nur wenig später nach Schließung der X. Kunstausstellung kann Giebe im Begleitbuch zur Westberliner Ausstellung >Zeitvergleich ‘88 – 13 Maler aus der DDR< mit dem Abdruck signifikanter Selbstzeugnisse den angemessenen Kontext zu seinen Geschichtsbildern liefern.

Im letzten Jahr vor dem Mauerfall widmet Giebe den Widerstandskämpfern in Spanien und im Exil eine beunruhigende Folge von übermalten Fotofahnen, in deren heroisierender Ausdrucksgestik sich sein aufklärerischer Anspruch verdichtet. Von roten Farbflüssen überzogen, stehen die expressiv aufgeladenen Bildnisse von Carl Einstein, Walter Benjamin, Arthur Koestler, Durruti, George Orwell, Leo Trotzki und Willi Münzenberg neben exekutierenden SA-Männern, einer brennenden Synagoge, Verhaftungen, Internierungslagern und Massengräbern. Im Sommer 1990 bilden diese bodenlangen Fotofahnen eine appellatorische Rauminstallation auf der Biennale Venedig, wo Hubertus Giebe zusammen mit Walter Libuda ein letztes Mal die wenige Monate vor ihrer Auflösung befindliche DDR repräsentiert. Bemerkenswert ist der kleine Katalog, in dem nicht die seit 1988 offiziell nominierten Biennale-Kommissare der DDR Hermann Raum, Günter Rieger und Peter Pachnicke, sondern der Leipziger freischaffende Kunsthistoriker Henry Schumann unter dem Titel „Die Blessuren der Vergangenheit“ die Geschichtsbilder Giebes mit einem fundierten Essay begleitet. Doch die Biennale-Besucher, darunter auch die Verfasserin dieses Textes, empfinden die eindrucksvolle Präsentation im DDR-Pavillon bereits als melancholischen Abgesang auf die von Giebe bis zuletzt bewahrte Utopie, den im Überwachungsstaat DDR degenerierten Sozialismus mit den Prinzipien von Freiheit und Demokratie erneuern zu können. Diesen Glauben hatte Giebe, ein halbes Jahr zuvor, am 19. November 1989, in seiner Rede auf der Demonstration der Künstlerverbände Dresdens noch vehement bekundet, als er die Usurpation der sozialistischen Idee durch die Diktatur der alten Männer anklagte und „die Freiheit der Kunst in dieser Gesellschaft“ einforderte.[17]

Wie auch andere Künstler wünscht sich Giebe grundlegende Reformen in der DDR, aber keine Wiedervereinigung. Doch als die Biennale 1990 in Venedig ihre Tore schließt, ist die Entscheidung für die deutsche Einheit und das Ende der SED-Diktatur längst gefallen, am 3. Oktober ist die deutsche Vereinigung endgültig besiegelt.

 


Anmerkungen

[1] Eva Strittmatter: Hubertus Giebe, in: Joachim Walther( Hrsg.): Mir scheint, der Kerl lasiert. Dichter über Maler, Berlin 1978, S. 120.

[2] Hubertus Giebe: Skizzenblätter aus Schulzenhof. Für Eva Strittmatter, Dresden 2005, S.7.

[3] Hubertus Giebe in einem Brief an Bernd Küster, zit. n. Bernd Küster: Hubertus Giebe, Akte, Gifkendorf 2004, S.31.

[4] Henry Schumann: Die Blessuren der Vergangenheit malen, in: Ausst.-Kat. Hubertus Giebe – Geschichtsbilder. Memorial, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 1999, S.16.

[5] Aus dem Brief von Hubertus Giebe an die Hochschule für Bildende Künste Dresden vom 16. September 1976.

[6] Siehe dazu Eduard Beaucamp: Die verzweifelte Erinnerung – Geschichtskonstrukte und Bewußtseinsanalysen, in: Eckhart Gillen (Hrsg.): Bernhard Heisig. Die Wut der Bilder. Ausst.-Kat. Leipzig, Düsseldorf, Berlin 2005/2006, S. 22.

[7] Hubertus Giebe: Meine Jahre in der Dresdner Neustadt, in: Ausst.-Kat. Geschichtsbilder (wie Anm.4), S.43.

[8] Robert Rosenblum: Gedanken zu den Quellen des Zeitgeistes, in: Ausst.-Kat. ZEITGEIST, Martin-Gropius-Bau, Berlin 1982/83, S. 11. Hubertus Giebe erwähnt die Ausstellung ausdrücklich in einer Tagebucheintragung vom Oktober 1982.

[9] Astrid Volpert: Ein Leben um zu malen, in: Texte zu Hubertus Giebe 1987-1994, Dresden 1995, S. 6f.

[10]Artur Dänhardt: Die Würde des Menschen in einigen Bildern der Ausstellung, in: Sächsische Zeitung vom 17. Dezember 1982.

[11] Zit. n. Karl-Heinz Bohrer. Schein und Chock. Zur esoterische Ästhetik Walter Benjamins, in: Ausst.-Kat. ZEITGEIST 1982/83 (wie Anm. 8), S. 29.

[12] Siehe dazu die von Bernd Lindner zusammengestellten und kommentierten Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Günter Grass und Hubertus Giebe, in: Mauersprünge, hrsg. von Bernd Lindner und Rainer Eckert, Ausst.-Kat. Klopfzeichen, Leipzig 2002, S. 43ff.

[13] In einem Gespräch mit Eckhart Gillen vom 27. März 2002 hat Giebe darauf hingewiesen, dass seine Fokussierung auf die offiziell tabuisierte Geschichte des Widerstands nicht zuletzt auch durch familiäre Ereignisse motiviert worden ist. 1986 stirbt sein Vater. „Das ist auch ein persönliches Motiv, was sich mit dem Geschichtsverhängnis amalgamiert. Sein Tod intensivierte meine Spurensuche in die Verstrickungen der Arbeiterbewegung, die auch das Schicksal meines Vaters bestimmte. Vor seinem ersten Fronteinsatz beschloss er zu desertieren, wurde gefangen genommen und verhört. Der Hitlergegner und Sozialdemokrat kam für fünf Jahre in ein Lager nach Kasachstan, wo er im Steinbruch gearbeitet hat. Halb verhungert kehrte er 1950 mit seinem Pappkoffer zurück. Über diese Erfahrungen hatte er bis fast zum Schluss geschwiegen, musste er wohl auch schweigen.“ Geschichte als Allegorie. Hubertus Giebe, in: Wahnzimmer, hrsg. von Eugen Blume, Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen und Hans-Werner Schmidt, Ausst.-Kat. Klopfzeichen (wie Anm. 12), S. 119f.

[14] Aus der Immatrikulationsrede von Hubertus Giebe an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, zit. n. Ausst.-Kat. Zeitvergleich ’88 – 13 Maler aus der DDR, Neues Kunstquartier des T. I. P., Berlin 1988, S. 291.          

[15] Zit. n. Dieter Hoffmann: Müller, Grass und Giebe, in: Ausst.-Kat. Geschichtsbilder (wie Anm. 4), S. 33.

[16] Marie Hüllenkremer: Im Mittelpunkt der Kunst: der Mensch – Widerspruch und Problemgehalt mehren sich seit den Sechzigern, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 12. November 1986, S. 15.

[17] Hubertus Giebe: Rede auf der Demonstration der Künstlerverbände Dresdens am 19. November 1989, in: Sächsische Zeitung vom 20. November 1989 sowie in weiteren sächsischen Tageszeitungen.

Quelle:Hubertus Giebe – Malen gegen Widerstände. In: Hubertus Giebe. „Malen ist Denken in Bildern, am Rande der Sprache“, Berlin: Akademie der Künste (Archiv-Blätter 23)2015, S. 7 – 15.

2015 Karl Kunz – Einzelgänger der Moderne

Karin Thomas

Karl Kunz – Einzelgänger der Moderne

Im Februar 1947 findet in Augsburg unter dem Titel >Extreme Malerei< eine von der Presse viel beachtete Ausstellung statt, die erstmals das Spektrum neuer malerischer Positionen zwischen Abstraktion und Figuration in der frühen westdeutschen Nachkriegskunst einer der Moderne weitgehend fernstehenden Öffentlichkeit vor Augen führt. Die Auswahl der 14 Künstler, für die der Maler Karl Kunz und der damalige Leiter des Schaezlerpalais in Augsburg, Ludwig Ohlenroth, verantwortlich zeichnen, trifft daher bei den meisten Besuchern auf Missverständnisse oder Ablehnung. Das Ausmaß der Ressentiments lässt sich im Rückblick erahnen, wenn man den Einleitungssatz des Kunsthistorikers Franz Roh im Katalogtext zur Ausstellung liest. Dort heißt es: „Wieder wird man Stimmen vernehmen, die sich empören, weil man noch nicht empfindet, worauf die neue Malerei hinauswill.“ Zu nachhaltig war der Kahlschlag, den die nationalsozialistische Kunstdiktatur mit ihren Arbeits- und Ausstellungsverboten hinterlassen hatte. Umso bemerkenswerter ist das Qualitätsgespür, mit dem Karl Kunz seinerzeit die sich neu formierende Kunstszene beurteilt und darin auch seinen eigenen Standort bestimmt hat. Zugleich fragt man sich aber auch nach den Gründen, weshalb dieser hoch begabte Maler im Verlauf der 1950er Jahre mehr und mehr ins Abseits geraten ist und zu Lebzeiten nicht die ihm gebührende Anerkennung gefunden hat.

Einbindung in die Avantgarde

1905 in Augsburg geboren, erfolgt der frühe Werdegang des Malers unter schwierigen Bedingungen. Und doch findet Kunz schon in den Anfangsjahren seiner künstlerischen Laufbahn eigenständigen Zugang zur zeitgenössischen Avantgarde. Nach ersten Orientierungen in München und Berlin holt ihn 1930 Erwin Hahs als seinen Meisterschüler und Assistenten an die Kunstgewerbeschule Burg Giebichenstein in Halle/Saale. Hier bildet er das für sein gesamtes Nachfolgewerk so signifikante wertungsfreie Nebeneinander von abstrakter und figurativer Formensprache aus. Da alle Gemälde aus den Hallenser Jahren im Krieg verloren gegangen sind, vermitteln nur wenige Schwarzweißfotografien vage Eindrücke von den in ihren Stilelementen und Stilllebensujets am Cézannismus und Kubismus orientierten Bildern. Ab 1932 entstehen auch biomorphe Holzreliefs, in denen Kunz direkte Anregungen zur Abstraktion von Hans Arp bezieht, sowie idolhafte Köpfe und Körperformen, die dem Primitivismus und den plastischen Formvereinfachungen Brancusis folgen. Zugleich erwirbt er an der als sehr progressiv geltenden Kunstgewerbeschule der „Burg“ künstlerische Lehrpraxis. Innerhalb des Schülerkreises um Erwin Hahs pflegt Kunz Kontakte zu Fritz Winter und schließt Freundschaft mit Heinz Menzel, die über Jahre hinweg fortbestehen wird.

Der Hallenser Anschluss an die Avantgarde findet jedoch 1933 ein jähes Ende. Kunz wird als „entartet“ diffamiert, mit Arbeitsverbot belegt und muss Halle verlassen. Jung verheiratet, geht er mit seiner Frau Ilse zurück in seine Heimatstadt Augsburg. Hier übernimmt er das elterliche Holzgeschäft, das sein kranker Vater nicht mehr bewältigen kann, setzt aber auch heimlich seine malerische Tätigkeit fort.

Aus den Briefen, die Kunz dem weiterhin in Halle verbliebenen Freund Heinz Menzel schickt, und aus den biografischen Notizen seines Sohnes Wolfgang geht hervor, dass die innere Emigration in Augsburg dem Künstler trotz aller Bedrohung und Vereinsamung eine Phase idyllischen Familienglücks und kreativer Reifung bietet.  Schmerzlich vermisst er jedoch die Lektüre ausländischer Kunstperiodika wie der französischen >Cahiers d’Art< und den Besuch avantgardistischer Ausstellungen. Seine Bildwelt, die sich nun vorwiegend im Gegenständlichen bewegt, öffnet sich dem „Irrationalen“, das für ihn „genau so eine feste Realität“ darstellt wie alles andere.[1]                                                                                                                                                                                                                           Akrobaten und Komödianten, Gaukler und mythologische Figuren wie Orpheus entwerfen das allegorische Bild des freien Künstlertums, das Kunz für sich selbst ersehnt, während sich in intimen Familienszenen und im bukolischen Genre der ländlichen Feste ein Traumglück niederschlägt, dessen Zerbrechlichkeit sich in den eingefrorenen Gesten der Protagonisten unterschwellig spiegelt. Assoziationen an die metaphysischen Bilder de Chiricos, mit denen Karl Kunz wohl schon damals vertraut war, weckt die magische Poesie des Gemäldes >Die Schwebenden< (WV 38) von 1934. So befinden sich die schemenhaft gezeichneten Gestalten des schwebenden Paares in einem der Antike entlehnten Raum, dessen Doppelbödigkeit zwischen einem erträumten Arkadien und düsteren Vorahnungen oszilliert.

Wie bewusst sich Kunz in die Errungenschaften der gesamten Kunstgeschichte bis hin zur Moderne einbindet, bekunden die Zitate und Anspielungen, die er in seine Bilder einfließen lässt. So finden sich in dem Gemälde >Sommertag< (WV 62) von 1939 sowohl Anklänge an Tizians >Ländliches Konzert< aus dem Louvre[2] wie auch an die Freizügigkeit der Künstlergesellschaft auf Manets >Frühstück im Grünen<.

Auf dem Gemälde >Familie< (WV 67) von 1941 typisiert er die Figuren mit einer bilderbogenhaften Statuarik, die er bei dem großen Naiven Henri Rousseau entlehnt.[3] Was bei dem französischen Sonntagsmaler zur Überhöhung des Realistischen ins Fantastisch-Exotische führte, verwandelt Kunz in eine bewusst gesetzte Attitüde persiflierenden Humors, mit dem er nach der Geburt seiner Tochter Johanna 1936 und seines Sohnes Michael 1938 auf seinen nunmehr in bürgerlichen Bahnen verlaufenden Alltag mit väterlichen Familienpflichten Bezug nimmt. So wundert es auch nicht, dass in den Briefen an Menzel Ereignisse wie der Erwerb eines Waldgrundstücks bei Augsburg, anschließend der Auf- und Ausbau eines Holzhauses auf dem Gelände und die Anlage eines Nutz- und Blumengartens breiten Raum einnehmen. Zugleich erstaunen die zahlreichen Bemühungen, die Kunz anstrengt, um möglichst viele Informationen über aktuelle Tendenzen der französischen Avantgarde zu erhalten. So entdeckt er 1937 in einer gerade erst erschienenen Nummer der >Cahiers d’Art< neben aktuellen Werken von Braque, Léger und Miró auch Picassos Vorzeichnungen zu >Guernica<, deren stilistische und politische Implikationen ihn nachhaltig beeindrucken.[4]

Mit dem Besuch der Ausstellung >Entartete Kunst< im Münchner Haus der Kunst nutzt er die letzte Möglichkeit, noch einmal Werke der Moderne im Original sehen zu können. Am 20. Januar 1938 schreibt er dem Freund, er habe „das Buch von Ozenfant“ gelesen, gemeint ist wohl die Publikation >La peinture moderne<, die Ozenfant 1935 gemeinsam mit Le Corbusier veröffentlicht hatte. Von Fritz Winter erhält er nach dessen Rückkehr von einer Reise in die Schweiz anhand von Fotografien Informationen über die „heutige Malerei“ von Max Ernst, Braque und Picasso.[5]  Dem Brief an Menzel vom 25. Mai 1942 ist zu entnehmen, dass Kunz in einer Münchner Buchhandlung neben dem Haus der Kunst mehrere Mappen mit „Reproduktionen abstrakter Malereien“, darunter von Picasso und Chagall sowie mit Skulpturen von Zadkine, erwerben konnte. Die Trouvaillen kommentiert er wie folgt: „ Das alles ist für mich ungeheuer viel wert. Schon das einfache Sehen von Bildern hat mich schon immer mächtig angefeuert. Es ist auch nicht ausgeschlossen, daß sich dadurch in meinen Bildern einiges verändern wird.“

Kriegstraumata unter dem Eindruck von Guernica

Ab 1942 werden derartige Veränderungen in den Bildern unübersehbar, indem die Sujets nun mit einer für den französischen Surrealismus signifikanten Mehrdeutigkeit zwischen Traumfantasien und Kriegsszenarien wechseln. Im Januar 1942 entsteht das Gemälde >Der Schiffbrüchige< (WV 70), in dem Karl Kunz die Schrecken des Zeitgeschehens und seine dadurch verursachte eigene Verunsicherung verdichtet. Als Vorlage benutzt er die Zeitschriftenabbildung einer an den Nordseestrand angespülten Galionsfigur, die ein englisches Segelschiff im 19. Jahrhundert bei seinem Untergang verloren hatte. Die Reproduktion fand Kunz in einer Ausgabe der Zeitschrift >Der Querschnitt<, die – von Alfred Flechtheim 1921 als Mitteilungsblatt seiner Galerie initiiert – in den 1920er und 1930er Jahren bis zu ihrem Verbot im Oktober 1936 als Vierteljahresschrift im Propyläen-Verlag des Berliner Ullsteinhauses herausgegeben wurde. In seiner Glanzzeit fungierte das Periodikum als Zeitgeistmagazin, in dem moderne Literatur und Kunst (Picasso, Léger, Chagall) ebenso ihren Platz fanden wie Aktfotos und Porträts von Opernsängern, Tänzerinnen und Boxern.[6]

Mit einem Bratenrock bekleidet und von einem Zirkusszenarium umgeben, machte Kunz diese im >Querschnitt< gefundene Gestalt bereits 1939 auf einem – im Krieg verbrannten und nur in einer Schwarzweißfotografie reproduzierten – Bild mit dem Titel >Der Tragische< (WV 60A) zur allegorischen Identifikationsfigur für seine gegenüber der Gesellschaft weitgehend entfremdete Künstlerexistenz.

Als der Bombenkrieg auch Augsburg erreicht, muss Karl Kunz, der wegen eines Herzleidens nicht zum Fronteinsatz eingezogen, sondern zum Heimatschutzdienst abgeordnet wird, die Brände nach den Angriffen löschen und die Toten aus den zerbombten Luftschutzkellern bergen. In mythologisch-erotischen Bildern mit Anklängen an Max Ernst und Marc Chagall schafft er sich surreale Inseln des Rückzugs von den Schreckensbildern seiner grauenvollen Alltagseindrücke.[7] Zugleich findet er aber in der aufrüttelnden Sprachform von Picassos >Guernica< das Vorbild, das ihn zur eigenen Auseinandersetzung mit der brutalen Zerstörungswucht der Bombennächte inspiriert.

Im November 1942 vollendet Kunz das Gemälde >Krieg< (WV 74), das er – wie er in einem Brief an Menzel vom 2. August berichtet – im Sommer begonnen hat, nachdem er zuvor ein wohl in Berlin ausgeliehenes „Picasso-Buch“ mit einer >Guernica<-Abbildung einsehen konnte. Der Brief an den Freund enthält zusammen mit einer Inhaltsskizze von >Krieg< einen Hinweis darauf, wie sehr sich Kunz der stilistischen und gehaltlichen Nähe seines Gemäldes zu dem inzwischen berühmten Antikriegsbild >Guernica< bewusst ist, das Picasso 1937 als Reaktion auf die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica durch einen deutsch-italienischen Luftangriff geschaffen hatte. „Ich weiß natürlich, in was für eine gefährliche Konkurrenz ich mich begebe. Aber so Gott will, wird es ein kunzischer Krieg. Es ist darauf zu sehen, ein anatomischer Muskelmann mit Helm, ein Gekreuzigter mit dem Kopf nach unten, eine Puppe mit der Geste des Hinfallens, ein Pferd, das einen Liegenden beschnuppert, ein Tisch mit Frauentorso und Puppenbalg (frühes hallisches Bild), eine Standarte und eine rote Sonne. Ein Bild, an dem ich lange malen werde.“

Auch die in den folgenden Kriegsjahren entstandenen Gemälde >Stürzende< (WV 76) und >Augsburger Bombennacht [Im Keller]< (WV 84) erweisen sich „als Bekenntnisbilder, die mit ihren Deformationen und Auslöschungen eine völlig aus den Fugen geratene Welt allegorisieren, aber auch eine tiefe Empathie mit den Opfern von Aggression und Zerstörung bekunden“.[8] Eingebettet in die bei Picasso entlehnte Symbiose surrealistischer und kubistischer Stilzitate manifestieren isolierte Trümmerfragmente, schemenhaft verformte Körper und vom Angstschrei gezeichnete Gesichter ihre anklagende Botschaft.

Als Kunz die beiden letztgenannten Bilder malt, hat er nur wenige Monate zuvor bei einem Bombenangriff auf Augsburg in der Nacht vom 25. auf den 26. Februar 1944 den größten Teil seines Frühwerks verloren. Lediglich 32 Gemälde und Plastiken, die ausgelagert waren, bleiben erhalten. Im Juli 1944 entsteht >Stürzende< als erstes Bild nach dieser Katastrophe, gemalt in einer Ruine, die sich Kunz als provisorisches Atelier eingerichtet hat.

Aufbruch nach 1945

Trotz des Verlustes seiner Werkbestände und seiner Existenz als Furnierholzhändler, mit der Karl Kunz seine Familie wirtschaftlich durch die schwierigen Kriegsjahre geführt hatte, bemüht er sich schon im April l944 um die Wiederaufnahme seiner künstlerischen Arbeit. Wie bereits in den Jahren zuvor geben auch jetzt die Briefe an Heinz Menzel konkrete Hinweise. So bittet Kunz am 16. April 1944 um die Rücksendung von Zeichnungen, die zu verbrannten Bildern entstanden waren, um sich den verlorenen Motiven erneut widmen zu können. Aus den Briefen, die Kunz nach Kriegsende schreibt, ist neben der Erleichterung über den Zusammenbruch der Nazidiktatur ein starker Wunsch nach neuen Wegen zu spüren. Sein Ziel ist es nun, „das Mysterium des Lebens darzustellen. […] Der Weg dorthin wird sehr lang und schwer sein, er muß mit äußerster Konzentration und Mut […] gegangen werden. Es ist in erster Instanz eine Angelegenheit geistiger Vertiefung, das Feld der Auseinandersetzung aber die Leinwand.“[9]

Im Februar 1946 knüpft Kunz in München erste Kontakte zu Kunstvermittlern wie dem Galeristen Günther Franke, orientiert sich, soweit es die beschränkten Ausstellungsangebote erlauben, über die neuen Werkkonzepte der Kollegen und besucht den für den Bayerischen Rundfunk tätigen Kunstkritiker Franz Roh, dessen besondere Wertschätzung er seit seiner Beteiligung an der im Dezember 1945 eröffneten Ausstellung im Augsburger Schaezlerpalais >Maler der Gegenwart< gewinnen konnte.

Über Will Grohmann erreicht ihn die Einladung zur Teilnahme an der >Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung< in Dresden, die 1946 über die Zonengrenzen hinweg als erste Institution Werke der 1933 als entartet diffamierten Künstler wieder zusammenführt. Der Direktor der Münchner Staatsgemäldesammlung Eberhard Hanfstaengl beteiligt Karl Kunz an der Ausstellung >Neue deutsche Kunst< in Konstanz mit einem größeren Bildkonvolut.

Als Mitorganisator der bereits erwähnten Ausstellung >Extreme Malerei< erweist sich Karl Kunz 1947 als kritischer Beobachter, der den Kontakt zur Moderne auch in der Zeit der inneren Emigration nie verlor. Der tristen Gegenwart entrückte Liebespaare, Harlekine und Gaukler, mythische Figuren wie Ganymed und Fabelwesen dominieren nun neben der Ecce-homo- und Kreuzigungsmotivik das Themenrepertoire in dieser ersten Nachkriegsphase. Körperattrappen und Puppen – zuweilen durchsichtig wie Schatten – beschwören Reminiszenzen an die angehaltene Zeit auf den Bildern de Chiricos. Andere Gestalten erinnern an die surreale Bildwelt bei Chagall, Dalí oder auch Picasso und werden kulissenhaft zu statuarischen Ensembles arrangiert, die auf einen Wandel warten. Dabei verweben sich mehrere Bildebenen wie gestapelte Rahmen miteinander zu einem Bühnengeschehen. Man hat den Eindruck, dass Karl Kunz alle Requisiten und Figuren aus früheren Gemälden in den neu entstehenden Bildern wieder um sich schart, um aus ihrer Gegenwart neue Wege für seine künstlerische Zukunft zu extrapolieren.

Auf dem Gemälde >Mater dolorosa< von März 1946 (WV 89) erscheint neben Relikten aus dem picassoesken Programm der Kriegsbilder am linken Bildrand eine altmodisch korrekt gekleidete männliche Gestalt, die ihren eigenen vom Rumpf abgetrennten Kopf in der rechten Hand trägt. Man könnte sie aufgrund ihrer Physiognomie mit dem >Schiffbrüchigen< gleichsetzen, den der Maler als „tragische Figur“ in dem nur einen Monat später entstandenen Bild >Schweißtuch der Veronika< (WV 90) erneut zitiert. Doch ein Mitte 1949 gemaltes Bild enthüllt über seinen Bildtitel >Bellachini< (WV 129) und die aufgereihten Utensilien eines Magiers die Identität des Mannes ohne Kopf. Es handelt sich um den im 19. Jahrhundert äußerst populären Zauberkünstler Samuel Bellachini, der in spektakulären Vorführungen seinen Assistenten auf offener Bühne einer scheinbaren Enthauptung unterzog. Während der >Schiffbrüchige< als Identifikationsfigur das Tragische verkörpert, wird Bellachini, dessen rätselhafte Identität Kunz in >Mater dolorosa< noch mit einem ins Bild gesetzten Fragezeichen unterstreicht, zum personifizierten Signum von magischer Metamorphose. Das Wissen über die surrealistische Moderne aus Frankreich, das Kunz sich in den Zeiten seiner inneren Emigration klandestin angeeignet hatte, trägt nun Früchte in seiner eigenständigen Anverwandlung. Das Malen wird zur Verarbeitung seiner eigenen Kriegstraumata und des kollektiven Leids. Sinnfindung für den Tod im Mysterium von Christi Kreuzigung und Auferstehung fließt ein in eine surreale Kombinatorik, die religiös nobilitierte und profane Elemente zusammenbringt.

Am 27. Juni 1946 teilt Kunz dem Freund Menzel mit, er habe gerade ein Bild fertiggestellt, das er als „Symbolisierung der Zeugung“ verstehe und in dem sich sein „neues Stilgefühl“ konkretisiere. In der Tat verdichten sich in dem von Kunz angesprochenen Gemälde >Die bunten Steine< (WV 92) abstrakte Fantasiegebilde, die sich als Vagina und Penis deuten lassen und auf eine Thematik vorausweisen, die im Spätwerk des Malers dominant sein wird.

Wie wenig sich Kunz zu dieser Zeit um die zunehmend vom Kalten Krieg belastete Aufspaltung der deutschen Nachkriegskunst in eine abstrakte und eine figurative Stilrichtung schert, verdeutlicht das Bild >Café Maxim< (WV 94), das 1947 zu den Exponaten der Ausstellung >Extreme Malerei< gehört. Souverän demonstriert Kunz hier die kubistische Aufsplitterung von Gegenständen und Figuren in ein karikierendes Profil kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit und bedient sich dabei sowohl figurativer wie auch abstrakter Bildbausteine.[10]

Lehrtätigkeit und Selbstverwirklichung in Saarbrücken

Im Frühjahr 1947 wird Karl Kunz als Lehrkraft an die Staatliche Schule für Kunst und Handwerk des Saarlandes berufen. Er übersiedelt nach Saarbrücken und entwickelt mit Begeisterung ein Lehrkonzept für seine pädagogische Tätigkeit nach dem Vorbild seiner früheren Hallenser Praxis. In Saarbrücken schließt er Freundschaft mit dem Kunsthistoriker J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, der ebenfalls einem Lehrauftrag im Saarland nachkommt und in der Folgezeit zum weitsichtigen Interpreten des Kunzschen Œuvres avanciert.

Der Aufenthalt in Saarbrücken ist für Karl Kunz eine glückliche Zeit, in der sich eine höchst kreative Wechselwirkung zwischen seiner eigenen Malerei und den Erfahrungen im Unterricht abzeichnet.

Da das Saarland unter der Kontrolle eines französischen Hochkommissars steht, ist hier der Einfluss der französischen Kunstszene ausgeprägter als in Westdeutschland. Französische Zeitschriften, die im Saarland verfügbar sind, informieren über das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben in der Metropole Paris. So lässt sich Kunz nicht nur von Picasso und Léger, sondern auch von den Abstraktionen Kandinskys inspirieren, der von 1933 bis zu seinem Tod 1944 in Neuilly-sur-Seine bei Paris gelebt hatte. In seinem Grundlehre-Unterricht an der Saarbrücker Kunstschule lehrt Kunz das Komponieren mit abstrakten Formen nach Bauhaus-Vorgaben, und in den Wandentwürfen, die er in Erwartung entsprechender Aufträge für öffentliche Neubauten wie die Universität des Saarlandes und die Musikhochschule Saarbrücken anfertigt[11], versammelt er nicht nur seine ganze Bilderwelt aus verhüllten Gestalten, Gliederpuppen, Muskelmenschen, Vogelmotiven, schwebenden Paaren, Ruinen und umgekehrt Gekreuzigten[12], hier finden sich auch Anklänge an das Zusammenspiel geometrischer Formen und expressiver Farben, das Kandinsky in seiner Bauhausphase entwickelt hatte.

In den Gemälden der Jahre 1947 bis 1949 treten wieder verstärkt die Protagonisten der Commedia-dell-arte in Erscheinung und symbolisieren menschliche Belange und Sehnsüchte. An ihnen erprobt er nun – wie auf einer Theaterbühne der Malerei – geometrische, kalligrafische und kubistische Stilinterferenzen. Kein deutscher Maler pflegt zu dieser Zeit in eigenständiger Anverwandlung einen vergleichbaren experimentellen Umgang mit den stilistischen Errungenschaften der Moderne wie Karl Kunz in Saarbrücken.

Dass es schon in den ersten Nachkriegsjahren hierzulande weitsichtige Kunstsammler gibt, die trotz schwieriger Kommunikation und eingeschränkter Vermittlungsstrukturen für zeitgenössische Kunst die malerischen Innovationspotenzen im Werk von Karl Kunz erkennen, bekundet 1951 die Verleihung des renommierten Domnick-Preises an das 1948 entstandene Bild >Figurinen< (WV 117).

Aus der pädagogischen Arbeit und den persönlichen Kontakten zu den Studierenden bezieht Kunz trotz des erheblichen Zeitaufwandes, den er dafür investieren muss, eine große Befriedigung. Diese schlägt sich nieder in der von ihm sorgfältig vorbereiteten Ausstellung >Junge Menschen lernen malen<, die er 1948 für das Augsburger Schaezlerpalais konzipiert und die danach in mehrere westdeutsche Städte weiterwandert.

Das Vorlagenarchiv, das der ältere Sohn Michael aus dem väterlichen Nachlass verwahrt, enthält eine Vielzahl von Abbildungen aus Modejournalen, in denen sich die exquisite Eleganz der französischen Haute Couture aus Modehäusern wie Dior oder Fath widerspiegelt. Darüber hinaus gibt es einige Ausschnitte aus Reportagen zur existenzialistischen Pariser Bohème, die – wie man den literarischen Texten von Albert Camus oder Simone de Beauvoir entnehmen kann – seinerzeit eng mit der französischen Mode- und Chansonkultur verbunden war.[13] Kunz lässt sich von diesem existenzialistischen Milieu in mehrfacher Hinsicht anregen. An den extravaganten Posen der Mannequins fasziniert ihn der Ausdruck von Exaltiertheit, auf den er nun in seinen Bildern häufig zurückgreift, aber auch die Künstlichkeit, die der tristen Realität im Nachkriegsleben der Normalbürger wie ein surrealer Traum erschienen sein muss. (>Im Modesalon< [WV 113]).

Affiziert vom melancholischen Ennui der Existenzialisten schweift Kunz im Vollzug seiner Malerei wie ein Flaneur ohne Larmoyanz durch die Absurditäten von Gegenwart und Vergangenheit. Raffinierte Stofffältelungen, die er aus der Abbildung einer hellenistischen Gewandfigurengruppe bezieht, integriert er gemeinsam mit einer biedermeierlichen Gesellschaft, Puppen und einem Harlekin in das Wandbild für den Festsaal des Schlosses Halberg (WV 101), in dem sich 1948 der Sitz des französischen Gouverneurs für das Saarland befunden hat.

Im Sommer 1949 wird Kunz unvermittelt von seinem Saarbrücker Lehrauftrag entbunden. Sparauflagen der Saarregierung dienen als Begründung; ursächlich sind aber wohl eher Spannungen, die sich zwischen Kunz und dem Direktor der Kunstschule aufgebaut haben. Nach der Entlassung geht er zurück nach Augsburg und konzentriert sich ganz auf seine Malerei.

Bildwerdung aus dem Unbewussten

In den Jahren 1950 und 1951 kann Kunz den Ausfall der Saarbrücker Einkünfte teilweise durch zahlreiche kunstgeschichtliche Vorträge in verschiedenen Amerika-Häusern kompensieren. Da sich aber bald zunehmende Geldsorgen abzeichnen, drängt ihn seine Frau Ilse, verstärkt an Ausstellungen teilzunehmen, Galeriekontakte zu erweitern und sich um öffentliche Aufträge – auch im kirchlichen Umfeld – zu bemühen. Doch seine beiden Triptychen zur Kreuzigung (WV 147) und zum Marienleben (WV 150) von 1951 widersprechen mit erotischen Grotesken und zersplitterten Körpersegmenten den traditionellen Vorstellungen, die kirchliche Auftraggeber mit diesen religiösen Sujets verbinden. Die Überschneidung von karikaturhaften Überzeichnungen mit religiösen Motiven vollzieht sich im Arbeitsprozess an den beiden Zeichnungszyklen >Neues Testament< und >Phantasien und Grotesken<, denen sich Kunz von August 1949 bis März 1951 widmet. Illustrierten-Ausschnitte von Schaufensterpuppen in aufreizenden Dessous und Karikaturen aus der Rokokozeit, die den Kult monströs aufgetürmter Perücken glossieren, bieten ihm Anregungen für die Erfindung grotesk-erotischer Fantasien. Es ist weniger der konkrete Inhalt als vielmehr die sinnliche Ausstrahlung der Vorlagen, von der sich Kunz zu eigenen Imaginationen motivieren lässt.

Gebilde aus den Federzeichnungen wie eine Gliederpuppe, deren Unter- und Oberkörper eine Spirale verbindet, übernimmt Kunz sowohl in das Gemälde >Ecce homo< (WV 145) wie auch in die Mitteltafel des Kreuzigungstriptychons (WV 147). In anderen Gemälden entsteht das Moment des Fantastisch-Absurden aus der rätselhaft anmutenden Kombinatorik untereinander fremder Bildrequisiten. So wird auf dem Gemälde >Parade der Irrungen< von 1953(WV 167) ein in eleganter Abendrobe posierendes Mannequin von einer muskulösen weiblichen Aktfigur flankiert. Altmodische Kopfbüsten, ein Puppentorso und ein Brustporträt des Schiffbrüchigen als Signum des tragischen Scheiterns gehören zum weiteren Bildinventar, das ein verstört wirkender Mann vom linken Bildrand aus beobachtet. Eine melancholisch-resignative Patina überzieht die Bildelemente unterschiedlicher Herkunft mit einer sie verbindenden Anmutung.

Mit solch narrativen Bildern löst sich Kunz aus seiner früheren Anlehnung an den picassoesken Surrealismus und findet seine persönliche figurative Handschrift, mit der er sich zugleich vom vorherrschenden Trend der informellen Abstraktion der westdeutschen Kunstszene deutlich entfernt.

Eine neue Dimension fantastischer Bildfindung eröffnet sich dem Maler 1951 eher durch Zufall auf einer ausgedehnten Bergwanderung in den bayerischen Voralpen, als er in einem abgestorbenen Waldareal die bizarren Formationen abgestorbener Bäume und Wurzelgeflechte entdeckt und in den Bleistiftzeichnungen des Zyklus >Bärenfleckhütte< protokolliert. In den nur wenig später begonnenen >Einundsechzig Illustrationen zum Inferno der Göttlichen Komödie des Dante Alighieri< verwandelt er diese gebrochenen Naturfragmente in gespenstische Räume, gefährliche Fabelwesen, erotische Wucherungen und aufgebauschte Gewänder. Dem Geist des Dichters folgend, der vom geraden Wege abgewichen im dunklen Wald das Chaotische als Quelle produktiver Kräfte begreifen lernt (Prolog I 1-3), vollzieht Kunz in den Ausgeburten seiner Fantasie die Bildwerdung aus dem Unbewussten, die für ihn zugleich mit der Befreiung vom Hautgout desAbseitigen und Verbotenen verbunden ist. An jeder Federzeichnung zum >Inferno< arbeitet Kunz mehr als 100 Stunden und betritt dabei meditierend die Welt der Träume, in der sich Lust und Qual, Eros und Thanatos treffen. Aus diesen Wanderungen durch das Reich des Unbewussten entstehen die Bildvisionen von monströsen Wesen wie den Harpyien, aber auch verrätselte Schicksalsepen wie das >Medea<-Triptychon oder die Revolutionsbilder.

Im Bewusstsein, sich nun von den früheren Wegbereitern aus dem Umfeld der Vorkriegsmoderne emanzipiert zu haben, wird Karl Kunz 1965 einer Freundin rückblickend schreiben: „Ich habe fast alles, was ich besitze, von ihr [der modernen Malerei K. T.] gelernt. Sie gab mir die Möglichkeit, meine Bilder bildhaft zu malen.“ C. G. Jung zitierend fährt er fort: „>Du durchwanderst diese dämmrigen und dunklen Räume und begegnest dort der Welt deiner inneren Bilder. Führe sie hinauf in die hell erleuchtete Dachkammer!< Genau das ist es, was ich will…“[14]

Manieristische Kombinatorik

1953 verlegt Karl Kunz seinen Wohnsitz von Augsburg in das kleine Städtchen Weilburg an der Lahn, weil seine Frau dort eine Stellung als Studienrätin antreten kann und für den Unterhalt der Familie aufkommt. Hier zieht sich der Maler zunehmend in die verschlüsselte Welt seiner inneren Bilder zurück. Als die Biennale Venedig 1954 den Surrealismus in den Mittelpunkt ihrer Präsentationen stellt, wird Kunz zur Teilnahme eingeladen. Da es jedoch noch keinen international vernetzten Kunstmarkt gibt, findet diese außerordentliche Ehrung seines Werkes hierzulande kaum Beachtung. Figurative Malerei, wie er sie betreibt, gerät in der Bundesrepublik angesichts der marktbeherrschenden Stellung von Informel und Tachismus ins Abseits.

Als erste große Komposition entsteht 1954 in Weilburg das >Medea<-Triptychon (WV 178), mit dem Kunz einen der bekanntesten Tragödienstoffe der griechischen Antike aufgreift. Mit der vom Kirchenaltar übernommenen Form des Dreitafelbildes unterstreicht er den inneren Bedeutungsgehalt des Dargestellten.

Seine malerische Strategie verzichtet auf eine erzählerische Illustration des Medea-Dramas. Stattdessen konzipiert Kunz die Mitteltafel als psychologisierendes Simultanbild, auf dem sich nicht das Geschehen, sondern das Ursache-Wirkungsgeflecht von Liebe, Verrat, Rache und Mord zwischen Medea und Jason in orakelhafter Mehrdeutigkeit verrätselt. Als tragische, von Leid gezeichnete Figur beherrscht Jason, der Argonautenheld, das Bildzentrum. Der Maler hat ihn mit der Physiognomie des Schiffbrüchigen gezeichnet. Nur noch ein Schatten seiner selbst, schwebt er über seinem Schiff Argo, das ihn einst auf der Suche nach dem Goldenen Vlies bis nach Kolchis zu Medea brachte. Nun hat Medea den Mord an ihren beiden Kindern aus Rache für Jasons Liebesverrat vollzogen. Die linke Figur neben Jason zeigt die unmittelbar nach der Tat triumphierende Barbarin der Rache. Doch hinter der rechten, gänzlich verhüllten Gestalt verbirgt sich die nach dem Kindermord geächtete und in ihrer Trauer isolierte Medea, die wie Jason allen Lebenssinn verloren hat. Ein transparentes Miniaturbild im Bild richtet die Aufmerksamkeit des Betrachters unterhalb des Schiffsbauches auf ein jugendliches Paar – verlorene Erinnerung von Jason und Medea an ihre glückliche Vergangenheit. Der gerahmte Stierkopf am unteren rechten Bildrand allegorisiert die Auslösung der Tragödie: Jason gelang die Rückgewinnung des geraubten Goldenen Vlieses mit Hilfe von Medea, die ihre Zauberkräfte für den Geliebten gegen ihr eigenes Volk einsetzte. Abgeleitet aus den Zeichnungen des >Bärenfleckhütte<-Zyklus überziehen aggressive Liniengebirge alle drei Tafeln. Auf der linken Seitentafel durchbohren sie wie Messerspitzen die in hysterischem Schmerz vor ihrer Zofe zusammengesunkene Medea. Auf der rechten Seitentafel verknäueln sie sich zu harpyienhaften Wesen, die in der griechischen Mythologie als Überbringer von Qual und Unheil galten und als solche die in die Wüste fliehende Medea bedrängen.

Das Außersichsein wird in nachfolgenden Bildern wie >Stigmatisierte< (WV 231) in einen ekstatischen Zustand verwandelt und zum Bestandteil eines manieristischen Kompositionsverfahrens, bei dem Kunz die Versatzstücke seines Bildaufbaus aus heterogenen Vorlagen herausfiltert. Geradezu modellhaft ablesbar ist diese Strategie an dem Gemälde >Unter dem Kreuz (WV 205). Eine der biblischen Frauen, die bei der Kreuzabnahme Christi anwesend sind, ist identisch mit der Zofe aus der linken Seitentafel des >Medea<-Triptychons, für die Kunz als Vorlage den Illustrierten-Ausschnitt einer italienischen Modenschau herangezogen hat. Für die figurale Zeichnung der Maria Magdalena im rechten Bildteil verbindet Kunz die Kopfhaltung der >Stigmatisierten< mit der Pose eines Mannequins aus seinem Archivrepertoire. Der Mann neben ihr ist Otto Ohlendorf, den Kunz einem Foto vom Nürnberger Kriegsverbrecherprozess entnommen hat. Der Jurist und Wirtschaftsberater der SS war wegen seiner Beteiligung an Kriegsverbrechen in den eroberten Ostgebieten angeklagt und 1951 hingerichtet worden. Da sich Ohlendorf im Prozess zu seiner Schuld bekannt hatte, übernimmt er im allegorischen Rahmen der Kreuzmotivik die Rolle jenes Schächers, dem Christus die Vergebung seiner Schuld und den Einzug in das Paradies voraussagt. Flankiert wird Ohlendorf von Vergil, dem Begleiter Dantes auf den Wanderungen durch die neun Kreise der Hölle, dessen antike Gestalt Kunz aus seinen Illustrationen des >Inferno< zitiert.[15]

 


Anmerkungen

[1]  Brief von Karl Kunz an Heinz Menzel, Augsburg, 28. Juli 1936. Heinz Menzel hat alle Briefe und Postkarten, die er von Karl und Ilse Kunz in den Jahren 1935 bis 1971 erhielt, aufbewahrt. 2010 wurden sie von Menzels Kindern Wolfgang Kunz geschenkt. Menzel, der gegen Ende seines Halleschen Kunststudiums auch die Fotoklasse an der „Burg“ besucht hatte, fand in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre eine Anstellung in der Fotoabteilung des Kunsthistorischen Instituts in Marburg, das von Richard Hamann geleitet wurde. Der renommierte Kunsthistoriker entsandte Menzel in die Museen mehrerer europäischer Länder, um dort Kunstwerke für kunsthistorische Studien zu fotografieren. Aus den Briefen von Karl Kunz an den Freund geht hervor, dass Menzel ihm zu Weihnachten und zu anderen Gelegenheiten immer wieder Werkreproduktionen schenkte oder leihweise zur Verfügung stellte. Menzel hat für Karl Kunz auch die meisten Schwarzweißfotografien erstellt, die von dem in Augsburg verbrannten Gemäldefundus noch existieren.

[2]  In seiner umfangreichen Sammlung von Kunstreproduktionen, Postkarten und Zeitungsausschnitten, die der Sohn Michael Kunz mir dankenswerterweise zur Auswertung bereitstellte, verwahrte Karl Kunz u. a. eine sorgfältig auf Karton aufgeklebte Farbreproduktion von Tizians >Ländlichem Konzert< aus dem Louvre.

[3]  Zu den wenigen großformatigen Kunstreproduktionen, die Kunz mit besonderer Sorgfalt in seiner Sammlung aufgehoben hat, gehören auch zwei exotische Landschaften von Henri Rousseau.

[4]  Brief an Menzel vom 10. September 1937.

[5]  Brief von Menzel vom 5. November 1938.

[6]  In allen Arbeitsphasen hat Karl Kunz Zeitschriften-Ausschnitte gesammelt und in seinen Gemälden verarbeitet bzw. aus ihnen Anregungen bezogen. Den Hinweis auf den >Querschnitt< verdanke ich den ausführlichen Kommentaren, die mir der Sohn des Malers, Michael Kunz, freundlicherweise zur Auswertung verfügbar gemacht hat.

[7]  Siehe dazu Karin Thomas: Karl Kunz – neu entdeckt, in: Ausst.-Kat. Karl Kunz (1905-1971), hrsg. von Antje Birthälmer und Gerhard Finckh, Von der Heydt-Museum Wuppertal 2014, S. 24.

[8]  Ebd., S.25.

[9]  Brief an Menzel vom 28. Januar 1946.

[10]  Als die Ausstellung >Extreme Malerei< im April 1947 im Württembergischen Kunstverein Stuttgart gastiert, kommentiert der Kulturredakteur der Rhein-Neckar-Zeitung, Kurt Wessel, das Bild >Café Maxim< wie folgt: „Dieser Caféraum schillert in trüben Farben von gemeiner Süßlichkeit. Die Degeneration der Gesichter ist ins Laszive abgerutscht. Allein das prall bestrumpfte Bein einer Can-can-Tänzerin, aus einer Portiere schlüpfend, demonstriert den Fall der Erotik in die traurige Geilheit. Im Verfließen der Stile und Gestalten, Farben und Formen aber gerinnt die verbrämte Unnatur des bürgerlichen Zeitalters zu einem erschreckend schalen Destillat.“

[11]  Karl Kunz konnte 1948 nur das Wandbild für den Festsaal des Schlosses Halberg ausführen, allerdings nicht in Freskotechnik, sondern als zweiteiliges Gemälde auf Hartfaserplatten. Von der Universität und der Musikhochschule hat er keinen Ausführungsauftrag erhalten.

[12]  An seine Frau Ilse schreibt Karl Kunz am 10. Mai 1947: „Ich trage mich überhaupt mit allerlei künstlerischen Ideen und bin mit meinem Kopf immer voll und angenehm beschäftigt […] Meine allgemeine Stimmung wird nur dadurch beeinträchtigt, daß oft die elementarsten Dinge an der Schule nicht funktionieren.“

[13]  Da sich Karl Kunz nur für den visuellen Eindruck der Zeitungs- und Illustriertenabbildungen interessiert hat, sind genaue Datierungen nicht vorhanden.

[14]  Brief an Renate Axt, Darmstadt, 30. Oktober 1965.

[15]  1953 widmet Kunz dem Angeklagten Otto Ohlendorff ein eigenes Bild, auf dem ihn ein Schutzengel auf seinem Weg zur Hinrichtung begleitet (WV 410).

Quelle: Karl Kunz –Einzelgänger der Moderne. In: Karl Kunz Malerei 1921-1970 Saarbrücken: Verlag St. Johann 2015, S. 8-49.

2014 Ausstellung >Joseph Beuys – Zeichnungen

Einführung zur Ausstellung >Joseph Beuys – Zeichnungen/Drawings<, Staatliche Kunstsammlungen Chemnitz, 26. Juli 2014

In ihrem Katalogvorwort zu dieser Ausstellung resümiert Ingrid Mössinger noch einmal die außerordentliche Wertschätzung, die von den Chemnitzer Künstlern der Clara-Mosch-Gruppe, allen voran von Carlfriedrich Claus, bereits lange vor der Wiedervereinigung dem Œuvre von Joseph Beuys entgegengebracht worden ist.

In ihrem Rückblick erwähnt Frau Mössinger u. a. auch die 1988 in Ost-Berlin und Leipzig gastierende Ausstellung >Beuys vor Beuys<, die den Künstlern aus der DDR erstmals die Gelegenheit bot, sich mit der Sichtung früher Zeichnungen und Aquarelle ein eigenes Urteil über den Kunstbegriff des Kollegen aus Düsseldorf zu bilden. Für mich selbst ist gerade diese Ausstellung mit nachhaltigen Erinnerungen verbunden, da ich ihre deutsch-deutsche Planung und Realisation in allen Phasen miterleben durfte.

Besonders bemerkenswert und unvergessen blieb für mich als damalige Katalogredakteurin die konstruktive Partnerschaft, mit der Werner Hofmann, Direktor der Hamburger Kunsthalle, und Klaus Gallwitz, Direktor des Frankfurter Städel, gemeinsam mit ihrem Kollegen vom Ostberliner Kupferstichkabinett Werner Schade die Exponatenauswahl vornahmen und in ihren Katalogbeiträgen auf das Eingebundensein der Zeichnung in den gesamten Denk- und Gestaltungsprozess des Beuysschen Werkes hingewiesen haben.

In der Tat manifestieren sich schon in den frühen Zeichnungen und Aquarellen die Ideen und Denkformen, mit denen Beuys seine künstlerischen Räume prozesshaft erweitert hat. In ihrer kreatürlichen Existenz zwischen Geburt und Sterben werden Mensch und Tier in Analogien aufeinander bezogen. Die Wandlungen zwischen Werden und Vergehen, die Beuys aus der Natur als Bedingung von Lebensprozessen herausfiltert, übernimmt er in seinem künstlerischen Tun als Aufforderung, das Wirken von Kräften niederzuschreiben, Verbindungslinien zwischen dem Denken und den Energien der Natur zu sondieren und in eine zeichnerische Sprache zu bringen. „Meine Zeichnungen“, so äußert sich Beuys 1979 in einem Gespräch mit dem Sammler Heiner Bastian und Jeannot Simmen, „bilden für mich eine Art Reservoir, woraus ich wichtige Antriebe erhalten kann. Es findet sich also in den Zeichnungen eine Art Grundmaterial, um daraus immer wieder etwas zu nehmen.“ An anderer Stelle nennt er das Netzwerk seines zeichnerischen Œuvres seine „unglaubliche Kraftreserve“, die er mit einer Batterie vergleicht.

Anders als im traditionellen Verständnis von Zeichnung üblich, unterscheidet Beuys nicht zwischen Zeichnung und Malerei, auch nicht zwischen Skizze, Entwurf und autonomer Zeichnung. Vielmehr subsummiert er alle Arbeiten auf Papier unter seinen eigenen Begriff von Zeichnung. Bildträger sind häufig zufällig gefundene oder zur Hand genommene Papiere; dazu gehören Schreib-, Transparent- und Packpapiere, aber auch Formulare, Zeitungen, Kuverts und Briefbögen sowie allerlei Kartons, Buchseiten und Klebefilme. Zufälligkeiten ihrer Beschaffenheit – Risse, Feuchtigkeitswellen, Perforationen, Aufdrucke oder Benutzungsspuren – werden in den Vorgang des Zeichnens einbezogen. Pflanzensude und Tierblut, Kaffee und Tee, Bienenwachs und Fette, Schmutzwasser, Beizen und Bronzen treten als gleichwertige Malmaterialien neben Bleistift, Tinte, klassische Wasser- und Ölfarben. Im Collageverfahren werden unterschiedliche Papiere und Pappen sowie gepresste Pflanzen und Stoffpartikel zu bildnerischen Elementen. Auf dem hier ausgestellten Blatt von 1957/58, das den Titel >Fregattvogel< trägt, entwickelt Beuys die majestätische Seglergestalt dieser auf subtropischen Meeren beheimateten Vogelart allein aus der Faltung einer simplen Papierserviette.

Als Beuys in den Jahren 1955 bis 1957 eine Phase depressiver Erschöpfung in Folge nachwirkender Kriegsereignisse durchlebt, vollzieht sich im Prozess des Zeichnens die allmähliche Erholung. Im Rückblick auf diese Zeit bemerkt er 1980: „Ich habe langsam begonnen, während der Krise, wieder zu zeichnen. […] Ich mußte alles auf neue Begriffe bringen […] da entstehen die ersten theoretischen Strukturen zur Erweiterung des Kunstbegriffes […] heraus aus dem traditionellen Kunstbegriff und hin zu den Phänomenen des Lebens.“ Wenn Sie die Exponate dieser Ausstellung Revue passieren lassen, finden Sie Sondierungen zu allen naturwissenschaftlichen Bereichen, zu Zoologie, Botanik, Geologie, Chemie und Physik, aber auch zu Verhaltensforschung und Technik.

Im Frühwerk lässt sich ein ausgeprägtes Interesse für die Morphologie von Urlandschaften und Naturphänomenen sowie für archaische Kulturen beobachten. Elch und Hirsch, Schwan und Einhorn, Hase und Ziege – Herdentiere und Einzelgänger – verbinden sich mit mythologischen Vorstellungen und sind zusammen mit Seherinnen, Aktricen, Hirten und Tierfrauen Synonyme für im Einklang mit der Natur stehende, zugleich aber auch durch die Zivilisationsentwicklung gefährdete Lebenswelten.

Mit wenigen umrisshaften Linien, die Assoziationen an Höhlengraffiti wach rufen, konturiert Beuys bereits in den ausgehenden 1940er Jahren nomadische Frauenidole, zu denen die frühen Blätter in dieser Ausstellung, die >Bienenkönigin< von 1947 und die >Taucherin< von 1949, gehören. Aus brüchigen Bleistiftstrichen schälen sich Erscheinungsbilder heraus, die dem Flüchtigen verhaftet bleiben und dennoch starke magische Züge tragen. Im Bild dieser starken Naturfrauen metaphorisiert Beuys die Aneignung erneuernder Kräfte, die er selbst in den 1950er Jahren vollziehen musste, um aus seiner existenziellen Krise herauszufinden.

Während seiner Neuorientierung in den Jahren 1956 bis 1958 sieht sich Beuys als Wanderer auf der Suche nach einer ganz individuellen Bildsprache, die es ihm ermöglicht, die Dinge in der Benennung offen zu lassen und dabei zugleich das Unaussprechbare zu bewahren. Ein literarisches Vorbild findet er in dem Roman >Ulysses< von James Joyce. War es doch dem irischen Schriftsteller gelungen, eine bescheidene Handlung zu einem Epos von einmaliger Komplexität auszugestalten. Indem Joyce die Erzählung eines Tages aus dem Leben des Dubliner Annoncenakquisiteurs Bloom mit der Homerschen Odyssee als mythisch-poetischer Folie verquickt, erreicht der Roman eine vielschichtige Plastizität und ein bis ins Unbewusste reichendes Bezugssystem. Im Rekurs auf den geschätzten >Ulysses<entsteht 1957 das in dieser Ausstellung gezeigte aquarellierte Doppelblatt >Odyßeus<. In einem Gewirr von informellen Farbklecksen versinnbildlicht Beuys hier seine eigene Irrfahrt, die erst dadurch eine aktivierende Wendung findet, dass er aus dem linken Blatt zwei Durchbrüche ausschneidet und diese hellblau eingefärbt auf das Nachbarblatt klebt: Um zu den inneren Zusammenhängen fortzuschreiten, muss sich ein freier Durchblick öffnen.

In einer Vielzahl von Zeichnungen hat sich Beuys mit dem Schamanentum auseinandergesetzt und sein eigenes künstlerisches Schaffen in den großen Fluxusaktionen der Jahre 1964 bis 1969 mit dem Wirken des Schamanen verglichen. Die nomadischen Sujets in den Zeichnungen und das Benutzen von Zauberformeln und Beschwörungsriten in den Aktionen haben vielfach zu der irrtümlichen Einschätzung geführt, der Künstler wolle zu früheren Kulturen zurückkehren. Es ist vielmehr die Idee der Veränderung und Entwicklung, die er für sein eigenes Kunstschaffen aus den Verhaltensformen des Schamanentums entdeckt. Das Aquarell >Bohrmaschine eines Höhlenbewohners< von 1957 überträgt diese Idee in eine sprechende Symbolik: Im Vorgang des Bohrens setzt der Höhlenbewohner verborgene Kräfte aus der Natur frei und macht sie der Gesellschaft dienstbar.

Immer wieder fasziniert an den Zeichnungen der 1950er Jahre ihre in Analogien sprechende Bildlichkeit, die häufig durch den Blatt-Titel verstärkt wird und unsere rezeptive Vorstellungskraft aktiviert. So beschriftet Beuys eine Bleistiftzeichnung von 1959 mit dem Titel >Persephone<.

In der Antike galt Persephone, die Tochter von Zeus und Demeter, als symbolische Personifikation des Saatkorns, das in die Erde hinabsteigt, um zu neuem Leben zu werden. Auf einem zweirädrigen Fahrgestell gleitend, trägt diese Frau in der Beuysschen Bilderzählung das Leben in Gestalt eines Keimlings aus der unterirdischen in die oberirdische Welt, während im Bildfond ein Baum dem Absterben anheimgegeben ist.

Gegen Ende der 1950er Jahre tritt eine rotbraune Ölfarbe als zeichensetzender Farbstoff auf und wird in den Titeln vieler Blätter als „Braunkreuz“ benannt. Wie wir an einer Anzahl von Zeichnungen in dieser Ausstellung ablesen können, gibt es Vorstufen, bis dann Farbton und Farbmaterie ihre signifikante stumpfe Dichte im opaken Auftrag erhalten.

Beuys selbst bezeichnet das Braunkreuz, das wir auch auf vielen Exponaten dieser Ausstellung antreffen, als „Erde, gestaute Urfarbe Rot, als erdige Wärme. Durch die Stauung werden die Lichtfarben als Gegenbilder geradezu herausgetrieben.“ Von den primären Gegebenheiten der organischen und anorganischen Natur ausgehend, sieht Beuys alles Seiende einbezogen in ein Kraftfeld zwischen den beiden Polen des Chaotisch-Amorphen und des Definiert-Geformten, zwischen Wärme und Kälte. Auf den Menschen bezogen deutet er das Chaotische als die Seite des Instinktiv-Willensmäßigen, dem als Formprinzip der Intellekt gegenübersteht. In der Mitte des Braunkreuzes – hier nicht als Farbe, sondern als Zeichen verwendet – liegt der ideale Treffpunkt zwischen diesen beiden Polen. Welch zentralen Stellenwert das Braunkreuz einnimmt, lässt sich auf einem Blatt aus dem Jahr 1973 ablesen, das Beuys mit >Hirte (Selbstbildnis)< beschriftet hat. Der in der Mitte des Blattes zentrierte Kopf wird von der sich über die gesamte Papierfläche ausdehnenden Braunkreuzfarbe umschlossen. Hier bezieht Beuys das Braunkreuz direkt auf sich selbst und seinen erweiterten Kunstbegriff und symbolisiert in der geradezu skulptural anmutenden Farbdichte die Akkumulation seiner Denkformen.

Wenn seit den 1960er Jahren die funktionalisierte Technik mit ihrem Gefahrenpotenzial in die Zeichnung eintritt und sich mit den magischen Bildern des Frühwerks verschränkt, so ist die Intention des Künstlers darauf gerichtet, dem in der modernen Zivilisation von sich selbst und seiner Umwelt entfremdeten Menschen die humane Ganzheit als anzustrebende Utopie wieder nahe zu bringen.

In den EURASIA-Aktionen von 1966 wird das Braunkreuz zum Zeichen für die Aufhebung der Völkerspaltung auf dem europäischen Kontinent. Den seinerzeit noch virulenten Kalten Krieg sieht Beuys als Folge eines „langen Auseinanderdividierens der Völker“ – ein Prozess, der für ihn „in der Teilung des Römischen Reiches seinen Anfang nahm und angehalten bzw. umgepolt werden muss“, um sich wieder in umgekehrter Richtung zur Ganzheit hinbewegen zu können. An der eurasischen Völkerkonfrontation zwischen dem materialistisch-zweckorientierten Westmenschen und dem in lebensphilosophischen Dimensionen denkenden Ostmenschen verdeutlicht Beuys nicht ohne provokativen Impetus die Krise der modernen Zivilisation und sieht deren Überwindung dann auch ganz konkret in politischer Praxis. Als Redner, Diskussionspartner, Fragesteller und Aktivist äußert sich Beuys in den 1970er Jahren zunehmend zu sozialen, politischen und ökologischen Fragen und erklärt seinen anthropologisch erweiterten Kunstbegriff nun in Zeichnungen, die mit Schrift versehen als Partituren und Diagramme angelegt sind. In Anlehnung an die Lehren Rudolf Steiners entwirft er das visionäre Bild einer Gesellschaft, die jenseits von ideologischen Vorgaben durch die Kunst harmonisiert wird und jedem Bürger die Teilnahme an politischen Prozessen zuspricht.

In der Arbeit >words which can hear< von 1982, deren 21 Blätter einen englischen Kalender als Trägermaterial besitzen, erhalten die Bewegungsverläufe der Beuysschen Denkformen eine faszinierende Anschaulichkeit. Alle Blätter zeigen Spiralwirbel, die in Gestalt von Einzelformationen, Teilungen und Überschneidungen variiert sind. Ihre Richtung folgt nicht der Kalenderblatt-Chronologie, sondern demonstriert eine Entwicklung in Sprüngen. Mit dem Spiralwirbelornament greift Beuys ein Zeichen wieder auf, das er schon in seinem Frühwerk für den keltisch-irischen Kontext benutzt hat. Er verwendet es jetzt als abstraktes Signum für die in Sprüngen ablaufenden Bewegungsprozesse des evolutionären Denkens.

Eines der späten Blätter dieser Ausstellung zeigt eingebettet in einen Blut getränkten Bildfond eine dunkle Gestalt, deren Gesicht in ihrem Ausdruck von Schmerz an die eiserne Kopfplastik der >Straßenbahnhaltestelle/Tram Stop< erinnert. Diese große Installation, die Beuys für die 37. Biennale Venedig 1976 konzipierte, bestand u. a. aus einem senkrecht aufragenden Kanonenrohr, dessen Mündung mit einem von Leiderfahrung gezeichneten Kopf versehen war. Mit dem Eisenrohr bezog sich Beuys – wie auch mit den übrigen Bestandteilen der Installation – auf ein im 17. Jahrhundert in seiner Heimatstadt Kleve errichtetes Monument, das nicht der Heldenverehrung diente, sondern – vergleichbar dem >Gestürzten< von L ehmbruck als Friedensappell zu verstehen war. Schmerz und Leiden, Sterben und Tod sind für Beuys kathartische Erfahrungszustände, die der Mensch „erproben“ muss, um in einer transzendenten Dimension, die er den Christus-Impuls nennt, Heilung zu erfahren. Leiden, Schmerz und Tod sind für ihn Durchgangsstadien auf dem Weg zur Annäherung an die „spirituelle Substanz“.

Fünf kleine Arbeiten von 1971 mit Herz-Jesu-Motivbildern, die Beuys einem Bettler in Neapel abkaufte, mögen Sie auf den ersten Blick verwundern. Über die Worte „Sacro Cuore di Gesù“ hat Beuys seinen Namen geschrieben, über den Kopf Christi notiert er u. a. >Der Erfinder der Elektrizität<, >Der Erfinder der Dampfmaschine>, >Der Erfinder des 3. thermodynamischen Hauptsatzes<. Mit analogisch gebrauchten Begriffen aus der Physik tituliert Beuys Christus hier als Kräftespender und Energiespeicher, als Entzünder und Motor. Was Beuys unter dem Christus-Impuls versteht, konkretisiert sich in der Intention, zwischenmenschliche Wärme zu erzeugen, Isolation zu durchbrechen und „ein Gestalter, ein Former am sozialen Organismus“ zu werden.

Als Künder einer besseren sozialen Gemeinschaft traf Beuys in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit nicht zuletzt auch durch seine Mitwirkung an den Parteiaktivitäten der GRÜNEN zunehmend auf Skepsis. In der DDR wurden ihm dagegen in den 1980er Jahren über seinen Tod im Januar 1986 hinaus besonders von jungen Künstlern große Sympathien entgegengebracht. Was die Zeichnung betraf, so hatten ostdeutsche Einzelgänger wie Carlfriedrich Claus und Gerhard Altenbourg mit den feinnervigen Strichlagen ihres Zeichenstiftes den Resonanzboden für eine sensible Rezeption des Beuysschen Œuvres bereitet. Auf inhaltliche Berührungen zwischen Beuys und Claus durch deren intensive Beschäftigung mit Philosophie und Anthroposophie hat Frau Mössinger in ihrem Katalogvorwort hingewiesen. 1997 machte Eugen Blume unter der Überschrift „Aus der Obhut des Unfassbaren heraus“ auf bemerkenswerte Parallelen zwischen Beuys und Altenbourg aufmerksam, die beide – freilich unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen – versuchten, die eigene Existenz als „revolutionäre Biographie, das heißt als Werk zu leben“.

Im Selbstverständnis von Beuys bildeten sein Leben und sein Werk eine Symbiose, und die Gesellschaft verstand er ausgehend von seinem erweiterten Kunstbegriff als „Soziale Plastik“, die nach der aktiven Gestaltung durch jede einzelne Person verlangt.

Im zeichnerischen Œuvre  ist der gesamte gestalterische Reichtum in nuce angelegt, den Beuys in seinen Skulpturen, Aktionen, Installationen und bildungspolitischen Auftritten entfaltet hat.

Substanz und Komplexität der Beuysschen Zeichnungen lassen sich hier nur in fragmentarischer Kürze beleuchten. Betrachten Sie daher bitte meine Bemerkungen zu einigen ausgewählten Blättern als Aufmunterung, sich selbst in die vielseitige Darstellung und Materialwirkung der Exponate hineinzulesen.

Das zeichnerische Werkkonvolut aus der Sammlung Céline, Aeneas und Heiner Bastian ist von außerordentlicher Qualität und bietet Einblicke in alle Schaffensphasen des Künstlers. Ihr bemerkenswertes Profil entstand aus der unmittelbaren Nähe, mit der die Sammler das Wirken und die musealen Werkpräsentationen von Beuys über Jahre hinweg begleitet haben.

© Karin Thomas

2014 Karl Kunz – neu entdeckt

Karin Thomas

Karl Kunz – neu entdeckt

1996, ein Vierteljahrhundert nach dem Tod von Karl Kunz, ist das Werkverzeichnis seiner Gemälde und Skulpturen erschienen. Von den rund 600 darin erfassten Werknummern befand sich eine große Anzahl im Nachlass des Augsburger Künstlers. Karl Kunz hatte zu seinen Lebzeiten nur wenige Arbeiten an Museen und private Sammler veräußern können. So beginnt der Kunsthistoriker und langjährige Freund des Malers J. A. Schmoll gen. Eisenwerth seine Einführung in das Werkverzeichnis mit der Bemerkung: „Der Maler und Zeichner Karl Kunz gehört zu den Dreiviertel-Vergessenen, denn nur eine Schar von Kennern, ehemaligen Schülern und Freunden seiner Kunst weiß bei der Nennung seines Namens sogleich, daß es sich um einen ungewöhnlichen Vertreter des deutschen Surrealismus handelt.“[1] An dieser Sachlage hat sich bis heute nur wenig geändert, aber wir können inzwischen einige Gründe benennen, weshalb ein so begabter Künstler wie der 1905 geborene Karl Kunz kaum angemessene Beachtung gefunden hat.

1933 als „entartet“ diffamiert und mit Malverbot belegt, gehörte Kunz im frühen Nachkriegsdeutschland zu jenen Künstlern, deren Werke die Allgemeine Deutsche Kunstausstellung in der Stadthalle von Dresden 1946 erstmals wieder zusammenführte. Mit dem Bekenntnis zur Moderne in ihrer ganzen stilistischen Breite sollte diese von der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland angestoßene Initiative ein deutliches Zeichen der Rehabilitierung und des Neubeginns setzen. Der renommierte Kunsthistoriker und Kenner der Vorkriegsmoderne, Will Grohmann, war über die sowjetische Besatzungszone hinaus auch in die französische und amerikanische Zone ausgesandt worden, um ihm bekannte Künstler für die Bereitstellung von Exponaten zu gewinnen. Da Karl Kunz mit dem im Februar 1945 entstandenen Gemälde >Die Insel< an der Dresdner Ausstellung teilnahm, ist anzunehmen, dass Grohmann den während des Krieges in seiner Heimatstadt Augsburg lebenden Kunz aus dessen früher Schaffensphase zwischen 1930 und 1933 an der Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle (Saale) namentlich kannte und als Vertreter der Moderne einzuschätzen wusste. Das Motiv des Gemäldes >Die Insel< ist eine meditativ-ekstatische Traumszenerie. In ihr entrückt der Maler ein dem Liebesakt sich hingebendes Paar aus der von Kriegsgrauen und Zerstörung gezeichneten Wirklichkeit seines eigenen Daseins in ein imaginiertes Arkadien, das die beiden in Götter des Glücks verwandelt. Die unscheinbar am unteren Bildrand positionierte winzige Insel, die nichtsdestotrotz dem Bild den Titel gab, wird zur Metapher für diese Metamorphose, aus der sich deutliche Anklänge an die protosurrealistischen Vogelbilder von Max Ernst aus den 1920er Jahren herauslesen lassen. Im poetischen Vogelwesen Loplop verrätselte Max Ernst sein Alter Ego und verbildlichte in seinen vermenschlichten Figurationen den Übergang aus der Realität in die surrealen Bildwelten der Vision.

Wie intensiv und genau Kunz das Œuvre von Max Ernst rezipierte, offenbart die im Januar 1943 entstandene >Pomona<. Weckt doch das Gemälde, das die Göttin Pomona mit einem Fruchtkorb in ihrem Schoß zeigt, Assoziationen an das als „entartete Kunst“ verfemte Bild von Max Ernst >Die schöne Gärtnerin<. [Abb. 1]   Es ist anzunehmen, dass Karl Kunz auf diese lyrische Huldigung an die Erotik der Frau, die Max Ernst 1923 gemalt hatte, 1937 anlässlich seines Besuchs der Münchner Ausstellung >Entartete Kunst< aufmerksam wurde. Bewusst nutzte er diese letzte im Dritten Reich verbliebene Möglichkeit, moderne Kunst öffentlich sehen zu können. Sich selbst betrachtete Karl Kunz als „Glied der großen Bewegung und verlor“, wie sein Sohn Wolfgang berichtet, „trotz Abgeschlossenheit nie das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der modernen Malerei“.[2] [Abb. 2]

Frühe Rezeption der Moderne

Den Zugang zur Moderne findet Karl Kunz schon vor dem eigentlichen Beginn seiner künstlerischen Laufbahn 1921 in München, wo er  – sechzehnjährig – nach nicht bestandener Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie als gelegentlicher Gast die private Hans-Hofmann-Kunstschule besucht. Hans Hofmann hatte sich während eines längeren Studienaufenthaltes in Paris von 1904 bis 1914 ausgiebig mit der frühen Avantgardebewegung der Franzosen vertraut machen können. Obwohl kein Werkdokument von Kunz aus den Münchner Jahren existiert, ist die Vermutung naheliegend, dass die Auseinandersetzung des angehenden Künstlers mit der Moderne von Hans Hofmann initiiert worden ist.[3]

1927 geht Kunz nach Berlin, wo er in den beiden darauffolgenden Jahren an der Einrichtung der von dem Maler Hermann Sandkuhl organisierten >Juryfreien Kunstschauen< im Lehrter Bahnhof mitwirkt. Er selbst beteiligt sich 1928 mit sieben, 1929 mit fünf Bildern an diesen Ausstellungsmöglichkeiten und erhält durch die Zusammenarbeit mit Sandkuhl differenzierte Einblicke in die avantgardistische deutsche Kunstszene dieser Zeit, in der expressionistische, funktionalistisch-abstrakte, neusachliche und surrealistische Tendenzen gleichwertig nebeneinander anzutreffen sind. So verzeichnen die Kataloge für die >Juryfreie Kunstschau< der Jahre 1928 und 1929 unter den renommierten Teilnehmern auch Kandinsky, Klee und Jawlensky, Schlemmer, Itten und Moholy-Nagy, Heartfield, Grosz und Max Ernst. Reproduktionen von den Bildern, die Karl Kunz ausgestellt hat, sind in den Katalogen nicht enthalten. Das Kunzsche Werkverzeichnis von 1996 führt jedoch unter den Nummern 3 und 4 zwei Stillleben von 1929 auf, deren Motivik – Masken mit Vase und Gitarre – vermuten lässt, dass Kunz in seiner frühen Berliner Arbeitsphase eine dem Cèzannismus zuneigende Bildsprache pflegte. Wie die meisten Vorkriegswerke von Kunz sind diese Stillleben im Februar 1944 bei einem Bombenangriff auf Augsburg zerstört worden. [Abb. 3]

Durch Sandkuhl wird Erwin Hahs (auch als Hass zitiert), Leiter der Malklasse an der Werkstätten-Kunstschule Burg Giebichenstein in Halle, auf das Jungtalent aufmerksam. Hahs selbst war Schüler von César Klein, der 1918 zu den Initiatoren der Novembergruppe als Zusammenschluss oppositioneller, revolutionär gesinnter Künstler aller Disziplinen gehörte. Ähnliche Zielsetzungen verfolgte auch die mit der Burg Giebichenstein verbundene >Hallische Künstlergruppe<. Im Geist der Novembergruppe bemüht sich Hahs in Halle um eine Erneuerung der Wandmalerei und macht in diesem Fach Kunz zu seinem Meisterschüler und pädagogischen Assistenten. Neben dem Bauhaus gehört Giebichenstein seinerzeit zu den fortschrittlichsten Ausbildungseinrichtungen für angehende Künstler, während sich gleichzeitig das Hallesche Museum in der Moritzburg unter dem Direktorat von Max Sauerlandt und Alois Schardt zu einem wichtigen Zentrum moderner Kunstpräsentation in Deutschland entwickelt. Hahs bietet seinen Schülern neben intensivem Gedankenaustausch – unter anderem auch mit profilierten Kunsthistorikern der Universität wie Kurt Gerstenberg – vor allem einen großen Freiraum zur individuellen Selbstfindung. In Halle setzt Kunz zunächst seine in Berlin begonnene Stillleben-Malerei fort und orientiert sich wie sein Lehrer Hahs stilistisch an der französischen Moderne.[4] Mit der Ausstellung >Hass und sein Kreis<, die zum Jahresanfang 1931 im Halleschen Stadthaus stattfindet, sorgt die an der Burg Giebichenstein gepflegte Malerei über die Stadtgrenzen hinaus für Aufsehen.[5] Der in Dresden ansässige Kunsthistoriker Fritz Löffler wird noch 1949 das fortschrittliche Wirken der „Burg-Maler“ in den frühen 1930er Jahren besonders würdigen und dabei den „formverfestigenden Einfluss“ betonen, der von Erwin Hahs auf seine Schüler ausgestrahlt hat.[6]

Neben gegenständlichen Bildern, in denen Kunz bereits das Repertoire jener Requisiten versammelt, die in Gestalt von Torsi, antiken Spolien, Kleiderpuppen, engen Raumsegmenten, Vorhängen und ornamentalen Dekorationen auch später in seinen Werken auftauchen werden, beginnt der Künstler in der Holzwerkstatt der „Burg“ mit der Anfertigung von Holzplastiken und Holzreliefs, die er später zum Teil auch farbig lackiert. In großer Nähe zu zeitgleich angefertigten Arbeiten von Hans Arp stehend, sind diese Holzplastiken gegenstandsunabhängig, erinnern aber in ihrer offenen biomorphen Form an organische und unorganische Verdichtungen, an stark stilisierte Köpfe und natürliche Wachstumsvorgänge. [Abb. 4] Ob Karl Kunz direkte Berührung mit dem Schaffen von Hans Arp gefunden hat, ist nicht zu verifizieren. Doch im Berlin der 1920er Jahre war Arp eine bekannte und geschätzte Künstlerpersönlichkeit, in der die Novembergruppe einen ihrer wichtigen Wegbereiter sah. Als Mitbegründer der Zürcher und Kölner Dada-Bewegung hatte Arp gegen die konventionellen Disziplinierungen der Kunst rebelliert und mit der Collagetechnik sowie der Nutzung zufällig gefundener Materialien neue Ausdrucksformen aufgewiesen, die Hahs seinerseits in das Hallesche Ausbildungsprogramm integriert haben mag. In seiner Malerei pflegt Hahs einen synthetisierenden Stil, der zunächst von expressionistischen Farblyrismen geprägt ist, seit den frühen 1920er Jahren jedoch kubistische Einflüsse aufgreift. Ein Gemälde wie >Akt< von 1923 zeigt den für den Kubismus signifikanten Aufbau der Figuration aus geometrisierenden Volumina. [Abb. 5] Es ist aber auch eine naheliegende Vermutung, dass Kunz in seinen Holzplastiken Augsburger Kindheitseindrücke aus der elterlichen Möbelschreinerei verarbeitet und zugleich auch Anregungen aus der abstrakten Malerei aufgreift, die er ganz konkret im Schaffen von Fritz Winter beobachten kann. Denn über die Vermittlung von Hahs macht Kunz 1931 die Bekanntschaft des gleichaltrigen Fritz Winter, der nach seinem Studium am Bauhaus für kurze Zeit als Zeichenlehrer an der Pädagogischen Akademie in Halle tätig ist. Mit ihm und dem ebenfalls bei Hahs studierenden Heinz Menzel entwickelt sich eine über die Hallesche Schaffenszeit hinausgehende Freundschaft.  Die Phase, in der Kunz neben seiner  gegenständlichen Malerei eine abstrakte Formensprache im skulpturalen Umfeld betreibt, dauert bis Ende 1933.

Innere Emigration in Augsburg

Um 1932 hat Kunz ernsthafte Auseinandersetzungen über Kunstrichtungen mit Gerhard Marcks, dem Direktor von Burg Giebichenstein, die ihn dazu veranlassen, sich aus der Werkstattarbeit zurückzuziehen, aber der Malklasse Hahs verbunden zu bleiben. Als Künstler macht er sich mit eigenem Atelier selbstständig und heiratet im Oktober 1932 die Universitätsassistentin Ilse Lack. Als Karl und Ilse Kunz nach dem Reichstagsbrand 1933 dem bisherigen Dienstherrn von Ilse, dem jüdischen Soziologieprofessor Friedrich Hertz und dessen Familie zur Flucht nach England verhelfen, wird Karl Kunz von der Reichskulturkammer als entarteter Künstler eingestuft und mit Malverbot belegt. Wegen „Judenbegünstigung“ gerät das Ehepaar in Gestapo-Haft, kommt aber nach zwei Monaten auf Fürsprache seiner  Vermieter wieder frei und kann Halle verlassen. Karl und Ilse Kunz planen zunächst auf den Monte Verità zu ziehen, wo ihnen der Wuppertaler Bankier und Kunstsammler Eduard von der Heydt ein Häuschen im Weinberg als Wohnsitz angeboten hat. Den Berg erwarb von der Heydt 1926 auf Empfehlung der russischen Malerin Marianne von Werefkin und machte ihn zu einem Treffpunkt namhafter Besucher aus Kunst, Politik und Gesellschaft. Doch die Umstände zwingen Karl Kunz, den elterlichen Holzhandel in Augsburg zu übernehmen, da sein kranker Vater entlastet werden muss. Aus seiner Heimatstadt schreibt er am 13. Juni 1935 an den befreundeten Maler Heinz Menzel: „Mit dem Malen geht es langsam vorwärts. […] Ich musste mich wieder einmal einer gründlichen Wandlung unterwerfen und mich sehr entschieden zum Gegenstand bekennen. Das ging nicht ohne einige Erschütterungen ab. Mir scheint, daß der Boden für die abstrakte Malerei in Deutschland nun völlig entzogen ist.“[7]

Mit Scharfblick für den Entwicklungsweg der Moderne konstatiert Kunz in seinen weiteren Bemerkungen gegenüber dem Freund den Abbruch einer linearen Avantgardebewegung im Angesicht der unvorstellbaren Gräuel, die der Erste Weltkrieg in ganz Europa verursacht hatte. Sehr genau diagnostiziert er den Rückzug Carràs aus den künstlerischen und gesellschaftlichen Fortschrittsutopien des Futurismus „in eine private Malerei“ und Picassos Abkehr vom Kubismus, die „in den Surrealismus mündete“.[8] Seine eigene Rückkehr zur Gegenständlichkeit sieht er nicht als Einschränkung, sondern als – man möchte bereits sagen – >postmoderne< Erprobung von mehreren Möglichkeiten. So praktiziert er nun eine figurative Malerei, in der sich Eigentümlichkeiten der Neuen Sachlichkeit, des Art Déco, der Pittura metafisica und des Surrealismus zu einer individuellen Bildsprache vermengen und die gegenständlichen Requisiten eine leicht abstrahierende Vereinfachung erfahren.

Häufig auftretende Motive sind Jahrmarktszenen und Maskenzüge mit Harlekinen, Akrobaten und Tanzenden, die sowohl den Figurenmodulationen Karl Hofers wie auch den halbkonstruktivistischen Sportbildern von Willi Baumeister nahestehen und eine vieltonige Farbpalette ausschöpfen. [Abb.6] Wie Baumeister oder dessen Freunde Fernand Léger und Oskar Schlemmer verrätselt auch Karl Kunz in den Artisten und Sportlern seine malerische Suche nach einem Menschenbild, das sich mit sinnlicher Dynamik der allenthalben um sich greifenden Ideologisierung und Vermassung der Gesellschaft entgegenstellt. Seit der blauen Periode Picassos ist die Figur des Harlekins ein stets wiederkehrender Motivtopos der Moderne geworden, in dem sich sowohl das avantgardistische freie Künstlertum wie auch die Vision einer humaneren Zukunft der Gesellschaft allegorisiert. Im Blick auf seine eigene Situation, die ihm seit 1933 eine Künstlerexistenz im Abseits auferlegt, verbildlichen die Commedia-dell’arte-Protagonisten für Kunz sein künstlerisches Selbstverständnis und sind zugleich demonstrativer Gegenentwurf zu dem mit süßlicher Allegorik und trivialem Pathos gezeichneten Menschenbild, das die vom Nationalsozialismus propagierte konservative Genremalerei produziert.

Aus den biografischen Notizen des Sohnes Wolfgang geht hervor, dass für Karl Kunz „die schlechten Zeiten“ der inneren Emigration in Augsburg „auch gute Zeiten“ sind. Ilse Kunz hat das Glück, für ihre Dissertation mit dem Thema >Das deutsch-amerikanische Verhältnis zwischen 1894 und 1914< aus Amerika einen Preis zu erhalten. Von der Prämie erwirbt das Ehepaar ein Waldgrundstück bei Augsburg, das zum Paradies eines stillen Familienglücks avanciert. „Es wird gepflanzt und gebaut“, wie sich Wolfgang Kunz erinnert: „Ein Holzhaus entsteht, die Freunde aus Halle kommen zu Besuch. Hier kann man auch eines der gegenstandslosen Reliefs aufhängen, ohne verpfiffen zu werden. […] Kunz malt und entwickelt sich im Stillen.“[9] Atelier- und Familienszenen vollziehen sich in einem von der Außenwelt abgeschirmten Interieur und Bilder wie >Am südlichen Strand< und >Sommertag< entwerfen noch 1939 ein bukolisches Arkadien, in dem sich Anklänge an Poussin und Manets >Frühstück im Grünen< wiederfinden, ohne dass dieser übernommene Motivfundus die Eigenständigkeit der Kompositionen beeinträchtigt. [Abb. 7]

Diese von der verdunkelten Nazizeit abgeschirmte Idylle, die dennoch ständigen Bedrohungen ausgesetzt ist, hinterfängt auch das Gemälde >Die Schwebenden< von 1934, das als eines der wenigen Bilder der Vernichtung durch den Bombenangriff auf Augsburg 1944 entgangen ist. In Stil und Thematik ein Schlüsselbild, knüpft es an die Halleschen Holzplastiken an und bringt deren abstrakt-biomorphe Formen in eine von Max Ernst inspirierte surrealistische Komposition ein. Die silhouettenhaft reduzierten Körper eines eng miteinander verschlungenen Paares schweben über einer tiefgelegten antiken Landschaft, aus deren roter Erde am unteren rechten Bildrand ein winziger Tempel aufragt. Die raumgreifende Darstellung des schwebenden Paares vor blauem Himmel suggeriert den Traum einer Loslösung und des Entschwebens in ein sur-reales Dasein. Im Februar 1945 wird Kunz in den bittersten Kriegsmonaten diese Vision auf dem bereits erwähnten Gemälde >Die Insel< wiederholen. Auch hier entfernt sich das Liebespaar im unendlichen Azur des Himmels in ein imaginiertes Jenseits der Realität. Doch collageartig implantiert der Maler am oberen Bildrand eine Hand, deren ausgestreckter Zeigefinger eine Fortbewegung des Entschwebens verweigert. Ironisch verdinglicht Kunz in diesem fremdartig wirkenden Requisit die illusionäre Dimension des Wunsches nach Entgrenzung.

Ein collageartiges Implantat findet sich auch in der rechten Bildmitte der >Schwebenden<. Das biomorphe Gebilde rekapituliert das Arpsche Formenrepertoire und wird zugleich in die metamorphotischen Assoziationsströme eingeleitet, die signifikant für Max Ernsts Vogelbilder der ausgehenden 1920er Jahre sind. [Abb. 8]  Im Dialog mit dem Liebespaar lesen wir das Arp-Zitat als ein Vogelwesen, das unter seinen Fittichen ein Junges schützt. Als autobiografische Identifikationsfigur verschlüsselt das Vogelphantom das Über-Ich des Künstlers, in dem sich das kreative Inspirationspotenzial versammelt. 1948 wird Kunz das Vogelmotiv in dem Gemälde >Liebespaar< erneut als gerahmtes Bild im Bild zitieren. Refugien des Rückzugs werden für Kunz mit der surrealistischen Bildsprache auch Mythologie und Erotik, die er in seine  aus Holzkästen gebauten Kulissen hineinholt. >Tanzende Gruppe< vom April 1942 (siehe Abb. 2) weckt Assoziationen an die Grazien, und >Pomona< ist – wie auch >Die Insel< und >Die Schwebenden< – eine Huldigung an die Liebe. Denn hinter der mit Früchtekorb inmitten eines hölzernen Rahmens posierenden römischen Göttin der Baumfrüchte verbirgt sich nur als Schattenriss sichtbar ihr Gatte Vertumnus, der in verschiedenen Gestalten im Rhythmus der Jahreszeiten immer wieder neu um sie warb.

Als der Krieg mit seiner brutalen Zerstörungswucht auch Augsburg erreicht, muss Karl Kunz, der wegen eines Herzleidens nicht zum Fronteinsatz sondern zum Heimatschutzdienst abgeordnet wird, die Toten aus den zerbombten Luftschutzkellern bergen. Gezeichnet von den schrecklichen Erlebnissen nach den Bombenangriffen weichen die Bilder der privaten Idylle zunehmend dem Kriegseinbruch in die persönliche Lebenswelt. Im Januar 1942 entsteht >Der Schiffbrüchige<, wobei die Einfügung einer gefundenen Figur dem Bild den Titel gibt und als „Assoziationssymbol“ für den „allgemeinen Schiffbruch der europäischen Kultur“ in Erscheinung tritt.[10] [Abb. 9] Als Fundstück entnimmt Kunz diese Gestalt der Fotografie einer an den Nordseestrand gespülten hölzernen Galionsfigur von einem um die Mitte des 19. Jahrhunderts gesunkenen englischen Segelschiff. Deutlich hebt sich der mit altmodischem Bratenrock bekleidete Mann von den ornamental abstrahierten Requisiten ab, die kulissenhaft eine Bühne bilden.

Annäherung an Picasso

Zu Symbolen einer trauernden Solidarisierung mit den Opfern der deutschen Kriegsaggression verdichten sich die Zitate, die Karl Kunz ab 1942 aus Picassos >Guernica< in mehrere seiner Gemälde hineinholt. Im Anschluss an die Erstausstellung im spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung muss Karl  Kunz Reproduktionen des Wandbildes gesehen haben. Denn 1937 druckte die nationalsozialistische Presse Abbildungen des Gemäldes, um es als „entartet“ zu verpönen und lächerlich zu machen.[11] Einem Brief vom 25. Mai 1942 an Menzel ist auch zu entnehmen, dass Kunz in München Zugang zu einer inoffiziellen Buchhandlung unmittelbar neben dem Haus der deutschen Kunst fand, wo man ihm „ganze Stöße u. Reproduktionen abstrakter Malereien vorgesetzt“ hat. Unter den Trouvaillen, die er hier erwarb, gab es auch eine Mappe mit Abbildungen von Picasso-Werken. Kunz zählt zu den wenigen Künstlern in Deutschland, die von >Guernica<  tief berührt worden sind und sich in ihrem eigenen ästhetischen Widerstand zu einem Zeitpunkt von Picasso inspirieren lassen, als dies bei Entdeckung Gestapo-Haft zur  Folge gehabt hätte. So sind Stil und Kompositionsgefüge des Gemäldes >Krieg< (1942) unverkennbar von der Sprachform des surrealistischen Kubismus beeinflusst, die Picasso in >Guernica< als subversive Energie einsetzt. [Abb. 10] In diesem Sinne erhalten auch zitatnahe Figuren, die wie das Pferd und der Frauenkopf bei Kunz auftauchen, symbolischen Verweischarakter. Wie unmittelbar Kunz thematisch und stilistisch in >Krieg< Bezug auf Picasso nimmt, bekundet eine Briefstelle vom 2. August 1942 an Menzel: „Ich weiß natürlich, in was für eine gefährliche Konkurrenz ich mich begebe. Aber so Gott will, wird es ein kunzischer Krieg.“ Interessanterweise überführt Kunz am rechten Bildrand ein frühes Hallesches Motiv – ein Tisch mit Frauentorso und Puppenbalg [Abb. 11]  – in die Komposition, so als wolle er ein dem Kubismus nahestehendes Sujet seiner Bildwelt ganz bewusst mit dem Zitieren Picassos verbinden. Die von >Guernica< entlehnte Sprachform, die Kunz in >Krieg<, >Deutschland erwache!< (1942) und >Stürzende< (1944) anwendet, machen diese Gemälde zu Bekenntnisbildern, die mit ihren Deformationen und Auslöschungen eine völlig aus den Fugen geratene Welt allegorisieren, aber auch eine tiefe Empathie mit den Opfern von Aggression und Zerstörung bekunden. So liest sich die Vorzeichnung zu einer ersten Fassung der >Stürzenden< von 1943 im Übereinanderfallen der verwundeten und sterbenden Körper wie eine Vorausschau auf das erschütternde Bild >Das Leichenhaus<, das Picasso 1945 malt, als erste Dokumentationsfotos aus dem Konzentrationslager Dachau der Welt die nationalsozialistischen Verbrechen vor Augen führen. [Abb. 12 und Abb. 13]

Um die Jahreswende 1944/45 erhält das Kreuzigungsmotiv, in dem sich Schuld und Erlösung symbolhaft vereinen, einen herausgehobenen Stellenwert, der in der Folgezeit vielfach in Erscheinung tritt. Auf dem Gemälde >Der Engel< (Januar 1945) bildet die Körperhaltung des Mannes in der Bildmitte eine Kreuzform. In ihr verbindet sich die diffuse Anhäufung menschlicher Körper und Gliedmaßen im linken unteren Bildteil mit dem picassoesken Frauenkopf, der wie ein Frieden und Erlösung bringender Lichtträger von oben in die Szenerie einschwebt.

Nach der langen Trennung von den Entwicklungen der internationalen Avantgarde herrscht 1945 in ganz Deutschland bei Künstlern und Kunstkritikern eine diffuse Vorstellung von der Kunst Picassos. Unmittelbare malerische Reflexe auf >Guernica< finden sich außer in den Gemälden von Karl Kunz nur noch in der >Nacht über Deutschland< (1945/46) von Horst Strempel, der 1945 in die SBZ zurückgekehrt ist und in diesem großen Triptychon seine eigenen Erfahrungen aus den Internierungslagern Frankreichs mit ersten Berichten aus den Konzentrationslagern verbindet. Dass diese Bilder aus Ost- und Westdeutschland mit ihrem Gestus der Trauer, der Anklage und des Protestes gegen den faschistischen Terror unter dem Eindruck von >Guernica< entstanden sind, hat erstmals Angela Schneider 1997 in ihrem bemerkenswerten Essay für den Katalog der Berliner Ausstellung >Deutschlandbilder< untersucht. Konkret bezieht sie sich auf das Kunzsche Gemälde >Im Keller< (1945), das von ihr unter dem auch in anderen Publikationen und Katalogen verwendeten Titel >Bombennacht< zitiert und reproduziert wird: Das „Gemälde zeigt einen labilen, vom Einsturz bedrohten Innenraum mit einer dunklen Tür, vermutlich einen Keller, auch seine Figuren erscheinen durch den abrupten Lichteinfall wie zerstückelt. >Guernica< wird hier – bei aller Unterschiedlichkeit – zum Paten deutschen Bombenelends erhoben.“[12] Mit dem wachsenden Abstand zum Krieg schwindet das Vorbild >Guernica< in Deutschland. Statt dessen wird der Name Picasso mit künstlerischer Freiheit schlechthin und einer vagen Vorstellung von abstrakter moderner Kunst verbunden.

Surrealistische Rhetorik zwischen Figuration und Abstraktion

Schon bald nach Kriegsende sondiert Karl Kunz, wie er im Januar 1946 dem Freund Menzel schreibt, „neue Wege und Ziele“ für seine wiedergewonnene Freiheit. Er begibt sich auf die Suche nach gleichgesinnten Kollegen und knüpft Kontakte zu Kunstvermittlern. In dem Gemälde >Ganymed< vom April 1946 greift er die biomorph-abstrakte Formensprache der Halleschen Zeit und die Emblematik des Vogelmenschen wieder auf, um aus archaischen Mythen allgemeingültige Erfahrungen zu schöpfen. Das Sujet, wonach Zeus in Gestalt eines Adlers den Sohn aus trojanischem Königsgeschlecht Ganymed in das Götterpantheon entführt, nutzt er als Allegorie für eigene Erwartungen, einen neuen künstlerischen Aufbruch zu erleben. Mit Elan engagiert er sich im wieder erwachenden Kunstbetrieb, der in Augsburg besonders rührig ist. Schon im Dezember 1945 findet hier im Schaezlerpalais die Ausstellung >Maler der Gegenwart< statt, an der Kunz ebenso aktiv beteiligt ist wie an der Ausstellung des folgenden Jahres >Augsburger Maler<. Im März 1946 resümiert der Münchner Kunstkritiker Franz Roh im Bayerischen Rundfunk: „Was moderne Ausstellungen anlangt, so ist Augsburg unserer Stadt augenblicklich fast voraus.“[13] An Karl Kunz schreibt er die enthusiastischen Zeilen: „Lieber Kunz, ich muß irgendwas loswerden, um Ihnen zu sagen, wie tief Sie mich erfreuten mit Ihren Bildern. […] Ich war eine ganze Nacht wie behext von der gestalteten, wahrhaft umgesetzten Formgebung, Farbe und Raumkraft […] und ich werde in München meine ganze Kraft einsetzen, dass nicht wieder eine solche Verständnislosigkeit vor Ihnen steht.“[14] Franz Roh bezieht sich in seinen Bemerkungen u. a. auf eine negative Ausstellungsbesprechung, die am 19. April 1946 in der >Süddeutschen Zeitung< erschienen ist. Die Enttäuschung, die diese vor allem gegen ihn selbst gerichtete Kritik bei Kunz auslöst, findet ihren Widerhall in den Gemälden >Der Sturz der Requisiten< (Juli 1946) und >Sturz des Harlekin< (September 1946). Die vertrauten Versatzstücke, aus denen Kunz schon zuvor seine Bildräume komponiert hat, geraten hier ebenso in einen chaotischen Wirbel wie sein künstlerisches Alter Ego, die Figur des Harlekin. Kopfüber und von Gliedmaßen umgeben, schwebt dieser als haltloser Torso in einem diffusen Ambiente.

Doch die bereits erwähnte Teilnahme an der Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung in Dresden und die Einladung nach Konstanz zur Ausstellung >Neue deutsche Kunst<, in der acht Bilder von Kunz gemeinsam mit Werken von Fritz Winter, E. W. Nay und Willi Baumeister zu sehen sind, vor allem aber auch die sich anbahnende Freundschaft mit Franz Roh vermitteln neue Zuversicht. Kunz hat Kontakt zu E. W. Nay, dem er im Sommer 1946 eine Werkpräsentation in seiner Augsburger Wohnung einrichtet und ist 1947 zusammen mit Ludwig Ohlenroth Organisator der Ausstellung >Extreme Malerei< im Augsburger Schaezlerpalais, die mit stark abstrahierenden und gegenstandslosen Werken der Nachkriegszeit bei der Presse und der Bevölkerung lebhafte und kontroverse Resonanz findet. Kunz sorgt dafür, dass Blätter aus dem abstrakt-biomorphen Zyklus >Triebkräfte der Erde<, den Fritz Winter 1943/44 während eines Genesungsurlaubs nach einer schweren Kriegsverwundung geschaffen hatte, in die Ausstellung aufgenommen werden, obwohl sich Winter zu diesem Zeitpunkt noch in Kriegsgefangenschaft befindet. Als extreme künstlerische Positionen werden Max Ackermann, Willi Baumeister, die noch jungen Gerhard Fietz und Rupprecht Geiger, Conrad Westphal und Fritz Winter empfunden – Künstler, die sich zwei Jahre später in München zur Gruppe ZEN 49 zusammenschließen, um für die Durchsetzung ihrer abstrakten Werkkonzepte zu kämpfen. Daneben sind auch gegenständliche Bilder wie die von Ernst Geitlinger, Joseph Scharl oder Richard Ott sowie Abstraktion und Figuration synthetisierende Arbeiten von Georg Rhode, Jakob Spaeth und Karl Kunz ausgestellt, werden aber – um ein Urteil von Hans Eckstein aus der >Süddeutschen Zeitung< zu zitieren – im Vergleich mit den gegenstandslosen Gemälden „fast wie ein Fremdkörper“ aufgefasst.[15] Juliane Bartsch publiziert eine ausführliche Ausstellungsbesprechung in der >Schwäbischen Landeszeitung< und widmet allen teilnehmenden Malern ein Werkporträt. Ihre Annotation zu Karl Kunz leitet sie mit der Bemerkung ein, dass dieser vielen als der „Rätselhafteste“ erscheinen dürfte. „Die ganz Abstrakten kommen ohne Gegenstand aus, aber bei Kunz wird er quasi durch die Hintertür wieder eingelassen, nun aber nicht mehr als primär gegebene Existenz, von der >abstrahiert< wird, sondern als Element unter Elementen. […] Bei aller Kompliziertheit (man denkt an den verzwickten Stil der Fuge in der Musik) bleiben seine Kompositionen ein stark gebautes Gefüge, zusammengesetzt aus Elementen der organischen und anorganischen Materie.“[16] Bemerkenswerterweise werden in dieser Besprechung abstrakte Farbe und Gegenständlichkeit nicht gegeneinander ausgespielt, sondern als gleichberechtigte Möglichkeiten der Bildfindung bewertet. Das Eintreten von Franz Roh für eine Präsentation der Ausstellung in München bleibt erfolglos, gezeigt wird >Extreme Malerei< aber in Stuttgart, Karlsruhe und Duisburg und übt großen Einfluss auf die Entwicklung der Malerei im Westen Deutschlands aus.

Die Kulturpolitik in der amerikanischen Besatzungszone ist nach 1945 zunächst weniger von Kulturprogrammen als von der Ausschaltung nationalsozialistischer Denkweisen durch „Re-education“ geprägt. Gesamtdeutsche Bestrebungen, an die Moderne aus der Zeit vor 1933 Anschluss zu suchen, können sich daher in mehreren Ausstellungen niederschlagen. So wundert es nicht, dass im September 1947, nur wenige Monate nach der >Extremen Malerei<, die Ausstellung >Künstler der Ostzone< im Augsburger Schaezlerpalais zu sehen ist. Will Grohmann, der Mitorganisator der ersten Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung von 1946, hat die Exponate von 13 Künstlern zusammengestellt, um die Einheit Deutschlands im Horizont der Kunst sichtbar werden zu lassen.[17]Für dieses Projekt mag Karl Kunz wohl ein gewichtiger Fürsprecher in seiner Heimatstadt gewesen sein. Ist doch zu vermuten, dass er zumindest in groben Zügen über die Nachkriegssituation an seiner ehemaligen Wirkungsstätte informiert ist, wo die „Burg“ nach 1945 zum Ort der Wiederbelebung und Weiterentwicklung der modernen Malerei in der SBZ avanciert. Denn ganz bewusst intendiert die Schule mit der Berufung der alten „Burg“-Lehrer Carl Crodel und Erwin Hahs den Wiederanschluss an die bewährte Schultradition der Vornazizeit. Mit den zunehmenden Ost-West-Spannungen im ausbrechenden Kalten Krieg, beginnt jedoch 1948 in der SBZ die harsche sowjetische Kritik an der modernen Kunst und besonders an dem als nonkonform mit den gesellschaftlichen Aufgaben eingestuften Malerkreis in Halle.[18] Diese Entwicklung hat den Exodus vieler Künstler und Kunstvermittler in den Westen zur Folge. Auch Will Grohmann verlässt 1948 Dresden und sein Engagement für Künstler aus dem Osten wird zugunsten eines bedingungslosen Plädoyers für die abstrakte Westkunst nun völlig versiegen.

1947 wird Karl Kunz von Heinz Gowa, dem Direktor der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk des Saarlandes, als Lehrkraft nach Saarbrücken berufen. Er übernimmt eine Klasse für Malerei und je eine Klasse für Grundlehre und fortgeschrittene Grundlehre. Mit Begeisterung nimmt er die pädagogische Arbeit nach dem Vorbild des Bauhauses und seiner Halleschen Praxis auf und schon bald besucht ein Drittel aller damals an der Saarbrücker Kunstschule Studiernden seinen Unterricht. [Abb. 14] 1948 organisiert er die Ausstellung >Junge Menschen lernen malen<, die im Augsburger Schaezlerpalais beginnt und danach in mehrere westdeutsche Städte weiterwandert. J. A. Schmoll gen. Eisenwerth, der 1947 als Lehrbeauftragter von Darmstadt aus in Saarbrücken tätig ist, erlebt dort den neu gewonnenen Freund als hinreißenden Lehrer und wortgewaltigen Erzähler. Er resümiert: „Es ist eine für Karl Kunz selbst glückliche, aber kurze Zeit“, in der er seinen eigenen Malstil verwirklichen kann.[19] Neue Anregungen schöpft Kunz aus dem Besuch von Ausstellungen französischer Kunst in Baden-Baden und Freiburg, wo ihn – wie er am 16. November 1947 Menzel mitteilt – Bilder von Picasso, Léger und Chagall besonders beeindrucken. Da zu dieser Zeit im Saarland ein französischer Hochkommissar die Kontrollfunktion über die Regierung ausübt, ist hier der französische Kultureinfluss ausgeprägter als im übrigen Westdeutschland. Für Karl Kunz wird Picassos Arbeitsweise nach >Guernica<, heterogene Stilelemente miteinander zu kombinieren, in der Saarbrücker Periode virulent. Figurationen in Strichmännchenmanier treten neben illusionistisch-plastische und hölzern-karikierende Körpermodulationen. Abstrakt-konstruktivistische Embleme erweitern das Repertoire der Versatzstücke und eine großzügig geschwungene Lineatur legt sich wie eine der Bildkulisse vorgeschobene zweite Ebene über die Komposition. Später, ab Dezember 1951, werden sich derartige Lineaturen in den 61 Tuschefederzeichnungen des >Inferno<-Zyklus zu fiebrig-visionären Imaginationen von Dantes Höllenwanderungen verselbstständigen. [Abb. 15]

In Saarbrücken kann Kunz auch seine in Halle bereits ausgereifte Wandbildmalerei wieder aufgreifen. 1947 entstehen Entwürfe für die Universität des Saarlandes in Homburg/Saar. Der Manierismus seiner Kunstfiguren und sein koloristisches Gespür eignen sich sehr für den Entwurf großformatiger Wandmalereien.

Das die Gegenständlichkeit favorisierende Stilkonzept, das Kunz in den Jahren 1946 bis 1948 ausbildet, korrespondiert zu der in Frankreich nach der Libération Popularität erringenden gegenständlichen Malerei von Francis Gruber und Bernard Buffet, die mit ihrer existenzialistischen Tristesse dem Lebensgefühl der unmittelbaren Nachkriegszeit Ausdruck gibt. Doch schon am Beginn der 1950er Jahre gerät dieser malerische Existenzialismus ebenso ins Abseits wie Picasso, der die französische Kulturszene schon 1944 mit seinem Eintritt in die Kommunistische Partei Frankreichs irritiert hatte. Es beginnt die Zeit, da Tachismus und Informel, angeführt von den lyrischen Abstraktionen Georges Mathieus ihren Siegeszug von Frankreich aus antreten und schließlich in einen Gleichklang mit dem aus den USA nach Europa exportierten Abstrakten Expressionismus einmünden.

Politisierter Bilderstreit

Im Sommer 1949 wird Kunz unvermittelt von seinem Lehrauftrag entbunden. Sparauflagen der Saarregierung spielen dabei ebenso eine Rolle wie interne Auseinandersetzungen mit der Direktion der Kunstschule. Trotz der Resonanz, die Kunz mit der Ausstellung >Junge Menschen lernen malen< für sein Lehrprogramm erzielen konnte, ist für ihn kein neuer Lehrauftrag in Aussicht. Die Familie gerät dadurch in finanzielle Zwänge, zumal auch Ilse Kunz ihre Beschäftigung im Augsburger Schuldienst für einen wieder eingestellten älteren Lehrer aufgeben muss. Erst 1952 wird es ihr gelingen, im hessischen Weilburg eine feste Anstellung in einer Oberschule zu erhalten.

Dennoch sind die 1950er Jahre künstlerisch die erfolgreichsten im Schaffen von Karl Kunz. 1950 veranstaltet die renommierte Galerie Günther Franke in der Münchner Villa Stuck auf Empfehlung von Franz Roh die erste Einzelausstellung von Karl Kunz, die Hanna Bekker von Rath in ihr >Frankfurter Kunstkabinett< holt. Trotz der lobenden Anerkennung, die ihm die Kritik zollt, kann Kunz in beiden Galerien keine Verkäufe tätigen. Wenig später ist er in der prominent besetzten Ausstellung >Das Menschenbild in unserer Zeit< vertreten, die von der Darmstädter Sezession ausgerichtet wird und in deren Rahmen vom 15. bis 17. Juli 1950 die kontroversen Diskussionen über die Einschätzung der ungegenständlichen Kunst im Ersten Darmstädter Gespräch stattfinden. Im Vortrag des Münchner Kunsthistorikers Hans Sedlmayr schlagen sich die im Nachkriegsdeutschland weit verbreiteten Ressentiments gegenüber der modernen Kunst nieder. Signifikant für Sedlmayrs konservative Kritik ist sein negatives Urteil über die surrealistischen Bilder von Dalí und Max Ernst, in denen er Elemente der „Dämonie“ und der „Zersetzung“ diagnostiziert.[20] Willi Baumeister protestiert gegen Sedlmayrs Behauptung, die moderne Kunst sei ohne ethische Werte und verteidigt vor allem die abstrakten Formen  als zeitgemäßen Ausdruck für die energetischen Kräfte, die die neue Wirklichkeit bestimmen: „Ungegenständliche Ausprägungen des menschlichen Geistes sind dem Transzendenten geöffnet. An gegenständlichen Darstellungen haftet immer mehr oder weniger Erdenschwere und ihre Schwingungen sind nicht frei.“[21] An Baumeisters Sätzen wird ablesbar, dass der Kalte Krieg nun auch eine Front zwischen der abstrakten und der gegenständlichen Formensprache zu ziehen beginnt – ein Konflikt, in den Karl Kunz, ohne es zu wollen, hineingerät.

Für das surrealistisch anmutende Gemälde >Figurinen< von 1948, dessen Commedia-dell’arte-Personal aus unterschiedlichen Stilelementen wie eine gemalte Collage komponiert ist und dabei dennoch eine homogene Bühnenkulisse inszeniert, erhält Kunz 1951 den hoch angesehenen Domnick-Preis vor Fritz Winter und Rupprecht Geiger. Die Auszeichnung ist ein Höhepunkt seiner Karriere, zumal das Jury-Mitglied Will Grohmann in der Presse gegen die Preisvergabe an Kunz protestiert und für eine Verleihung des 1. Preises an Ernst  Wilhelm Nay plädiert. Doch die übrigen Jury-Mitglieder bleiben bei ihrer Entscheidung für Karl Kunz, was J. A. Schmoll gen. Eisenwerth mit der Bemerkung kommentiert: „Am ganzen Fall ist für unsere Betrachtung interessant, daß 1951 noch Karl Kunz in der vorderen Linie stand.“[22] Diese offenkundige Wertschätzung, die dem Œuvre von Karl Kunz um 1950/51 zuteil wird, schwächt sich allerdings in der Folgezeit in dem Maße ab, wie die abstrakte Kunst im westlichen Europa die Stildominanz erringt. Zum exponierten deutschen Repräsentanten dieser weltumspannenden Bildsprache avanciert E. W. Nay. Während die mythologischen >Hekate<-Bilder Nays aus der frühen Nachkriegszeit noch eine narrative Ikonografie aufweisen, verselbstständigen sich in den ab 1950 entstehenden sogenannten Scheibenbildern gegenstandsfreie Farbakkorde. Nicht nur durch Will Grohmann, sondern vor allem durch den einflussreichen Documenta-Organisator Werner Haftmann erfährt diese Naysche Malerei in den 1950er Jahren eine außerordentliche Förderung.

Heute wissen wir, dass die Durchsetzung der abstrakt-lyrischen Kunst ein aus den USA politisch gesteuerter Prozess der Frontstellung gegenüber dem im Ostblock von der sowjetische Kulturpolitik propagierten Sozialistischen Realismus gewesen ist. Das Kuratoriumsmitglied des Museum of Modern Art in New York, Nelson Rockefeller, veranlasst 1952 den Präsidenten der USA, Dwight D. Eisenhower,  die abstrakte Kunst der New Yorker Avantgarde als strategisches Argument im Kalten Krieg zu nutzen, indem er den darin zum Ausdruck kommenden Individualismus als Bekenntnis zu Demokratie, Freiheit und Humanismus interpretiert. Die wesentlichen Stichworte hat schon 1944 der Maler Robert Motherwell geliefert, indem er ein elitäres Bild vom modernen Künstler zeichnet.[23] Das Selbstverständnis, das die New York School mit dem Abstrakten Expressionismus später in den 1950er Jahren weltweit zur Schau stellen wird – modernes Genietum, das eine spirituell auratisierte Weltsprache der Kunst neu erschaffen hat – ist hier bereits ausformuliert.[24] Als der Surrealist Max Ernst aus dem amerikanischen Exil 1950 erstmals nach Europa zurückkehrt, wird er dort, wie er 1960 rückblickend kommentiert, „nicht erwartet“.[25] In Frankreich hat der Tachismus die rebellisch-provokanten Töne der Surrealisten verdrängt, und in den USA versuchen die Abstrakten Expressionisten sich von den Anregungen loszusagen, die surrealistische Emigranten wie Max Ernst ihnen vor 1940 vermittelt haben. 1960 wird sich Max Ernst im Gespräch mit Edouard Roditi über diese schmerzliche Erfahrung äußern: „ich kehrte zu einem Zeitpunkt nach Frankreich zurück […] als jene terribles simplificateurs […] die abstrakte Kunst hochlobten und die Kunst der Surrealisten, insbesondere die auch nur annähernd gegenständliche, als zu literarisch verurteilten, so daß sie unwiderruflich diskreditiert schien.“[26]

Zitat und Metamorphose

In der jungen Bundesrepublik Deutschland gehört Karl Kunz zu den wenigen Künstlern, die sich nicht der modisch gewordenen abstrakten Malerei zuwenden, sondern im Surrealismus die Bildsprache finden, in der sie die unbewältigten Traumata des Krieges ebenso wie das Spannungsgeflecht ihrer Wünsche und Triebe verarbeiten. Karl Kunz experimentiert  mit Motiv- und Stilmontagen, streift zwischen Wirklichkeit und Imagination. >Harlekin und Kolumbine< (1948) sind die Stellvertreterakteure, die für das Künstler-Ich die Gratwanderungen zwischen Verzauberung und Groteske vollziehen.

In den ausgehenden 1940er Jahren verengt sich auf seinen Bildern der perspektivische Raum. Es entsteht eine aus mehreren Flächen gestaffelte Bühne, deren Wirkung auf die dicht mit Figuren und Requisiten ausgestattete vordere Ebene fokussiert ist. Hier mischen sich in unterschiedlicher kubistischer Manier gezeichnete Figuren mit erfundenen konstruktivistischen Emblemen und diversen Bauelementen, wie sie in einer Holzwerkstatt lagern. In dem Gemälde >Karneval< (1949) versteht es Kunz meisterhaft, bei der Figuration der Commedia-dell’arte-Protagonisten, das vielgestaltige picassoeske Repertoire abstrakter Kompositionen zu deklinieren. Das filigrane Körpergewebe der Kolumbine konstruiert er aus den kristallinen Bausteinen der kubistischen Zersplitterung, die Gestalt des Fauns fließt aus den ondulierenden Linien organischer Formen und bildet einen musikalisch bewegten Kontrapunkt zu der strengen Geometrie des Harlekin-Corpus, den nur das farbige Schachbrettmuster als solchen identifiziert.

Surrealistischer Ironie verbunden, implantiert Kunz auch weiterhin versteckte Zitate und Anspielungen in seine Bildkompositionen, um deren Sujets sowohl mit klassischen Traditionskontexten wie auch mit dem Erbe der frühen Moderne zu vernetzen. Geradezu modellhaft figuriert er das Liebespaar auf dem gleichnamigen Gemälde von 1948 in protokubistischer Vereinfachung, konterkariert jedoch die Abstraktion durch die malerische Akzentuierung der Frau, die ein leuchtend rotes Kleid trägt und eine rosafarbene Rose in der Hand hält. Die florale Ornamentik auf dem Stoff des Kleides ruft direkte Assoziationen an die farbenfrohen >Symphonischen Interieurs< von Matisse wach. [Abb. 16] Das Fenstermotiv im linken oberen Bildhintergrund ist ein der Romantik entlehnter Topos, der die intime Szene in ein Interieur verwandelt, obwohl das Fenster als surreale Imagination figuriert. Denn das Paar ruht auf einer Bank im Freien, das Fenster wird ebenso wie das gerahmte Bild (rechts oben) von einem Gestänge gehalten. Mit dem Vogelpaar auf dem Wanddekor beschwört Kunz noch einmal die Poesie der Vogelwesen, in der schon Max Ernst den Übergang von der Realität in eine surreale Traumwelt verdichtete (siehe Abb. 8).

>Liebespaar< gehört 1954 zu den Gemälden[27], mit denen Karl Kunz an der Biennale Venedig teilnimmt, als diese unter dem Thema >Surrealismus< steht. Zwischen 1950 und 1962 ist die deutsche Biennale-Beteiligung von retrospektiven Präsentationen der Vorkriegsmoderne und deren Fortsetzung in den ersten Nachkriegsjahren geprägt. Ihr Kurator Eberhard Hanfstaengl, seinerzeit Direktor der Staatsgemäldesammlung in München, sieht im Rückgriff auf die Tradition die Notwendigkeit zur Wiedergutmachung und den Willen zum Neubeginn. Für Karl Kunz markiert die Teilnahme an der Biennale Venedig den Zenit seiner öffentlichen Wahrnehmung.

Zwischen den Fronten des Kalten Krieges

Innerhalb der deutschen Kunstszene hat sich zwischenzeitlich im Anschluss an das Darmstädter Gespräch von 1950 die Auseinandersetzung zwischen abstrakter und figurativer Kunst zugespitzt und zugunsten der ungegenständlichen Formensprache entschieden. Die Konfrontationen setzen sich in den Debatten des 1950 neu gegründeten Deutschen Künstlerbundes (DKB) fort und finden ab 1954 ihre Hauptakteure in Karl Hofer und Will Grohmann. Zum Auslöser dieses ersten deutschen Kunststreites nach 1945 wird Grohmanns Auslegung eines Artikels von Karl Hofer in der Zeitschrift >Constanze< vom 12. November 1954, in dem der inzwischen weltweit arrivierte Kunstkritiker dem ersten Vorsitzenden des DKB eine deutliche Abneigung gegen abstrakte Kunst vorhält. Nach den Recherchen von Christine Fischer-Defoy aus dem Jahr 1996 geht dieser Vorwurf jedoch auf eine Unterstellung zurück, vielmehr habe Hofer selbst „entgegen der falschen Beschuldigung, gute und qualitätsvolle Abstraktion befürwortet, unterstützt und nicht abgelehnt“.[28] Doch nach der Ablösung von Karl Hofer als Vorsitzender des DKB 1955 durch den tachistisch malenden Hans Hartung schlägt sich der Machtkampf zwischen der abstrakten und gegenständlichen Kunst zugunsten der Fürsprecher der Abstraktion auf die Ausstellungspolitik und die Nominierung neuer Mitglieder für den DKB nieder. Alle Stilrichtungen der Figuration werden nun ins Abseits geschoben, gesellschaftskritischen Positionen wirft man vor, unterschwellige Sympathien für den Realismus in der DDR zu hegen. Maßgebliche Förderung erhält die abstrakte Kunst durch das Mäzenatentum der deutschen Industrie  und deren Auftragsvergaben, die bereits  1951 einen  „Kulturkreis“ etabliert hat. Von dieser Dominanz des Abstrakten im Geschmack der westdeutschen Gesellschaftseliten und der zunehmenden Verdrängung der gegenständlichen Stilrichtungen profitieren Künstler wie Willi Baumeister, Hans Hartung und E. W. Nay sowohl wirtschaftlich wie ideell, da ihre Arbeiten mit „wissenschaftlichen modernen Erkenntnissen und einem besonderen höheren Geist in Verbindung gebracht“ werden.[29] Karl Kunz, der als Außenseiter Elemente der Figuration und der Abstraktion auf seinen Bildern synthetisiert, gerät zwischen die Fronten dieser kunstpolitischen Polarisierung. Zwar wird er 1954 zur Teilnahme an der Biennale Venedig aufgefordert, aber er kommt seinerzeit weder in den DKB noch nimmt ihn Werner Haftmann in die Auswahl für eine der ersten Documenta-Ausstellungen 1955 oder 1959 in Kassel auf.[30]

Im Rückblick ist die in der Bundesrepublik ebenso wie in der DDR erfolgte Diskreditierung einer Formensprache bemerkenswert, die es sich erlaubte, figurative und abstrakte Elemente gleichermaßen als stilistische Mittel zu verwenden. Die Bekämpfung erfolgte nicht unmittelbar aus der Kunst heraus, sondern sie wurde vom politischen Antagonismus zweier Gesellschaftsmodelle manipuliert. Der Westen benutzte die abstrakte Kunst als Bollwerk demokratischer Freiheit gegen den Sozialistischen Realismus, der Osten forderte von den Künstlern ein realistisch gemaltes, die Lebenssituation der Werktätigen im Sozialismus propagierendes Bildkonzept und den Verzicht auf sämtliche Stilrichtungen der Moderne. Die Burg Giebichenstein in Halle blieb jedoch auch nach 1945 – angeregt vom Vorbild der Altmeister Erwin Hahs und Carl Crodel – ein Ort ideologiefreier Kunstpraxis und stilistischer Vielfalt. Deutlich sichtbar ist dieser Hallesche Sonderweg u. a. auch am Frühwerk des Malers Willi Sitte, der sich ab 1950 intensiv mit Picasso auseinandersetzt. So  greift er mit der Zeichnung >Kindermord zu Bethlehem< von 1952 das >Guernica<-Thema des Massakers von Unschuldigen in mythologischer Verkleidung auf und orientiert sich in der Stilistik seiner Frauengestalten ähnlich wie Karl Kunz in seinen Gemälden der Jahre 1942 bis 1945 an den Vorgaben Picassos. [Abb. 17] Solche in der Provenienz der Moderne stehenden Sprachformen pflegen auch Sittes damalige „Burg“-Kommilitonen Ulrich Knispel, Hermann Bachmann und Herbert Kitzel, die in den frühen Nachkriegsjahren die Malklassen der nonkonformen „Burg“-Lehrer Erwin Hahs und Carl Crodel besuchen. Als ab 1951 die militant geführte Formalismus-Debatte die Richtlinien des Sozialistischen Realismus von allen in der DDR lebenden Künstlern einfordert, kritisiert Erwin Hahs die damit verbundene Umstrukturierung des Halleschen Lehrprogramms. 1952 wird er gezwungen, sein „Burg“-Atelier aufzugeben. Bachmann, Knispel und Kitzel siedeln nach kurzer Tätigkeit als freischaffende Künstler in den Westen über, und Sitte unterzieht sich ab 1956 in der Wahl seines Stils und seiner Bildinhalte zunehmend den Vorgaben einer parteikonformen Auftragskunst. Als sich Hahs 1956 nach Zernsdorf zurückzieht, ist die fruchtbare Zeit der „Burg“-Malerei ohne dass man sie in der Bundesrepublik bis dahin angemessen wahrgenommen hätte, endgültig vorbei.

Zeichnung als Energiespeicher

Zur gleichen Zeit verliert eine figurative Bildsprache mit narrativen Inhalten im Schatten der abstrakten Malerei zunehmend ihre öffentlichen Wirkungsmöglichkeiten auf der westdeutschen Kunstszene. Diesen vorgegebenen Trend, dem sich die meisten Künstler anpassen, souverän ignorierend, löst sich Kunz um 1950 aus der Anlehnung an die picassoeske Bildwelt und findet seine eigene Handschrift  nun in fantastischen Gebilden, die sich aus wurzelartig ausgreifenden Linien formieren. Konkrete Anregungen sammelt er 1951 auf alpinen Wanderungen im Wettersteingebirge, wo er am Herzogstand einen toten Wald entdeckt und daneben die Bärenfleckhütte der Bergwacht. Man lässt ihn dort wohnen, und er zeichnet die toten Bäume und Wurzelgeflechte, von denen er auch viele mit nach Hause bringt. [Abb. 18] Aus diesen von bizarren Linien geprägten Zeichenstudien entwickeln sich Gemälde, in denen sich fantastische und groteske Imaginationen niederschlagen. In dem Gemälde >Harpyen< (1951) greift Kunz das Thema der Vogel-Mensch-Metamorphosen wieder auf und zeichnet die mythischen Wesen – der Beschreibung Homers folgend –  in einer Bildgestalt, die sie sowohl als Vögel mit Frauengesichtern wie auch als wilde Personifikationen der Sturmwinde darstellt. In der sich dynamisch verselbstständigenden Linie emanzipiert sich die künstlerische Vorstellung vom Gegenstand, um ihn in neuer Weise aus der Choreografie des Strichs zu rekonstituieren.

Das Konvolut an Skizzen, das Karl Kunz während seines Aufenthaltes in der Bärenfleckhütte mit Bleistift, Tuschefeder und Aquarellpinsel zu Papier bringt, initiiert eine Werkphase, in der er sich der Zeichenkunst als eigenständigem Medium mit großer Intensität widmet. So entstehen zwischen 1951 und 1956 die >Einundsechzig Illustrationen zum Inferno der Göttlichen Komödie des Dante Alighieri<, deren Visionen Blatt für Blatt aus dem Fluss der Tuschefeder und einer vielgestaltigen Abstufung von Grau- und Schwarztonlagen hervorgehen. Emanzipiert von einer vorab bestimmten Gegenständlichkeit entstehen aus dem Geflecht der Lineaturen energetische Kraftfelder, die, wie Max Bense in seiner Einleitung zur Buchausgabe des Kunzschen >Inferno< betont, „nicht die Poesie Dantes simulieren können, wohl aber sein Pathos und seine Rhetorik. […] Auch erkennt man, daß die Blätter in ihrer Gesamtheit eine >ästhetische Familie< bilden, ein Ensemble von >Kunstobjekten<, die vergleichbar zusammengehören und einen einheitlichen >Manierismus< entwickeln“.[31] „Angefangen hatte alles“, so berichtet der Sohn Wolfgang, „mit einem roten Punkt in den Trümmern der zerbombten Stadt Augsburg. Der rote Punkt zog die Aufmerksamkeit meines Vaters an und er entpuppte sich als eine Ausgabe von Dantes Göttlicher Komödie in der Übersetzung von Philalethes. Er fing noch auf dem Schutthaufen an zu lesen, war sofort fasziniert und beschloss, es zu illustrieren! Aber wie? Erst sieben Jahre später eröffnete sich ihm der Einstieg durch einen toten Wald in den Alpen.“[32] [Abb. 19]

So wie die Frottagen von Max Ernst  den durch Abrieb auf Papier übertragenen Maserungsstrukturen von Hölzern und Blättern eine neue Identität verliehen haben, so transformiert Karl Kunz die bizarr verwitterten Spuren der Natur in eine danteske Kosmologie der Unterwelt, deren barocke Üppigkeit ganz und gar aus der Kalligrafie der Feder herausfließt. Im Prozess des Zeichnens vollziehen sich Neuerfindungen von Gebilden, „die sowohl vegetative als auch menschliche Wesenszüge in sich bergen. Der Betrachter erlebt die Wandlungen des einen in das andere, ein bewegter und bewegender Vorgang ohne feste Fixierung“.[33] 1964 werden einige Blätter des >Inferno< auf der >1. Internationale der Zeichnung< gezeigt, die die Mathildenhöhe in Darmstadt ausrichtet.

Revitalisiertes Prinzip Collage

Bevor Karl Kunz 1953 seinen Wohnsitz von Augsburg in das kleine Städtchen Weilburg an der Lahn verlegen muss, weil seine Frau dort eine Stellung als Studienrätin bekommen hat und für den Unterhalt der Familie sorgt, widmet das Augsburger Schaezlerpalais ihm zum Abschied eine große Einzelausstellung, und die Stadt erwirbt gleichzeitig sieben seiner Bilder für ihre Sammlung. Zu den ersten großformatigen Gemälden, die in Weilburg entstehen, gehört das vier Meter breite >Medea<-Triptychon, das in mehrfacher Hinsicht innovative Aspekte in das Kunzsche Werkkonzept einführt. Dominieren auf den Gemälden der 1940er und frühen 1950er Jahre bühnenhafte Guckkästen als Aktionsterrain der Figuren und Requisiten, so überrascht die >Medea<-Komposition mit einer mediterranen Küstenlandschaft, vor deren Weite Karl Kunz die Tragödie ins Bild setzt.

Entgrenzungen des kastenartigen Raumgefüges, das Kunz zuvor in einer Vielzahl seiner Bilder bevorzugt hat, finden sich bereits vereinzelt vorher, so auf dem Gemälde >Ruine< von 1946. [Abb. 20] Der Maler registrierte hier die groteske Auftürmung offener, schachtelartig neben- und übereinander gestaffelter Wohnraumskelette, die vom Bombenkrieg geschaffen worden waren. 1953 greift er diese surreal anmutende Ruinenarchitektur wieder auf und verwandelt die wie Bausteine aufgeschichteten Raumkompartimente in eine von Maschinen beherrschte Stadtvision, in deren babylonischen Mauertürmen gesichtslose Menschengestalten wie Fossile eingebettet sind (>Maschinenstadt<). 1957 wird diese Ansammlung von Raumschachteln eine weitere Metamorphose durchschreiten und sich in das Hadesreich einer von Böcklin inspirierten >Toteninsel< transformieren. Doch 1954 ist das ausladende Meerespanorama des >Medea<-Triptychons als solches ein Novum im Nachkriegs-Oeuvre des Malers. Vor ihm breitet sich die Medea-Erzählung wie auf einer transparenten Filmleinwand aus, ohne selbst Tiefenperspektivik zu entwickeln. Ihre Motive sind von dem zeichnerischen Gestus durchwirkt, den Kunz in den Skizzen der Bärenfleckhütte zuvor ausgearbeitet hatte.

Auf der rechten Seitentafel schichten sich einander überschneidende Stämme und Äste als direkte Zitate aus den Skizzenblättern zu einem Liniengebirge auf, während sich in der Tafelmitte ein Wurzelgebilde in die Fantasiegestalt eines fliegenden Vogels transformiert. Auf der linken Seitentafel schält sich die kniende Figur der Medea als Dreiecksform aus einem ornamentalen Liniengeflecht heraus. Die mittlere Tafel wird von der über dem Kahn schwebenden durchsichtigen Gestalt beherrscht, die unverkennbar die signifikante Physiognomie des Schiffbrüchigen aus dem gleichnamigen Bild von 1942 aufweist. Als allegorischer Typus ausgestattet mit der Aura des tragischen Scheiterns, übernimmt der Schiffbrüchige hier die Rolle des Jason, der erfahren muss, dass Medea mit der Tötung ihrer gemeinsamen Kinder Rache für seine Untreue geübt hat. Gewandfiguren, die den Bildraum füllen, richten ihre Blicke auf Jason und beklagen wie ein antiker Chor das grausame Geschehen. Wie Michael Kunz in einem Kommentar zum >Medea<-Triptychon berichtet, verwahrte sein Vater in einer Sammlung von Kunstpostkarten und Illustrationen auch einen Zeitungsausschnitt mit Fischern am Mittelmeer, der ihn zum kompositionellen Entwurf der Mitteltafel angeregt hat. Auch die schlanke Gestalt der verschleierten Zofe, die auf der linken Seitentafel die nach der Tötung ihrer Kinder in hysterischem Schmerz versinkende Medea zu beruhigen sucht, basiert auf dem Illustriertenausschnitt von einer italienischen Modenschau, den Kunz in seiner Vorlagensammlung archivierte. [Abb. 21 und Abb. 22]

Schon 1951 collagierte Kunz einen Ausschnitt aus einem Modejournal in sein Gemälde >Modesalon<. Direkte Bezüge gibt es auch zwischen dem Bild >Dame um 1900< und der Zofe auf der linken >Medea<-Tafel. [Abb. 23] Ebenfalls schon 1951 entstanden, zeigt die elegante Dame der Gesellschaft die gleiche Körperpose wie die Zofe; der in das Bild eingeklebte reale Stoff simuliert darüber hinaus auch das Stoffmuster des Modells, das auf der Illustriertenabbildung von der italienischen Modenschau zu sehen ist. Wenige Jahre nach der >Medea<-Komposition, um 1960, wird Karl Kunz nicht nur Zeitungsausschnitte, sondern auch Kunstpostkarten und Zeichnungen als Objets trouvés in seine Gemälde hineincollagieren. Mit dieser Revitalisierung der Collage praktiziert er – hierzulande unbeachtet  von der Kunstöffentlichkeit – eine künstlerische Sprachform, die zeitgleich in den USA und in England die Avantgarde grundlegend verändert.

Betrachtet man heute die 1963 entstandenen Bilder >Dem Wahren, Guten und Schönen< und >Warten<, in die Karl Kunz Fotografien aus der Produktion seines Sohnes Wolfgang, eine eigene Aktzeichnung und Pin-up-Illustrationen aus Zeitschriften hineincollagiert, vor dem Hintergrund der damaligen internationalen Avantgarde, so ist ihre Nähe zu den Collagen der englischen Independent Group und zu den Combine Paintings Robert Rauschenbergs nicht mehr zu übersehen. [Abb. 24] Obwohl die Vermutung nahe liegt, dass Kunz das seinerzeit gegenüber dem Abstrakten Expressionismus innovativ ausgerichtete Schaffen von Robert Rauschenberg wohl kaum kennenlernen konnte, verbindet die beiden so unterschiedlichen Künstler eine Bildsprache, in der sich ein von autobiografischen Bezügen durchwirkter malerischer Gestus mit kunsthistorischen, populärkulturellen und massenmedialen Zitaten vernetzt.[34] Im Vorgang der Komposition schafft Kunz aus den gemalten und gefundenen Bildelementen eine in ihrer Fantastik stringente und homogene Bildvision.

Während für den amerikanischen Kollegen mit dem sich anbahnenden Siegeszug der Pop Art eine große internationale Karriere beginnt, gerät Karl Kunz in eine anwachsende Vereinsamung. Seit 1957 finanziert ihm seine Frau in Frankfurt ein kleines Atelier, aber die Kulturszene der Stadt nimmt kaum Notiz von ihm. 1959 holt ihn sein Freund, der Fotograf Otto Steinert, der jetzt Direktor der Saarbrücker Kunstschule ist, für drei Semester an die Lehranstalt. Doch Kunz kündigt bereits im Sommer 1960 den Lehrauftrag, da ihn die wöchentlich mehrmaligen Fahrten zwischen Frankfurt und Saarbrücken erheblich anstrengen und zu wenig Zeit für sein eigenes künstlerisches Schaffen belassen. Im Frankfurter Museum Karmeliterkloster findet er in Kursen des Bundes Bildender Künstler eine Gelegenheit zum wöchentlichen Aktzeichnen, die er regelmäßig nutzt. Die Mehrzahl  seiner Zeichnungen sind weibliche Akte, die er mit einigen raschen Umrisslinien konturiert. Er zeichnet sie in Bewegung, modelliert durch Licht- und Schatteneffekte das fleischliche Spiel ihrer Muskeln. Der Kopf mit individuellen Gesichtszügen ist ihm nebensächlich, was ihn interessiert sind die unzähligen Variationen des Schreitens, Sitzens, Stehens und Liegens. „Diese Variationen sind wie Momentaufnahmen, man kann sie sich fast so vorstellen, als sei eine Person in einer Bewegung gefilmt worden und man betrachte nun die einzelnen Bilder dieses Films.“[35]

Wie in einem alchemistischen Laboratorium amalgamieren sich nun wieder aufgegriffene Motive und Requisiten aus früheren Bildfindungen mit erotischen Sujets und animieren den Maler zu bildnerischen Experimenten, in denen sich Eros und Thanatos überlagern. Das Emblem des Kreuzes, das für Kunz schon in den 1940er Jahren über seine religiöse Allegorik hinaus einen zentralen Stellenwert als Struktur schaffendes Bildgerüst besaß, wird auf dem Gemälde >Kreuzigung< (1959) von erotischen Schwellformen durchwebt, deren Vielgestaltigkeit der Maler aus seinen Aktzeichnungen bezieht. Die manieristische Morbidität des Bildes entsteht aus der Spannung zwischen einer kalligrafischen Zeichnung, die weiße Bildpartien von plakativen Farbflächen abgrenzt, und aus der marionettenhaften Mechanik, mit der die Akttorsi ihre Fleischlichkeit zur Schau stellen. Bis zur Erotomanie übersteigertes sexuelles Begehren ist für Kunz ebenso wie schmerzvolle Qual ein instinktgesteuerter Impuls, dem er sich in parabelhaften Bildern anzunähern sucht: So zieht wie ein Welt umfassender Taifun die >Hure Babylon< (1958) Mensch und Tier gleichermaßen in ihren pandämonischen Sog.

Anfang der 1960er Jahre reist Karl Kunz nach Paris, wo er in den Schlachthäusern und Markthallen von La Villette die ausgeweideten und enthäuteten Tierkadaver zeichnet. Nach diesen Skizzen entsteht das Gemälde > Haus des Schlächters< (1960)‚ auf dem sich der Schlachtvorgang mit dem Ritual der Kreuzigung verschränkt. In Analogie zu religiösen Darstellungen, auf denen Maria, die Mutter Jesu, und Maria Magdalena Christi Tod beweinen, flankieren zwei Aktfiguren den zur Häutung an zwei Beinen aufgehängten Tierkörper. Aus dieser geradezu blasphemischen Metamorphose des Kreuzigungstopos erschließt sich der Sinnhorizont des Bildes  als Paraphrase des Menschseins zwischen triebhafter Lust und gleichzeitiger Schmerzerfahrung. „ Diese Bilder sind reiner Exhibitionismus“,  bekennt Kunz gegenüber einer Freundin: „Aber sie sind auch eine Aufgabe. Für mich gibt es kein Tabu. Meine Schwarzen Messen haben meinen Passions- und Golgathabildern entgegen zu stehen, meine wüsten den elegischen Bildern“.[36]

Die Figurationen werden auf einigen Gemälden von gestisch gemalten Bühnenprospekten hinterfangen, auf anderen nehmen Farbigkeit und Motivgestaltung bereits um die Mitte der 1950er Jahre Op-Art- und Pop-Art-Effekte vorweg, noch bevor sich diese Stilrichtungen auf der deutschen Kunstszene etabliert haben. 1954 lässt sich Kunz von einem Aquarell seines Sohnes anregen, dessen Schmetterlinge er in fantastisch bunte Raumschiffe verwandelt, die über einer aus geometrischen Feldern konstruierten Landschaft hinweg segeln. Auf dem Pariser Flohmarkt erwirbt Kunz eine Schneiderpuppe, die – wie schon zuvor eine altmodische Schaufensterpuppe – das Atelierinventar bereichert. Die Puppen regen ihn dazu an, „wieder wir in alten hallischen Zeiten Puppenbilder“ zu malen.[37] Waren die Puppen früher nichts als Requisiten (siehe Abb. 11), so entfalten sie nun in oszillierender Personifikation ein Eigenleben mit doppeltem Boden. Aus dem reichhaltigen Repertoire der Aktzeichnungen erotisch aufgeladen, formieren sie sich rund um ein gedrechseltes Holz wie im Lichtschein einer Rotlichtlaterne zu einem grotesken >Rendez-vous<  (1960). In Verbindung mit den Schlachthausmotiven und dem ins Bild collagierten Porträtfoto einer toten jungen Frau verdichten sie sich auf dem >Stillleben mit Puppen< (1961) zu einem beklemmenden Memento mori.

Während die Mehrheit der deutschen Künstler und Kritiker immer noch gegen das figurative Bild polemisiert, hat sich Karl Kunz aus abstrakten und figurativen Bildsprachen eine eigene Rhetorik geschaffen, in die er Sinnlichkeit und Magie, Erschrecken und Faszination, Experiment und Fragmentierung gleichermaßen implantieren kann. Noch intensiver als in den Jahrzehnten zuvor setzt er das zwanghafte Streben der Moderne nach dem Neuen für sich außer Kraft und schweift durch Kunstgeschichte und Medien auf der Suche nach Stil- und Bildrelikten, aus deren Anverwandlungen seine eigenen Bildideen hervorgehen. So formt sich aus den unruhigen Lineamenten der Akt- und Wurzelzeichnungen die >Rasende Chimäre< (1964). Die malerische Vergegenwärtigung des Feuer speienden Tierungeheuers aus der griechischen Mythologie weckt unmittelbare Assoziationen an das 1937 von Max Ernst als Parabel für das faschistische Wüten im Spanischen Bürgerkrieg ins Bild gesetzte diabolische Trampeltier mit dem zynisch-satirischen Titel >Der Hausengel<. [Abb. 25] Doch für Karl Kunz ist die Chimäre metaphorischer Spiegel seiner psychischen und physischen Befindlichkeit, deren Zustand er am 30. Dezember 1965 dem Freund Heinz Menzel mit melancholischem Unterton schildert: „Zu viel Krankheit. Man wird alt. Es geht nur noch mit halber Kraft. Aber die Bilder sind immer noch heftig. Dampfkessel, wie Du geschrieben hast. Kurz am explodieren. Insofern sind sie immer noch gesund, wenn auch die Themen immer scheußlicher werden. Aber das Leben führt mir keine Idyllen zu, sondern ein Irrenhaus. […] Dabei weiß ich, dass hinter diesem Irrenhaus etwas anderes steht, das durch nichts zu beweisen ist und so tritt der metaphysische Bezug oder das Magische in den Bildern immer mehr in den Vordergrund.“

Bevor Kunz dem alten Freund diese Selbstanalyse offenbart, hat er seine innere Instabilität und seine labile Gesundheit in dem Gemälde >Der bedrohte Harlekin< (1964) wie in einem Bilderrätsel verschlüsselt. Während Warnschilder zur Wachsamkeit mahnen, verliert sich der Harlekin, das Alter Ego des Künstlers, getrieben von den Furien seiner sexuellen Fantasien, in einer zerfließenden Kopffüßler-Gestalt. Die Motivik vereinigt hier psychoanalytisch hinterlegte Traumbilder aus dem Œuvre Salvador Dalís, in denen sich Körper in die weichen Gebilde einer absurden Existenz verformen [Abb. 26], mit der plakativen Emblematik einer sich gerade neu etablierenden Signalkunst. Karl Kunz lebt einen künstlerischen Individualismus, der den Utopieverlust mit dem Sinn für Groteske und Ironie, aber auch mit Melancholie und Betroffenheit konterkariert. Mythen, Zitate und Traumbilder dienen ihm als anspielungsreiche Quellen für das verschlüsselte Aussprechen seiner Obsessionen, Ängste, Begierden und Visionen.  Indem er jede Stilverbindlichkeit ignoriert und sich das Motivrepertoire der Kunst- und Kulturgeschichte von der Antike bis in die Moderne dienstbar macht, nimmt er die postmoderne Attitüde einer freien Figuration vorweg, die wesentlich jüngere Kollegen erst zwei Jahrzehnte nach ihm erproben werden.

Seit Karl Kunz seine Saarbrücker Lehrtätigkeit 1960 beendete, hat er in den nachfolgenden Jahren viele Reisen nach Frankreich, Spanien und Italien unternommen, von denen er zuhause Mappen voller Bleistift- und Pastellzeichnungen aufbewahrt. Am 28. Juni 1966 berichtet er dem Sohn Wolfgang: „Meine Spanienreise Frankfurt – Frankfurt 7000 km, war nicht von Pappe und es gab allerlei Höhepunkte, so die Kathedrale von Burgos, Cuenca, die verwunschene Stadt Prado, Cordoba, Granada […]. Seit meiner Rückkehr male ich Kathedralen.“[38] Vor den mächtigen Kirchen – oft in engen Straßen – entstehen seine Architekturzeichnungen, auf denen die Fassaden durch Schrägstellung und verzerrte Perspektivik eine Verlebendigung und Dekonstruktion ihrer Monumentalität erfahren. Kunz verleiht den steinernen Bauwerken durch das instabile Prinzip seiner Zeichnungen „einen organischen Charakter und stellt Gebäude dar, die gleichsam in Bewegung geraten sind“.[39]

In Venedig fasziniert ihn die Morbidezza des Bauzierrats an den Renaissance- und Barockpalästen, die er durch farbige Akzentuierung mit der Pastellkreide besonders hervorhebt. Bilder wie >Venezianische Impressionen< und >Venezianische Verkündigung< (beide 1965) konstruieren aus den Architekturzeichnungen ein Gebäuderaster, das sich durch eine Reihe ins Bild eincollagierter Fotografien und Kunstpostkarten mit den Reproduktionen von venezianischen Denkmälern und Gemälden zu einem polyphonen Erlebnispanorama der Lagunenstadt zusammenfügt. [Abb. 27] Eine letzte Auslandsreise führt ihn 1969 nach Rom, wo er in der Villa Massimo einen dreimonatigen Ehrenaufenthalt verbringt.

Zunehmend von Krankheit und Todesahnungen gezeichnet, malt Karl Kunz im August 1969 mit den >Badenden< eine alptraumhafte Todesparabel, auf der er sich wohl selbst mit dem Ertrinkenden am unteren linken Bildrand identifiziert. Die ins Wasser steigenden Mädchen schauen mit hämisch aufreizendem Lächeln auf ihn herab, wobei das linke im nächsten Moment einen Stein auf ihn schleudern wird. Regungslos beobachten zwei dunkle Gestalten aus dem Hintergrund das schauerlich-groteske Geschehen. In gleichnishafter Bildsprache bringt das Gemälde zur Darstellung, was Karl Kunz 1971 kurz vor seinem Tod in einem Brief an den Kunsthistoriker Gustav René Hocke über sich und sein Werk in Worte fasst: „Ich bilde mir ein, dass ich ein Bild gebe, das eine Entsprechung zu dem ist, was das Leben mir zuführte und mir antat, im Guten wie im Schlechten. Es war ein Leben voll von Grausamkeit, Mord und Wahnsinn, aber auch voll von Liebe, Süße, Schönheit. Und so bunt, so voll von Spannungen und Widersprüchen möchte ich mein Werk sehen.“[40]

An der Eröffnung seiner Ausstellung im neuen Holbeinhaus von Augsburg im März 1971 kann er nicht mehr teilnehmen, er fühlt sich nicht wohl. Am 21. Mai 1971 stirbt Karl Kunz in Frankfurt und wird im Augsburger Grab seiner Eltern beigesetzt.

 

Anmerkungen


[1]  J. A. Schmoll gen. Eisenwerth: Der surrealistische Maler und Zeichner Karl Kunz oder „Das wohlkomponierte Chaos“, in: Karl Kunz (1905-1971) Werkverzeichnis der Gemälde und Skulpturen, bearbeitet von Claudia Denk und Christina Krügl auf der Basis des Œuvre-Archivs von Michael Kunz, Ketterer Kunst Verlag, München 1996, S. 25.

[2]  Rede von Wolfgang Kunz zur Eröffnung der Ausstellung >Karl Kunz< im Theater Augsburg am 20. November 2005 anlässlich des hundertsten Geburtstags seines Vaters, Typoskript.

[3]  Mit der Ausstellung >Magnum Opus – Hans Hofmann< bietet die Pfalzgalerie in Kaiserslautern 2013 eine erste große Retrospektive auf das Schaffen von Hans Hofmann. Geprägt von der École de Paris, wo er ab 1904 die Bekanntschaft mit Picasso, Chagall und Braque machte, war Hofmann in den 1920er Jahren ein Stilpluralist, der alle Strömungen der Avantgarde in sich aufsog. In den USA, wo er ab 1930 lebte, wurde er zum Anreger der Abstrakten Expressionisten, nachdem er die Gegenständlichkeit in seinen Bildern zugunsten einer expressiven Farbwirkung stark reduziert hatte.

[4]  Angela Dolgner: Karl Kunz – ein deutscher Surrealist, in: Ein deutscher Surrealist – Karl Kunz (1905-1971). Retrospektive im Kunstforum Halle, Halle (Saale) 2008, S. 3.

[5] Angela Dolgner: Die Ausstellung >Hahs und sein Kreis< 1931, in. Erwin Hahs, Doris Keetman. Die frühen Jahre, Ausst.-Kat. Kunstverein >Talstrasse< e.V., Halle (Saale) 2006, S. 46.

[6]  Fritz Löffler: Die 2. Deutsche Kunstausstellung in Dresden und die westdeutsche Malerei, in: Zeitschrift für Kunst, 3(1949), H. 4, S. 280.

[7]  Auszüge aus den Briefen von Karl Kunz an den Maler und Fotografen Heinz Menzel (1935-1989) wurden vom Sohn des Künstlers, Wolfgang Kunz, zur Verfügung gestellt. Laut brieflicher Information des Sohnes (17. Mai 2013) waren Heinz Menzel und Fritz Winter die einzigen Kollegen, mit denen Karl Kunz auch in der Zeit des Dritten Reiches Kontakt hielt. Winter war von Halle nach Diessen am Ammersee gezogen. Menzel, der gegen Ende des Halleschen Studiums auch die Fotoklasse an der Burg besucht hatte, fand nach der Machtergreifung Hitlers Unterschlupf in der Fotoabteilung des kunsthistorischen Instituts in Marburg, das von Richard Hamann geleitet wurde. Der renommierte Kunsthistoriker entsandte Menzel in die Museen mehrerer europäischer Länder, um dort Kunstwerke für kunsthistorische Studien zu fotografieren. Menzel hat für Kunz auch die meisten Schwarzweißfotografien erstellt, die von dem 1944 in Augsburg verbrannten Gemäldefundus noch existieren. Alle Briefe und Postkarten, die er von Karl und Ilse Kunz erhielt, hat er aufbewahrt. 2010 wurden sie von Menzels Kindern Wolfgang Kunz geschenkt.

[8]  Ebd.

[9]  Zitiert aus der Rede von Wolfgang Kunz am 20.11. 2005 (wie Anm. 2).

[10]  Siehe dazu auch Schmoll gen. Eisenwerth in: Karl Kunz Werkverzeichnis 1996 (wie Anm. 1), S. 39.

[11] Werner Spies verweist beispielsweise auf den Artikel >Entartete Kunst auf der Pariser Weltausstellung. Picasso und Gutfreund, zwei Leuchten des Kulturbolschewismus<, der in der Niedersächsischen Tageszeitung, Hannover, am 2. September1937 erschienen ist. Siehe dazu Werner Spies: Picasso. Die Zeit nach Guernica, in: Ausst.-Kat. Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz u. a., Verlag Gerd Hatje, Stuttgart 1993, S. 20f.

[12]  Angela Schneider: „Picasso in uns selbst“, in: Ausst.-Kat. Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land hg. von Eckhart Gillen, Martin-Gropius-Bau, Berlin 1997, S. 539.

[13]  Annette Doms: Neue Wege. Über die Situation und Rezeption moderner Malerei in der Münchner Nachkriegszeit, Diss. München 2004, S. 126.

[14]  Zitiert nach einem brieflichen Bericht von Karl Kunz am 13. Mai 1946 an den Freund Heinz Menzel.

[15]  Hans Eckstein: „Extreme Kunst“ in Augsburg, in: Süddeutsche Zeitung, 25. Februar 1947, S. 3.

[16]  Juliane Bartsch: Ausstellung >Extreme Malerei<, in: Schwäbische Landeszeitung, 7. Februar 1947. (Nach ihrer Heirat mit Franz Roh wird die Autorin unter dem Namen Juliane Roh publizieren.)

[17]  Die Künstler der Ausstellung sind Alfred Arndt, Hermann Blumenthal (†), Carl Crodel, Otto Dix, Heinrich Ehmsen, Hans Grundig, Josef Hegenbarth, Carl Hofer, Käthe Kollwitz (†), Otto Lange (†), Oskar Nerlinger, Max Pechstein, Karl Schmitt-Rottluff. Der seit 1946 wieder an der Kunstschule der Burg Giebichenstein lehrende Crodel ist mit 11 Gemälden und 6 Papierarbeiten vertreten, die alle vor 1945 entstanden sind.

[18]  Siehe dazu Dorit Litt: Mohn vor der Reife. Künstlerische Selbstbehauptung in der DDR am Beispiel der halleschen Malerei in den Nachkriegsjahren, in: Begleitbuch zur Ausstellung Abschied von Ikarus. Bildwelten in der DDR – neu gesehen, Neues Museum Weimar 2012, S. 105ff.

[19]  J. A. Schmoll gen. Eisenwerth (wie Anm. 1), S. 33.

[20]  Hans Gerhard Evers (Hg.): Erstes Darmstädter Gespräch – Das Menschenbild in unserer Zeit, Darmstadt 1950, S. 150.

[21]  Ebd., S. 152.

[22]  J. A. Schmoll gen. Eisenwerth (wie Anm. 1), S. 51.

[23]  Robert Motherwell: The Modern Painter’s World, zuerst veröffentlicht in: Dyn. The Review of Modern Art, 6. November 1944, S. 9-14.

[24]   Siehe dazu das Kapitel „Einflussnahme der Politik auf die Kunst“ in: Karin Thomas: Blickpunkt Moderne. Eine Geschichte der Kunst von der Romantik bis heute, Köln 2009, S. 295ff.

[25]  Max Ernst, in: Edouard Roditi: Dialoge über Kunst [1960], 2. veränd. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 101.

[26]  Ebd.

[27]  Weitere Exponate von Karl Kunz auf der Biennale Venedig von 1954 sind >Café Maxim< (1946) und >Der unerwartete Gast< (1951).

[28]  Vgl. Christine Fischer-Defoy  (Hg.): Karl Hofer. Ich habe das Meine gesagt. Karl-Hofer-Gesellschaft, Berlin 1995, S. 40f. und S. 234 sowie Myriam Maiser: Der Streit um die Moderne im Deutschen Künstlerbund unter dem ersten Vorsitzenden Karl Hofer, Diss. Freie Universität Berlin 2007, S. 11ff.

[29]  Myriam Maiser (wie Anm. 28), S. 14.

[30]  Werner Haftmann erwähnt Karl Kunz auch nicht in seinem Standardwerk „Malerei im 20. Jahrhundert“, das – 1954 erstmals erschienen  – vier weitere, teils überarbeitete Auflagen erhielt. In den DKB wurde Karl Kunz erst 1968 aufgenommen.

[31]  1965 erscheint im Lübbe-Verlag, Bergisch Gladbach, eine Buchausgabe der >Einundsechzig Illustrationen zum Inferno der Göttlichen Komödie des Dante Alighieri< in einer  Auflage von 1000 Exemplaren mit einer Einleitung von Max Bense. Nachdruck der Einleitung in: Karl Kunz. Das grafische Werk 1923-1971, hg. Von Jo Enzweiler, Saarbrücken 2013, S. 15-17.

[32]  Wolfgang Kunz: Erinnerungen an meinen Vater, in: Karl Kunz. Das grafische Werk (wie Anm. 31), S. 211.

[33]  Ottmar Bergmann: Der Maler Karl Kunz – ein Zeichner höchster Eloquenz, in: Karl Kunz. Das grafische Werk (wie Anm. 31), S. 9.

[34]   1964 gehört Robert Rauschenberg nicht zu den auf der documenta 3 gezeigten Künstlern. Das unter der Leitung von Werner Haftmann agierende Auswahlgremium ignoriert ihn trotz seiner internationalen Reputation und der Auszeichnung mit dem Großen Preis für Malerei auf der Biennale Venedig. Stattdessen präsentieren Haftmann und Grohmann noch einmal in aufwendigen Inszenierungen die informelle Malerei, womit sie jedoch die vehemente Kritik der internationalen Presse auf sich ziehen.

[35]  Ulrike Schmidt-Schwarz: Karl Kunz  Das grafische Werk, in: Karl Kunz. Das grafische Werk (wie Anm. 31), S. 13.

[36]  Brief von Karl Kunz an Renate Axt, Darmstadt, 23. Oktober 1965.

[37]  Briefnotiz von Karl Kunz an Heinz Menzel, 27. November 1960.

[38]  Wolfgang Kunz: Erinnerungen an meinen Vater, in: Karl Kunz. Das grafische Werk (wie Anm. 31), S. 210.

[39]  Ulrike Schmidt-Schwarz: Karl Kunz  Das grafische Werk (wie Anm. 35), S.14.

[40]  Ebd.

 

Quelle: Karl Kunz – neu entdeckt. In:   Karl Kunz (1905-1971), Ausst.-Kat Von der Heydt Museum, hrsg.von Antje Birthälmer und Gerhard Finckh, Wuppertal 2014 S.15-57

2013 Heribert Ottersbach – Bilder der 1980er Jahre

Karin Thomas

Bilder aus dem Proberaum der 1980er Jahre

Nach den Zwängen der nationalsozialistischen Diktatur hatte die deutsche Kunst für mehr als zwei Jahrzehnte die bildnerische Manifestation ihrer Freiheit im Drang nach dem absolut Individuellen und Neuen gesucht. In dem Maße, wie sie sich dabei einer unkontrollierten abstrakten Expressivität hingab, verlor sie ihre vielschichtigen Traditionen aus dem Blick und verzichtete auf eine kritische Durchleuchtung der politischen und kulturellen Geschichte, innerhalb der sich die Vorkriegsmoderne vollzogen hatte. Erst in den 1960er Jahren fordert eine rebellische Jugend von der Politik, den Wissenschaften und den Künsten die Auseinandersetzung mit der faschistischen Vergangenheit und prangert das Schweigen ihrer schuldig gewordenen Väter an.

Als sich der 1960 geborene Heribert C. Ottersbach in der ersten Hälfte der 1980er Jahre noch während seines Studiums erstmals in der Kölner Kunstszene bemerkbar macht, ist der ideologische Überbau der Moderne ins Wanken geraten. Die Denk- und Anschauungsformen der Künste haben sich in den Umstrukturierungsprozessen der Postmoderne grundlegend gewandelt. Die Generation der in und nach dem Krieg geborenen Künstler polemisiert nicht mehr gegen den Gebrauch abstrakter oder figurativer Bildsprachen, sie nutzt stattdessen alle Stilvarianten, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat und schafft sich ihre ureigene Rhetorik, in die Sinnlichkeit und rationale Skepsis, Spekulation und Traum, Experiment und Fragmentierung gleichermaßen einfließen.

Es ist die Zeit, in der Künstler wie Markus Lüpertz oder Anselm Kiefer die Auseinandersetzung mit dem Faschismus nachholen, indem sie tabuisierte Motive und mythologische Erzählungen, derer sich das „Dritte Reich“ bediente, mitsamt ihrer pathetischen Aufladung reinszenieren. Für Ottersbach sind diese provokanten Animationen faschistisch auratisierter Bilder anregend und herausfordernd, zumal ab 1981 Schriften von Ernst Gombrich und anderen die ikonografische Vergleichsmethodik von Aby Warburg wiederbeleben. Mit ihr hatte der berühmte Kulturwissenschaftler die tiefe Verankerung archetypischer Bildelemente im Kollektivgedächtnis der Menschheit nachzuweisen versucht und diese bis in die Antike zurückreichenden Vorprägungen als „Pathosformeln“ bezeichnet, die im Verlauf der Kulturgeschichte als Zitate immer wieder aufgetaucht sind und dabei freizügige Verwendung gefunden haben.

Die eine suggestive Aura destillierenden Sujets, die Markus Lüpertz um 1980 ins Bild setzt, bekunden mit ihrer sinnlichen Ästhetik die Wirkkraft solcher Pathosformeln, auch wenn sie sich zunehmend von inhaltlichen Botschaften lösen. So haben die >Fünf Bilder über den Faschismus< (1980), wie Armin Zweite konstatiert, „mit konkreter Geschichte nur als Suggestion zu tun“.[1] Da ihre abstrakten Formen die in den einzelnen Bildtiteln (>Gas<, >Manifest<, >Haus der Kunst<, >Widerstand<, >Eva<) angegebenen Inhalte verdunkeln, kann man davon ausgehen, dass Lüpertz mit diesem Bildzyklus „nicht aufklären“, sondern „ein unlösbares Geheimnis“, das der grenzenlosen Bedrückung, beschwören will.[2]

Bei Ottersbach, der in der Frühphase seines Schaffens noch auf der Suche nach dem eigenständigen künstlerischen Weg ist, löst diese Malweise ebenso Faszination wie auch Widerspruch aus. Er eignet sich zwar Pathos als Sprachform und mythologische Topoi als inhaltliches Szenarium an, ersetzt aber die elitäre Haltung, mit der Lüpertz sein Ego in das mythologische Zitat einbindet, durch eine im Malprozess sich vollziehende Dekonstruktion. Im Medium Mythos, einer „nicht-rationalen Erkenntnisform“, reflektiert er „vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen schmerzhafte Verlusterfahrungen zeitgenössischer Existenz“.[3] So rekapituliert er 1985 in seinem sieben Gemälde umfassenden >Polis<-Zyklus archetypische Bilder mitsamt ihrer expressiv-emphatischen Aufladung, unterzieht sie aber der Entzauberung durch Skepsis und Kritik. Während der Titel dieser Sequenz an die antike Stadtkultur der Griechen erinnert, in der die eingefriedete Polis Schutzraum gegen die Naturgewalt und Bollwerk gegen unzivilisierte Barbarei war, bietet sich das architektonische Panorama auf  den Gemälden und Tuschezeichnungen der >Polis<-Bilder als monströse Betonwüste dar, in der die sprichwörtlich gepriesene freiheitliche Stadtluft einem bedrohlichen Funktionalismus gewichen ist. Bezeichnenderweise malt Ottersbach den Zyklus unmittelbar nach einem Studienaufenthalt in New York, wo ihn die Anonymität der Straßenfluchten und Hochhauskulissen beeindruckt und zugleich auch befremdet. Die Megagroßstadt erlebt er als moderne Perversion der Polis, in deren Mauern sich der zivilisatorische Fortschritt in ein System von Zwängen verkehrt hat.

Vergleicht man die >Polis<-Sequenz mit den Lüpertzschen >Babylon<- und >Monument<-Bildern von 1975, mit denen sich Ottersbach als Student wohl auseinandergesetzt hat, so ist ein eklatanter Unterschied evident. Wo Lüpertz mit hellen Farbtönen und voluminösen Zylindersegmenten eine in Draufsicht gesehene abstrakte Hochhausarchitektur als seine Vision von zeitgenössischer Großstadt entwirft, inszeniert Ottersbach ein Jahrzehnt später eine erdrückende Wolkenkratzerakkumulation, in der die Masse Mensch roboterhaft in einen bürokratisch ausgefeilten Verhaltensmechanismus eingebunden wird. Lethargisch und anonym verharren die Großstadtmenschen in einem Raumgefüge, das sie zu fremdgelenkten Körperhüllen degeneriert. Die Prometheus-Figur, die im >Polis<-Zyklus stellvertretend für den Künstler auftritt, ist nicht mehr der den Menschen das Licht bringende Titan, wie ihn die Antike und noch Goethe feierte. Eingetaucht in ein getrübtes Rot gleicht Ottersbach seinen Prometheus der Farbe des Wolkenkratzers, an den dieser gekettet ist, an. Der heroische Gottmensch der Griechen hat sich jener versklavten Existenz anverwandelt, die das steinerne Labyrinth seinen Bewohnern aufzwingt. Die Utopie vom technischen und moralischen Fortschritt verkehrt sich in die Erkenntnis von Selbstentfremdung. Dieses antithetische Prometheus-Profil als Metapher für den modernen Künstler unterstreicht die Skepsis, die Ottersbach schon in seinen künstlerischen Anfängen gegenüber den in den 1970er Jahren vielschichtig wiederbelebten Kräften des Mythos hegt.

Initiator dieser Rückorientierung war schon ein Jahrzehnt zuvor Joseph Beuys mit den christlichen Symbolkontexten und schamanistischen Beschwörungsriten seiner Aktionskunst gewesen. Fortsetzung fand diese Bewegung sowohl in der Spurensuche der „Individuellen Mythologen“ wie auch in den Bildern von Lüpertz und Kiefer, die jeweils auf ihre Weise Erinnerungen und unverarbeitete Geschichtserfahrungen in gemalten Imaginationsräumen zur Wirkung bringen. Wo Lüpertz Gestalten wie Prometheus, Apoll oder Orpheus als Projektionsfiguren seiner Selbstdefinition als Künstler-Individuum einsetzt, unterwirft Ottersbach seine mythologischen Zitate im Vorgang des Malens einer Entmythologisierung. So offenbart er in den >Polis<-Bildern die Fragwürdigkeit des positiven Ordnungsanspruchs, den das archetypische Gesellschaftsbild wieder erinnert.

 

Selbstbehauptung im autonomen Kulturzentrum Stollwerck

Um dieses kritische Potenzial, das Ottersbach schon in seine frühen Arbeiten infiltriert, angemessen zu würdigen, ist es unverzichtbar, einen Blick auf das künstlerische Umfeld und den kulturellen Zeitgeist am Beginn der 1980er Jahre zu werfen. Wesentlich prägender als der Einfluss einzelner Lehrer an der Fachhochschule für Kunst/Design und der Universität Köln wird für den Studenten 1982 der Beginn der Zusammenarbeit mit Kolleg/innen und Kommilitonen, die sich in den ehemaligen Industriehallen der Kölner Schokoladenfabrik Stollwerck zusammenfinden. Seit 1981 beherbergen diese in der Kölner Südstadt gelegenen Industriegebäude des frühen und mittleren 20. Jahrhunderts diverse subkulturelle Gruppierungen. Hausbesetzer erproben hier neue Formen einer herrschaftsfreien Wirtschafts- und Lebenspraxis, Punks und Alternativgruppen finden sich ebenso ein wie die Kölner Musikavantgarde, die Theater- und die Künstlerszene. Innerhalb kürzester Zeit avanciert das Stollwerck zu einem Geheimtipp für internationale und nationale Underground-Musik und freies Theater. Mit der >Hommage to John Cage< startet 1982 eine Serie interdisziplinärer Feste und Veranstaltungen, über deren „kreative Atmosphäre des Chaos“ und „der anarchischen Frische“ ein Kritiker der >Zeit< im November 1982 begeistert berichtet.[4] Während anfangs ein Klima des Misstrauens zwischen der Besetzerszene und den Künstlern herrscht, wird Ingo Kümmel zur Schlüsselfigur der Vermittlung zwischen den im Stollwerck ansässigen und agierenden Gruppierungen, wenngleich er sich hierbei oft zwischen alle Stühle setzt. Sein Organisationstalent ermöglicht ein Musik-Programm von außerordentlicher Spannbreite, das von Auftritten der >Einstürzenden Neubauten<, >Gang of Four<, den >Lounge Lizzards< , den >Toten Hosen<, >Birthday Party<, Walter Moßmann und Andreas Vollenweider bis zu der in Köln beheimateten Gruppe BAP reicht. Ergänzt werden diese Großveranstaltungen von Sprayeraktionen, zahlreichen türkischen Hochzeiten, Seniorenfesten der >Grauen Panther< und einer privaten Geburtstagsfeier Alfred Bioleks.

Im April 1983 gehört Heribert C. Ottersbach mit Michael Bernardy, Hingstmartin, Bruno Toussaint, Ulrich Wagner und Adem Yilmaz zu den sechs jungen Künstlern, die im Stollwerck unter dem Titel >Profil< gemeinsam ausstellen, ohne eine einheitliche Gruppenprogrammatik zu vertreten. Kurze Zeit später wird sich Markus Krips dazugesellen. Individuell ist die jeweilige künstlerische Artikulation, gemeinsam intendieren sie, wie Susann Kleine in ihrem Katalogessay betont, „eine seinerzeit keineswegs selbstverständliche Auseinandersetzung mit dem alltäglichen Leben“.[5]

Das gesellschaftskritische Klima und die politischen Diskussionen im Stollwerck finden ihren Widerhall in der Werksequenz >Machtergreifung<, mit der sich Ottersbach an der Ausstellung >Profil< beteiligt. Eine hünenhafte Kraftgestalt hält drei hölzern wirkende Figurinen mit erstarrter Mimik in ihrem eisernen Griff und zwingt ihnen ihren Willen auf. Ein weiteres Bild trägt den Titel >Der Schoß ist fruchtbar noch…<. Was dem Schoß entsteigt, ist eine uniforme Masse Mensch, die sich einem blindwütigen Kollektivfunktionalismus unterwirft. Leider ist das Bild – wie so manche andere Kunstwerke, die seinerzeit im Stollwerck entstanden sind – beschädigt und danach von Ottersbach zerstört worden, weil eine Restaurierung den damaligen Wert des Bildes überstiegen hätte. In den offenen Werkshallen, die auch von der Drogenszene ständig aufgesucht werden, herrscht zuweilen rohe Gewalt und kriminelles Gebaren, das vor den Ateliers der Künstler nicht Halt macht.

Die Ausstellung >Profil< wird für die jungen Newcomer auf der internationalen Kunstbühne ein beachtlicher Erfolg, denn sie kann anschließend in die Rote Fabrik von Zürich sowie in das Provinciaalmuseum der belgischen Stadt Hasselt weiterwandern. Für Ottersbach beginnt nach der >Profil<-Ausstellung zudem eine kontinuierliche Zusammenarbeit mit der Kölner Galeristin Janine Mautsch.

Im Stollwerck formieren sich die Künstler in der Folgezeit je nach Arbeitssituation zu wechselnden Ateliergruppierungen. Parallel zur Art Cologne organisieren sie im November 1983 unter dem Titel >Die Freien< eine weitere Ausstellung, die in der Maschinenhalle stattfindet. Ein Jahr später, im November 1984, folgt die alle Stollwerck-Räume mit einbeziehende Ausstellungsaktion >DAVUL – Deformance<, die nach dem Beschluss der Stadt, die Stollwerck-Produktionshallen abzureißen, als >Requiem für das Stollwerck< firmiert. Hauptorganisator ist Ingo Kümmel, der u. a. auch von den Graffiti-Künstlern Marcus Krips und Klaus Winterfeld unterstützt wird. Der Teilnehmerkreis an >DAVUL – Deformance< ist breit gefächert, zu ihm gehören Rezitatoren und Theatermacher, die Fluxus-Aktionisten Al Hansen und Ben Vautier, Kostümbildner und Designer sowie die Musikperformer Michael Karoli, Holger Czukay und Jan Wobbel. Dem Ausstellungsarrangement von Hingstmartin, Ottersbach und Adem Yilmaz hat Stephan Schmidt-Wulffen im Katalog eine ausführliche Beschreibung gewidmet. Da Yilmaz die Maschinenhalle in einen „Kunst-Tempel“ verwandelt hat, gibt seine „Raumordnung“ die „Grammatik der Interpretation“ vor. [6] Die Kunst wird in dem Maß, wie sie sich gegenüber dem Außen abgrenzt, zum Ritualraum, indem sie sich selbst und ihre Rezipienten beunruhigt. „Sie ist“, so Schmidt-Wulffen, „das Bild einer anderen Ordnung. Auf der bunten Ornamentik der Wände und Böden tummeln sich Geister.“ Das Publikum, das sich in diesen Raum begibt, soll eine fremde Welt betreten, in der „Kunst in die Nähe der Religion“ gerückt wird. Heribert C. Ottersbach hat seinen Ausstellungsbeitrag ostentativ von der Sakralisierung ferngehalten. Eine Ansammlung weißer Styroporplatten weckt die Vorstellung einer Eisschollenwüste. Auf ungeordnet verteilten Holzlatten liest der Besucher die Aufforderung“, durch die Wüste der Sinnlichkeit“, gemeint ist damit der Formen- und Farbenrausch des Kunsttempels, „das ewige Packeis der Erkenntnis“ zu suchen. Der sakralisierten Kunst setzt Ottersbach die Symbiose der Kunst mit den nicht endenden Mühen der Erkenntnis entgegen. Seine Distanz gegenüber dem Überwältigungsanspruch, den Adem Yilmaz mit seinem Kunst-Tempel intendiert und der diesen in das Totalerlebnis des Gesamtkunstwerks einzubinden trachtet, unterstreicht Ottersbach darüber hinaus mit einer zwischen Ironie und Magie changierenden Installation, die er in den Vorraum der Maschinenhalle platziert. Hier empfangen den Besucher mehrere 2,40 Meter hohe Stelen, auf deren vier Schauseiten jeweils eine monumentale Maske befestigt ist. Der Künstler hat sie von seinem New York-Aufenthalt mitgebracht. Angeregt von der Ausstellung des Museum of Modern Art >Primitive Art< provoziert Ottersbach mit der kafkaesken Dämonie der Gesichter ein verunsicherndes Vexierspiel, in dem Erschrecken und Faszination ineinanderfließen. Das archaische Maskenbild, dessen Bildrhetorik den Verführungszauber des Kunst-Tempels bannen soll, besitzt einen doppelten Boden: Es erweitert sich zur Metapher eines aus vielschichtigen Ursachen hervorgehenden existenziellen Ausgesetzseins.

1982 erscheint ein Buch, das unter dem sprechenden Titel „Hunger nach Bildern“ die Situation der Kunst am Beginn der 1980er Jahre beschreibt. In ihrer einleitenden Kommentierung der deutschen Kunstgeschichte seit 1945 diagnostizieren die Autoren Wolfgang Max Faust und Gerd de Vries eine generelle „Umstrukturierung“ der bislang relativ linear verlaufenen Entwicklung in ein „Patchwork“ paralleler Möglichkeiten. Mit der Kölner Gruppe >Mülheimer Freiheit<, der die renommierte Galerie Paul Maenz viel beachtete Ausstellungen widmet, vollzieht sich dieser Paradigmenwechsel auch in der rheinischen Metropole. [7] Skizzenhafte Bildentwürfe und maskenhaft schematisierte Physiognomien, ungestüme Pinselstriche und expressive Farbgebärden, mit denen diese jungen Wilden vielfach operieren, hinterlassen deutliche Spuren in Ottersbachs frühem Œuvre, verselbstständigen sich aber nicht zu einer Attitüde subjektivistischer Ironie, wie sie bei den Künstlern der >Mülheimer Freiheit< bildbestimmend ist. Wo viele andere seiner Generation dem Reiz der technischen und elektronischen Medien erliegen, vertieft sich Ottersbach mit wachsender Konsequenz in die Malerei und die sie begleitende Zeichnung. Im Vorgang der Bildfindung schlagen sich seine Interessen nieder und konkretisieren sich seine Gedanken. Im Prozess des Farbauftrags öffnen seine Motive ihren Konnotationsraum für literarische Anspielungen und ideologiekritische Sichtungen.

Malerei als sinnliches Denken

Schon die ersten Gemälde und Zeichnungen formieren sich zu Sequenzen, die es dem Künstler erlauben, eine Thematik eingehend zu umkreisen, zu kommentieren und „in eine Montage multifokaler künstlerischer Äußerungen“ auszudehnen.[8] Dieses Werkkonzept der Zyklen beginnt 1984 mit der introspektiven Bildergruppe >Sich selbst nie sein<. Der Vorgang des Malens, der als ein Akt des Sichselbstbegreifens von emotionalen Erschütterungen ausgelöst wird, erweitert sich in ein Reflexionsterrain, das hinter den irritierenden Erfahrungen von Qual, Aggression und Fremdsein die sich ständig reproduzierenden Grundmuster menschlichen Verhaltens offenlegt. Zum existenzialistischen Grundton  dieses Zyklus korrespondieren die malerischen Mittel: eine von Unruhe getriebene Figurenzeichnung verbindet sich hier mit einer auf starke Hell-Dunkel-Kontraste abzielenden expressiven Farbgebung. Und doch sublimiert die sequenzhafte Bildfindung den subkutanen Blick in die eigene Psyche auf einer über das Persönliche hinausgreifenden Bühne, die mit protagonistischen Figuren paradigmatische Konflikte zwischen dem Individuum und der Gesellschaft inszeniert und somit die selbsterforschende Haltung in einen allgemeinen Kontext überleitet.

Auf den nachfolgenden >Polis<-Bildern repräsentieren diese entindividualisierten Rollenträger den marionettenhaften Menschentyp der modernen Großstadt, der von den erdrückenden Zwängen einer volltechnisierten Zivilisation gelenkt wird. Eindrücke, die der Künstler während seines New York-Aufenthaltes erworben hat, transformieren sich in der Wiedererinnerung des künstlerischen Vorgangs zu gesellschaftspolitischen und geschichtsphilosophischen Reflexionen, für die Ottersbach mit dem Zitat der antiken Polis eine von Pathos getragene metaphorische Bildsprache schafft.

Das Entleihen solcher Pathos-Topoi aus der Tradition ist um 1984 sowohl in der Literatur als auch in der Bildenden Kunst mehrfach anzutreffende Praxis.

Als Ottersbach dieses Verfahren erprobt, bringt das Kölner Schauspielhaus gerade den deutschen Teil des weltweit viel beachteten interkontinentalen Gesamtkunstwerks >the CIVIL warS< von Robert Wilson zur Aufführung. Als Menschheitsdrama handelt >the CIVIL warS< von den immer wiederkehrenden Kriegen und von den Menschen, die sie ausführen und die sie erleiden. Den deutschen Teil, den der amerikanische Theateravantgardist gemeinsam mit dem Dramatiker Heiner Müller erarbeitet hat, bestimmen von surrealer und traumhafter Zeitlupendehnung getragene Bilderszenen, in denen der Preußenkönig Friedrich der Große, eindrucksvoll gespielt von der Schauspielerin Ingrid Andree, die düstere Rolle eines Kriegsgottes einnimmt. Erbarmungslos schickt er seine Soldaten in den Tod. Kriege bestimmen die Epochen der Menschheitsgeschichte, wurden verklärt zu Mythen und Märchen, in denen machthungrige Väter und Söhne einander nach dem Leben trachten. Als Robert Wilson und Heiner Müller die Möglichkeiten ihrer Zusammenarbeit erkundeten, erzählten sie sich gegenseitig Schlüsselepisoden aus ihrer frühen Kindheit. Wo Wilson sich an die typischen Bilder eines Kindes in friedlicher Umgebung erinnerte, hatten sich in Heiner Müllers Gedächtnis die Ereignisse jener Nacht eingegraben, in der sein kommunistischer Vater von SA-Schergen verhaftet wurde. Beide brachten auf diese Weise eigene Erfahrungen in einen übergreifenden historischen Zusammenhang.

Heribert C. Ottersbach hat den Kölner Teil  von >the CIVIL warS< gesehen, zumal mit Franz-Josef Heumannskämpfer ein Klangcollagenkünstler der >DAVUL – Deformance< zu den Schauspielern der Kölner Aufführung gehört. Anregungen, die er aus diesem Ideen-Panorama bezieht, verbinden sich mit Einflüssen aus der Filmkunst. In dieser Hinsicht nennt Ottersbach im retrospektiven Blick auf seine frühe Schaffensphase vor allen anderen Stanley Kubrick und Ingmar Bergman. Thematische Nähen zu Ottersbachs späterem Väter-Söhne-Zyklus lassen sich z.B. aus Kubricks >Clockwork Orange< (1969) herausfiltern, beschreibt doch der amerikanische Regisseur in diesem Film die große Nähe von Gewalt, Banalität und inszenierter Schönheit. Bergmans Filmkunst wiederum vermittelt dem jungen Künstler nicht nur thematische Affinitäten in der Darstellung eines durch die Zeitläufte irritierten Bürgertums, sondern auch die Wirkkraft bühnenhafter Inszenierungen und einer Montagetechnik, in der sich gegenwärtiges und vergangenes Geschehen, Anschauung und Reflexion ineinander verzahnen.

So gewinnt der Väter-Söhne-Konflikt, den Ottersbach in einer epischen Erzählung und in einer Sequenz ausgereifter Bilder ausformuliert, Schlüsselbedeutung für das Werkverständnis des Künstlers. In einer aus zehn Blättern bestehenden Serie von Tuschezeichnungen mit handschriftlich eingefügten Texten entwirft Ottersbach das Thema als ein zeitlos gültiges Drama.[9] Dabei erzählen die Texte keine Episoden, sondern sie enthüllen den Väter-Söhne-Konflikt als Grundmuster eines seit zivilisatorischen Frühzeiten sich perpetuierenden Wechselspiels von Gewalt und Furcht, Macht und Demütigung. Durch das bildliche Vernetzen von Wort und Zeichnung kann Ottersbach hier verschiedene antik-mythologische und religionsgeschichtliche Stoffe, die Bestrafung des ungehorsamen Prometheus durch den Göttervater Zeus, den Vatermord des Ödipus oder das Sohnesopfer Abrahams zu einer hybriden Bildgeschichte synthetisieren.[10] Mit einer Sprachgestik, die das Pathos von Heldendichtung simuliert, scheinen die Tuschezeichnungen eine mythisch aufgeladene Weltdeutung zu liefern. Doch dieser Eindruck wird von einer ironischen Brechung unterlaufen. So kontrastiert schon im Introitus der handschriftlichen Erzählung die banale Komik der müde an ihren Daumen lutschenden Stammesväter zu der pathetischen Schilderung  des kosmischen Auf- und Abtauchens von Sonne und Mond.

In den vor und zeitgleich mit dem Tuschezyklus entstehenden Gemälden verzichtet Ottersbach auf die narrative Komponente. Großflächig gesetzte Farbräume überziehen die einzelnen Bilder mit einer schwermütigen Stimmung, in die sich der Machtkampf der Väter und Söhne als scheinbar unabwendbares Ritual einschreibt. Doch auch in diese Fassung des Väter-Söhne-Zyklus implantiert der Künstler Bruchstellen. So wird aus kulissenhaften Beleuchtungseffekten und theatralisch übersteigerten Figurenarrangements eine subtile Dekonstruktion wirkmächtig, die das Drama aus seinem überhöhenden Gültigkeitsanspruch herausholt und in eine entmythologisierte Parabel umwandelt. Wir, die erste auf den Zweiten Weltkrieg zurückschauende Generation, sehen uns als Betrachter aufgefordert, in die Parabel die Geschichte unserer Väter mit ihren faschistischen Rechtfertigungsideologien für Rassenwahn, Krieg und Völkermord hinein zu lesen.

Signifikant ist das Schlussbild, in dem der zerstörerische Kampf der Generationen und die Vorherrschaft von Ideologie und Macht in der Inszenierung eines monumentalen Denkmals für die toten Väter gipfelt. Literatur und Kunst verbrämen Gewalt und die mangelnde Sühne mit der Weihe des Erhabenen und liefern auf diese Weise den Protagonisten der Macht über ihr Ende hinaus die Strategien der Mythenbildung.

Als Ottersbach mit dem Väter-Söhne-Zyklus erste ideologiekritische Sondierungen der deutschen Geschichte in seine Malerei unterschwellig hineinholt, ist der „Hang zum Pathos“ für den Künstler ein virulenter Erfahrungshorizont innerhalb der interdisziplinären  Stollwerck-Aktionen geworden. Von Oktober bis Ende Dezember 1986 findet unter dem Motto >100-Tage-Stollwerck< die Großveranstaltung >Stollwerckumenta< statt, als deren Kernstück die Ausstellung >Der Hang zum Pathos< gedacht ist. Gemeinsam erarbeiten Ingo Kümmel, Adem Yilmaz und Heribert C. Ottersbach die Konzeption der >Stollwerckumenta< . Den gedanklichen Umkreis für die Ausstellung >Der Hang zum Pathos< konzipiert Ottersbach, der auf Vermittlung von Eckhart Gillen und der Autorin auch ostdeutsche Künstler aus der subkulturellen Szene der DDR, unter ihnen Wolfram Adalbert Scheffler, Lutz Dammbeck, Thomas Florschuetz und Ralf Kerbach zur Teilnahme motivieren kann. Ihre künstlerischen Beiträge offenbaren eine von Fragmentierungen gezeichnete Selbsterfahrung, für die das heile Menschenbild der sozialistischen Ideologie angesichts der allgemeinen Erstarrung der DDR-Gesellschaft eine Karikatur geworden ist. Nicht zuletzt weil es zuvor außer den >Tiefen Blicken< in Darmstadt noch keine Ausstellung im westdeutschen Raum gegeben hatte, in der sich die subkulturelle Szene aus der DDR in dieser Breite darzustellen vermochte, kann >Der Hang zum Pathos< das Interesse der internationalen Kunstöffentlichkeit auf sich ziehen.

Während Yilmaz die im Stollwerck immer wieder angestrebte interdisziplinäre Verschränkung der Künste mit der Vorstellung eines Totalereignisses und Gesamtkunstwerkes in Verbindung bringt, ziehen andere Stollwerck-Künstler, unter ihnen besonders Ottersbach, vor ihrem Auszug  1987 aus den Fabrikhallen und dem sich daran anschließenden Abriss eine eher von Ernüchterung geprägte Bilanz, die der Vorstellung von „Totalereignis“ mit deutlicher Skepsis begegnet. In eines seiner Notizbücher schreibt Ottersbach den Satz: „Das Interessante am Gesamtkunstwerk ist eigentlich immer sein Scheitern.“[11]

Die Idee des Gesamtkunstwerkes war 1983 durch die von Harald Szeemann für das Kunsthaus Zürich kuratierte Ausstellung >Der Hang zum Gesamtkunstwerk< wieder virulent geworden, zumal Szeemann die Spannweite der Exponate und diskutierten Werkkomplexe von der Romantik und Richard Wagner bis zu Anselm Kiefers „heroischen Sinnbildern“ und Hans Jürgen Syberbergs >Hitler<-Film von 1977 ausdehnte. In seinem Katalogessay zur Ausstellung hatte sich Bazon Brock um eine begriffliche Klärung bemüht. Pathosformeln, Rituale und Mythensetzungen filterte er in diesem Zusammenhang als strategisch nutzbare Stimulanzien heraus, mit deren Wirkkräften Künstler ihr Publikum auf eine verbindende Utopie  einzuschwören versucht haben. In der deutschen Vergangenheit waren solche Utopien mit dem Anspruch des Totalen ideologisch zur Manipulation der Masse Mensch missbraucht worden. Indem der Katalog zur Ausstellung >Der Hang zum Pathos< den Brock-Essay in seinen begriffskritischen Teilen wieder abdruckt, erhält das Finale der Stollwerck-Ära einen ironischen Unterton, in dem sich Distanz gegenüber der Vorstellung eines zu feiernden Totalereignisses ausdrückt. Die in der Frühphase der Stollwerck-Aktivitäten intendierte Verschränkung einer intermediären Kunstinszenierung mit den alternativen Lebensentwürfen von basisdemokratischen Politgruppen hatte sich in der alltäglichen Präsenz von Drogenkriminalität und Gewalt, den Querelen mit den städtischen Institutionen und den Partikularinteressen der einzelnen Gruppen verflüchtigt. Das Pathos, mit dem man die aktionistischen Energien seinerzeit hoffnungsvoll auflud, erwies sich als eine Attitüde der Überhöhung, das Ziel als eine Fiktion. Zeichnungen, die Ottersbach im Katalog zur Ausstellung >Der Hang zum Pathos< reproduzieren lässt, tragen den Titel >Das Purgatorium<, Fegefeuer. Maskenhafte Köpfe taumeln ohne körperlichen Halt in einem leeren Käfig. In den Bildern des >Polis<-Zyklus von 1985 liefert der an einen erdrückenden Wolkenkratzer gekettete Prometheus das Gleichnis für den im Dienst für die Mächtigen selbstentfremdeten Künstler, hier im >Purgatorium<, begegnen wir ihm wieder, heillos verstrickt in die Ideologien vermeintlicher Weltverbesserung. Für Heribert C. Ottersbach wird diese Erfahrung, in der sich die schon so oft in der Moderne gescheiterte Utopie vom kulturtherapeutischen Auftrag der Kunst wiederholt, ebenso wegweisend für seine weitere künstlerische Arbeit wie die Begegnung mit den Künstlern der subkulturellen DDR-Szene.

Zu den renommierten Gastkünstlern, die an der Ausstellung >Der Hang zum Pathos< teilnehmen, gehört neben Günter Förg, Ludger Gerdes und Jürgen Klauke auch Sigmar Polke. Bereits 1968 hatte dieser mit seinem Programmbild >Moderne Kunst< die scheinbare Bedeutungsschwere der informellen Malerei persifliert, gleichwohl aber mit dem Einfallsreichtum und den Metamorphosen seiner Bildproduktion das Malen immer noch als unverbrauchten künstlerischen Akt eindrucksvoll bestätigt.[12] Wie viele junge Kollegen seiner Generation bezieht auch Ottersbach eminent wichtige Anregungen aus dem postmodernen Polke-Œuvre. Doch ist es weniger die parodistische Unbekümmertheit der Polke-Bildfindungen, die ihn anzieht, als vielmehr deren Herkunft aus einem unerschöpflichen Archiv technischer, medialer und künstlerischer Bildquellen. Polke verkörpert zugleich eine bemerkenswerte Unabhängigkeit, weil er künstlerisch ausschließlich seinem Willen folgt. Für den jungen Künstler ist er das, was dieser selbst sein möchte, ein freier Mann und freier Künstler.

Ottersbach selbst setzt sich verstärkt mit der Geschichte der gesellschaftspolitischen Ideologien des 20. Jahrhunderts und der künstlerischen Moderne auseinander und sucht nach einem eigenen Weg, um diese gedanklichen Kontexte mit seinen malerischen Ambitionen zu verbinden, ohne dabei die verhängnisvolle Utopie der Avantgarde fortzuschreiben, dass Kunst zum moralischen und lebenstechnischen Fortschritt von Individuum und Gesellschaft beitragen könne.

Ottersbach etabliert sich nun zunehmend als Künstler, renommierte Galerien, erste Kunstvereine,  kleinere Museen zeigen seine Arbeiten. Er unterhält ab 1987 ein eigenes Atelier in der Nähe der ehemaligen Stollwerckfabrik, das er aber 1989 wegen Platzmangels aufgibt. Er bezieht nun eine große Hinterhof-Halle in der Nähe des Kölner Ebertplatzes, wo er in komplexen Malexerzitien seinen Bildern eine sinnliche Sogkraft aus dem Atmen der Farben erobert.

Im Prozess eines subtilen Schicht-um-Schicht-Farbauftrags erkundet er die Möglichkeit, in seinen Bildern einen Gedankenraum für das Erinnern geschichtlicher Sinnzusammenhänge zu öffnen. In einer Serie von 27 Zeichnungen mit dem Titel >Dinge des ordentlichen Lebens< (1988)[13]  durchschweift er die Jahre seiner Kindheit und Jugend. Auf dem Blatt >Erziehung< ist nicht mehr als ein Teppich mit sorgfältig gekämmten Fransen zu sehen. Nach den Vorgaben der Eltern mussten die Kinder die Fransen täglich in diese pedantische Ordnung bringen, in der sich eine auf Zucht und Gehorsam ausgerichtete Erziehung widerspiegelt. „Emblematisch verknappt und zugleich mit dem Blick für das präzise beobachtete physiognomische Detail werden Ursachen und Konsequenzen einer verfehlten Geschichte notiert.“[14]

 

Von erfundenen zu gefundenen Bildern

Einen ersten zentralen Gemäldekomplex zum Thema deutsche Vergangenheit bilden unwirtliche Landschaften und Herrschaftsarchitekturen, in deren ruinöser Verlorenheit sich die gescheiterten Weltbilder totalitären Anspruchs allegorisieren. Aus erfundenen Bildern generiert sich das Erinnern von Geschichte. In dem Gemälde >Ninive – die Abreise< (1986/87) konstituiert sich das entworfene Szenario aus zeitfremden Assoziationen. Archaische Darstellungen von Versklavung, wie wir sie aus der assyrischen und altägyptischen Kunst kennen, verbinden sich mit gigantischen Festungsanlagen inmitten urzeitlicher Landschaft. Die Köpfe, die in militärischer Formation aus den rotbraunen Ackerfurchen herausragen, entsprechen den zu Massenwesen degenerierten Protagonisten, die bereits im Väter-Söhne-Konflikt die Bildbühne bevölkerten. Unter einander austauschbar, sind ihre geöffneten Schädel ohne Gehirn. In ihrer fremd programmierten Marionettenexistenz verkörpert sich das Denkverbot, ein Instrumentarium, mit dem zu allen Zeiten der Zivilisationsgeschichte die Gleichschaltung der Menschen unter das ideologische Diktat eines Machthabers vollzogen worden ist.

Das Gemälde mit dem Titel >Die Regierung< (1987) zeigt eine monumentale Herrschaftsarchitektur im signifikanten Stil Speerscher Bauten für die nationalsozialistischen Massenveranstaltungen in Nürnberg. Als Vorlage verwendet Ottersbach eine Fotografie von Walter Hege, die in der nationalsozialistischen Literatur vielfach abgebildet worden ist. Mit ihrer extremen Schrägperspektive zieht die Fotografie den Blick des Betrachters sogartig in die Bildtiefe hinein.

Bereits ein halbes Jahrzehnt zuvor hatte Anselm Kiefer die Hege-Fotografie benutzt, um aus ihr durch symmetrische Spiegelung der Kolonnadenreihe das kulissenhafte Raumgefüge seiner >Ehrenhofbilder<zu konstruieren. Kiefer übernahm zwar die künstlerisch effiziente Propagandastrategie seiner Vorlage, öffnete ihr aber mit Widmungen wie >Dem unbekannten Maler< Raum für Assoziationen, in denen auf die verhängnisvolle Verbindung zwischen politischer Gewalt und ästhetischer Faszination angespielt wird.[15] Ottersbach setzt die Speersche Pfeilerkolonnade als düstere Ruine einer Herrschaftsmanifestation ins Bild und macht sie als solche zum Gleichnis einer erstarrten, verdunkelten Nationalgeschichte. Ein kasernenartiger Kastenbau, der nichts als Macht bekundet, behütet hinter monumentalen Mauern diese kontaminierte Nationalgeschichte wie einen mythischen Hort und entzieht sie jeder kritischen Sichtung (>Museum der Nationalgeschichte< 1987/88). Was Ottersbach visualisiert, sind verwahrloste Landschaften und unbewohnbare Bauten. Ein fünfteiliger Gemäldezyklus von 1988/89, der den Titel >Erfindung der Bilder< trägt, enthüllt in der Synthese von Bildmotivik und Bezeichnung die malerische Intention der verwüsteten Landschaften und dunklen Architekturmonumente. Als erfundene Bilder sind sie aus der Geschichte herausgehobene Orte der Unkultur, nichtsdestotrotz  aktivieren sie die Imagination von Schlachtfeldern, Folterkammern, Grenzbefestigungen und Weihestätten, deren Widerhall aus der Vergangenheit noch in die Gegenwart hineinwirkt. Das aus delikaten Farbsetzungen erzeugte Pathos dieser Bilder ist subversiv, statt Überhöhung löst es gegenläufige Assoziationen aus.

Ein signifikantes Gemälde mit dem Titel >Geschichte (ist was verschwindet<) leitet 1988 die Werkphase der Landschaften und Architekturen ein. Mit ihm macht Ottersbach deutlich, dass er seine Spurensuche nach den verschütteten Regionen der Geschichte nicht als neue Archäologie in der Ereignishistorie, sondern als einen grundlegenden „Entschlackungsprozess“ begreift[16], in dessen feurigem Schlund alle bisherigen Exegesen verschwinden. So findet der Künstler in der Malerei sein Laboratorium, in dem seine Reflexionen einen permanenten Wechsel der Perspektiven, Zeiten und Räume vollziehen können und damit der Gefahr ausweichen, etwas als endgültig festzuschreiben. 1993 wird das Katalogbuch zu Ottersbachs großer Museumsausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn und anschließend in der Galerie der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig 1994 wie ein generelles Motto den Titel tragen: >Wider die Vollendung<.

Entstanden die Zyklen der 1980er Jahre aus erfundenen Bildern, so zeichnet sich am Ende des Jahrzehnts ein Neuansatz ab. Während die Malerei eine dunkle Verschattung der Bildmotive bis zu ihrem Verschwinden in fast monochromen Farbschleiern vorantreibt, tauchen gleichzeitig die ersten Bestände eines privaten Archivs auf, aus dessen Materialien sich  ein selektierendes Schweifen entlang den Bruchstellen der deutschen Geschichte und der eigenen Biografie herausschälen wird. An die Stelle der Bilderfindung tritt nun ein Prozess der Bildfindung. Tuschezeichnungen und Skizzenbücher speichern eigene Gedanken sowie Anregungen aus literarischen, philosophischen und kulturpolitischen Texten. Auf Reisen abgelichtete Aufnahmen und gefundene Abbildungen liefern den Fundus an Versatzstücken, die Ottersbach wie Skizzen benutzt. Aus ihnen baut er „Phantasiearchitekturen, die beim Betrachter einen Bedeutungshorizont eröffnen, mit dem die konkrete Vorlage nichts zu tun hat“.[17]

1991 vollendet Ottersbach das aus 19 Lithografien bestehende >Walhalla-Projekt<. Auslöser für den Reflexionshorizont dieses Zyklus sind Fotografien, Fotomontagen, Skizzen, und nicht zuletzt auch Zeichnungen von Hitler, die Ottersbach bei seinen Recherchen zur Regensburger Ruhmeshalle zusammengetragen hat. Den um 1840 von Klenze erbauten Tempel mit den Bildnisbüsten berühmter Deutscher bringt er in Beziehung zu Herrschaftsarchitekturen aus unterschiedlichen Epochen und verschiedenen Regionen. Solche Relikte erinnern nicht nur an ihre machtversessenen Auftraggeber und herrschaftshörigen Konstrukteure, auf Ottersbachs Bildern entlarven sie sich auch als sinnliche Zeugen gescheiterter Weltbilder des Totalitarismus.

Erinnern, das in die Bilder drängt

Mehr als 30 Jahre nach der Entstehung im März 1981 zeigt Ottersbach nun erstmals der Öffentlichkeit ein Bild aus seiner frühen Studienzeit, das den Titel >Der deutsche Rummel< trägt. Eine rotierende Apparatur, die – wie die Vorzeichnungen bezeugen – aus einem Jahrmarkt-Kettenkarussell hervorging, ist auf dem Dach mit mehreren schwarz-rot-goldenen Fahnen beflaggt. Die deutschen Fahnen bekunden, dass der Autor des Bildes in der Metapher des sich drehenden  Karussells die revolutionären Umwälzungen in der deutschen Geschichte seit dem Vormärz paraphrasiert. Erinnernde Blicke in die nationalpolitische Vergangenheit, im gegenwärtigen Geschehen zu begreifen, prägte bereits den malerischen Reflexionshorizont des jungen Künstlers, als seine Kommilitonen in der Reaktion auf die Minimal und Concept Art vorwiegend in bunt gemalten Pointen, Bilderrätseln und subjektiver Poesie schwelgten.

So wundert es auch nicht, dass Ottersbach1989 die friedliche Revolution der ostdeutschen Bürger gegen das DDR-Regime und den Fall der Mauer als markanten Einschnitt in sein Leben und sein Werk erfährt. 1996 wird er in einem unveröffentlichten Manuskript rückblickend dazu bemerken: „1989 ist für meine Generation das aufregendste, wichtigste und entscheidendste politische Jahr überhaupt.“[18] Veranlasst durch diese Ereignisse beschäftigt er sich in den nachfolgenden Jahren verstärkt mit den Ursachen und Folgen der deutschen Teilung, die zu den ideologischen Lagerbildungen des Kalten Krieges geführt haben. Er beginnt ein induktives Sondieren in ost- und westdeutschen Archiven, in denen der dokumentarische Nachlass der jüngeren deutschen Geschichte verwahrt wird. Angeregt von der vielgestaltigen Zitatcollage, aus der Walter Benjamin in den 1930er Jahren für sein >Passagen-Werk< auf diversen Streifzügen durch die Archive der Seine-Stadt seine Re-Vision des modernen Paris im 19. Jahrhundert erstellte, sammelt Ottersbach einen umfangreichen Fundus von Foto- und Schriftdokumenten und lässt im Vorgang des medialen Flanierens durch die verschüttete deutsch-deutsche Vergangenheit dem Fluss seiner eigenen Assoziationen freien Lauf.

Es sind nicht die bekannten historischen Dokumente, die seine Aufmerksamkeit anregen, sondern, wie er in einem Gespräch mit Eckhart Gillen darlegt, solche „Materialien, die eine ganz beliebige Alltagssituation repräsentieren, die dann aber aufgrund des Prozesses, in die ich sie einführe, eine andere Bedeutung annehmen.“[19] Die Neuordnung des Materials vollführt Ottersbach im Vorgang seines Malens: „In dem Moment, wo ich dem möglicherweise bereits manipulierten Foto, das ich wie eine Vorzeichnung in das Bild integriere, durch den leiblichen Vorgang des Ver- und Übermalens etwas hinzufüge, habe ich das Foto und damit auch sein Motiv aus der Allgemeinheit aller Fotos in die Besonderheit der Malerei überführt.“[20]

Ottersbachs Annäherung an die deutsch-deutsche Geschichte vollzieht sich nicht über vorgefasste Bedeutungen oder Ereignisbewertungen, sondern über die in den Archivarsenalen abgelagerten und vom Vergessen verschütteten Fragmente. 1995 liest man dazu in seinen Notizen: „Sich Geschichte zu nähern ist der Versuch, ihrem Kontinuum im Vorbeiflug ein Fragment oder Fragmente zu entreißen. Geschichte erschließt sich über das Fragment.“[21] Indem er in seiner Malerei diese Fragmente aus ihren Zeiteinbindungen verrückt und neu zusammenschiebt, taucht in ihrem Nebeneinander eine Ebene des Erkennens von Zusammenhängen auf. Es ist ein ähnlicher Prozess des „unwillentlichen Erinnerns, wie er in dem Roman von Marcel Proust > A la recherche du temps perdu< (1913 – 1927) literarische Konturen erhalten hat. Ausgehend von zufälligen Analogien zwischen diversen Zeitebenen wird dort Vergangenes mit sinnlicher Fülle wiedererweckt. So macht der Romanerzähler im vorletzten Band der >Recherche<die für ihn verstörende Entdeckung, dass er seine verlorene Freundin Albertine vergessen hatte. Doch während er ziellos durch das verschachtelte Gassenlabyrinth Venedigs streift, hat er plötzlich die Assoziation an seine Heimatstadt Combray und erlebt von nun an das lebendige Treiben auf den Kanälen und Plätzen Venedigs als Echo seiner Jugendzeit gemeinsam mit Albertine.

Aus solch aktivem Erinnern gehen die beiden 40-teiligen Arbeiten >o. T. (40 I) von 1992 und>o. T. (40 II)< von 1993 hervor, deren Wandinstallation jeweils zehn Tafeln in vier Reihen anordnet. Die Aufteilung in 40 Tafeln spiegelt einerseits die 40 Jahre geteilter deutscher Geschichte, andererseits steht hinter diesem Nebeneinander die Erfahrung, dass ein Gesamtbild nicht mehr möglich ist. Dennoch folgt die vorgenommene Strukturierung des Bildertableaus einer Absicht. An ihrer Ordnung lassen sich spezifische Analogien ablesen, die Ottersbach bei seinem „vergleichenden Sehen“[22]  der Archivmaterialien aufgefallen sind. Während die auf Leinwand aufkaschierten Fotozitate die Motive der Bilderreihen liefern, überzieht die Malerei die Grauwerte der Fotos mit subtilen Farblasuren, aus deren Wirkung sich das „vergleichende Sehen“ konstituiert.

So stößt Ottersbach in der Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen Strömungen und politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts auf eine bemerkenswerte Kontinuität im Sendungsbewusstsein und in den Erneuerungsansprüchen, die ganz unterschiedliche Jugendbewegungen vertreten haben.

Dieser Seherfahrung widmet Ottersbach 1994/95 die 44-teilige Arbeit >o. T. (Jugend)< und legt in den vier Mal elf Tafeln die auffallend ähnliche Ikonografie offen, die ihm bei seinen Wanderungen durch die Fotodokumente in den Körpergesten und Ritualen unterschiedlicher Jugendgruppierungen ins Auge gefallen ist. Dabei beschränken sich seien Bildzitate nicht nur auf die Ähnlichkeiten zwischen HJ und FDJ, vielmehr dehnt Ottersbach seine vergleichende Sichtung von den Wandervögeln am Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Hippie-Bewegung,, der Studentenrevolte von 1968 und den RAF-Demonstrationen aus, die er in seiner eigenen Jugend aufmerksam wahrgenommen hat. Schaut man i n die Skizzenbücher, i n denen Ottersbach die Funde seiner Archivrecherche gesammelt und vergleichend aneinandergeschoben hat, so wird offenkundig, dass es dem Künstler nicht um die Geschichte und Struktur der Jugendorganisationen geht, auch nicht um „ihre Programme und politischen Implikationen“, ihn interessiert „der gemeinsame Gestus, die ähnlichen Rituale und Posen, die Unterordnung des Einzelnen ins Kollektiv“.[23] Das Nebeneinander der Bilder setzt Assoziationsketten in Gang, die sich loslösen von dem, was ursprünglich einmal das gefundene Material war. Das Auge registriert die Parallelen von Körperchoreografie und Farbensymbolik, von Uniformkult und Kollektivgeist in den unterschiedlich gesteuerten Jugendorganisationen. Aus der Vergegenwärtigung dieser Bilder im künstlerischen Tableau unabhängig von der Chronologie ihrer Entstehung erwächst ein die Zeitläufte übergreifendes sinnliches Erkennen: Jugendbewegungen waren „der Nährboden“[24]  fanatisierter Strömungen in Politik, Religion und Weltanschauung. Ihr pathetisches Festhalten an einer Heilsversprechung war wirkmächtig bis zur Todesbereitschaft und kollabierte erst mit dem Scheitern ihres verpflichtenden Ideenpotenzials.

Heilsversprechungen, die nicht eingelöst wurden,  findet Ottersbach auch in den avantgardistischen Kunstpostulaten der Moderne. Seine Sondierungen in der Kunstgeschichte reichen dabei von den Modernevätern Mondrian und Malewitsch bis zu den selbsternannten Metaphysikern des Abstrakten Expressionismus. Die zwanghafte Suche nach dem Neuen und der utopistische Anspruch der Avantgarden, die Gesellschaft verbessern zu können, wird Ottersbach in seinen >Modernebildern< (1995-1999 )mit einer guten Portion unterschwelliger Ironie aufgreifen, um ihren Mythos der Innovation durch „urschöpferische Kraft“[25] zu dekonstruieren. Indem er selbst in seinen Bildern, die er inzwischen auch mit Scanner und Fotokopiergerät manipuliert, die Abstraktion als das benutzt, was sie letztlich ist, als Instrument der Camouflage und des Unkenntlichmachens, demontiert sein künstlerischer Schaffensprozess den Ganzheitsanspruch der Moderne.

Dem Kult der Innovation setzt Ottersbach schon im ersten Jahrzehnt seines künstlerischen Schaffens die Wiederbelebung des aus dem kollektiven Gedächtnis Entfallenen, des ins Vergessen Abgesunkenen entgegen. Aus dem Vorgang des Schweifens durch die Bildrelikte der geistesgeschichtlichen und poltischen Vergangenheit schöpft er sein kreatives Potenzial, aus dem heraus das Erinnerte zum „Einfallstor“ für einen neuen anderen Blick wird. Aleida Assmann hat in ihrem Essay >Über die Metaphysik der Erinnerung< dieses Sammeln von Spuren aus der Vergangenheit auf einer zeitenthobenen Ebene als einen sinnlichen Prozess beschrieben, der „in die Bilder drängt“, um sie als Energiespeicher der Kultur zu öffnen.[26]

 

Anmerkungen


[1]  Armin Zweite: Dithyramben und anderes, in: Ausst.-Kat. Markus Lüpertz Gemälde Skulpturen, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1996, S. 27.

[2]  Markus Lüpertz im Gespräch mit Heinrich Klotz, in: Heinrich Klotz: Die neuen Wilden in Berlin, Stuttgart 1984, S. 33.

[3]  Eckhart Gillen: >Prometheus in Mainhattan<, in: Ausst.-Kat. Heribert C. Ottersbach >Ein Mann gibt Auskunft<, Dresdner Bank AG, Frankfurt/M., November 1985 – Januar 1986, S. 10.

[4]  Zit. nach Friedemann Malch: Immer das Leben im Auge behalten. Kulturgeschichte im Stollwerck, in: Ausst.-Kat. DAVUL – Deformance, Maschinenhalle Stollwerck, 1984, S. 81.

[5]   Susann Kleine: Die Zuordnung ist der bequemste Ausweg, in: Ausst.-Kat. >Profil<, Köln 1983, o. S.

[6]   Stephan Schmidt-Wulffen: Maschinenhalle, für Hingstmartin, AdemYilmaz, Heribert C. Ottersbach, in: Ausst.-Kat. DAVUL – Deformance (wie Anm. 4), S. 15.

[7]   Siehe dazu Wolfgang Max Faust/Gerd de Vries: Hunger nach Bildern. Deutsche Malerei der Gegenwart, Köln 1982, S. 15f.

[8]  Klaus Honnef: Die Kunst in der Wissenschaft. Zu einigen Aspekten der Malerei von Heribert C. Ottersbach, in: Ausst.-Kat. Heribert C. Ottersbach – Wider die Vollendung, Rheinisches Landesmuseum Bonn 1993, S. 15.

[9]  >Väter und Söhne<, Unikat 1985/86, 10 Doppelseiten und ein Titelblatt, Tusche. Nachdruck, herausgegeben von Karin Thomas zur Ausstellung von Heribert C. Ottersbach im Museum Morsbroich Leverkusen 1987.

[10]  Karin Thomas: Work in progress – sinnliches Denken, in: Heribert C. Ottersbach. Erinnerte Bilder, Ostfildern-Ruit 1995, S.6.

[11]   Heribert C. Ottersbach: Erinnerte Bilder (wie Anm. 8), S. 48.

[12]  Siehe dazu Werner Hofmann: Die Postmoderne – Ein ästhetischer Kramladen?, in: Ders.: Die Moderne im Rückspiegel. Hauptwege der Kunstgeschichte, München 1998, S. 343f.

[13]  Die 27 Zeichnungen der Mappe >Dinge des ordentlichen Lebens< erscheinen als Faksimileausgabe, herausgegeben von Christiane Vielhaber, in Köln 1988.

[14]  Eckhart Gillen: Genius loci – Malerei als Topografie der Erinnerung, in: Ausst.-Kat. Heribert C. Ottersbach, Galerie Hans Barlach, Hamburg und Köln 1989, S. 6.

[15] Siehe dazu Sabine Schütz: Anselm Kiefer. Geschichte als Material. Arbeiten 1969 – 1983, Köln 1999, S. 327ff.

[16]  Eckart Gillen: Genius loci (wie Anm. 11), S.6.

[17]  Heribert C. Ottersbach: Erinnerte Bilder (wie Anm. 8), S. 48.

[18]  Zit. nach Magnus Christian Gellert: „Scherbenlese des Jahrhunderts“ oder „Erinnerte Bilder“  Die Arbeit >o. T. (Jugend)< von Heribert C. Ottersbach, Magisterarbeit vorgelegt der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1998, S. 12.

[19]   Heribert C. Ottersbach im Gespräch mit Eckhart Gillen, in: Ausst.-Kat. Wider die Vollendung (wie Anm. 8), S. 89.

[20]  Eckhart Gillen/Heribert C. Ottersbach: Blickwechsel – Des Künstlers Blick auf die Moderne, in: Ausst.-Kat. Heribert C. Ottersbach – Modernebilder 1995-1999, Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof 1999, S. 16.

[21]   Heribert C. Ottersbach: Erinnerte Bilder (wie Anm. 8), S. 32.

[22] Bettina Baumgärtel: Was tun mit der Moderne? – Denkprozesse im Werk von Heribert C. Ottersbach, in: Ausst.-Kat. Modernebilder (wie Anm. 20)

[23]   Eckhart Gillen: Scherbenlese des Jahrhunderts. Zu Heribert C. Ottersbach, in: Ausst.-Kat. Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land, Martin-Gropius-Bau, Berlin 1997, S. 389.

[24]   Bettina Baumgärtel (wie Anm. 22), S. 55.

[25]   Ebd., S. 57.

[26]   Aleida Assmann: Zur Metaphysik der Erinnerung, in: Kai-Uwe Hemken (Hg.): Gedächtnisbilder. Vergessen und Erinnern in der Gegenwartskunst, Leipzig 1996, S. 28.

Quelle: Bilder aus dem Proberaum der 1980er Jahre. In: Heribert C. Ottersbach: Bilder aus dem Proberaum. Arbeiten der frühen 80er, Ausst.-Kat. hrsg. von Michael Beck und Ute Eggeling,: Düsseldorf:Beck&Eggeling Kunstverlag 2013 S. 8-41.