2015 Hubertus Giebe: Malen gegen Widerstände

Karin Thomas

Hubertus Giebe: Malen gegen Widerstände

 

„das auffallendste an ihm waren neben dem unkonventionell kurz geschorenen Haar, die ganz hellen Augen, Augen eines Kindes und eines Fanatikers zugleich. Dazu das hastige, hemmungslose Sprechen – die Entladungen eines Menschen, der sehr einsam, sehr in sich selbst lebt, das eruptive Lachen und die Unmöglichkeit, von etwas anderem als Kunst zu sprechen.“[1]  Treffender als es diese wenigen Sätze aus der Feder von Eva Strittmatter vermögen, lässt sich das Psychogramm von Hubertus Giebe nicht umreißen. Als die Schriftstellerin diesen Text 1977 verfasst, ist der 1953 in Dohna geborene junge Mann gerade 24 Jahre alt und versteht sich nichtsdestotrotz schon selbstbewusst als „freischaffender Maler“. Während seiner Wehrdienstzeit vom November 1972 bis Mai 1974 hatte Giebe dem verehrten Literaten Erwin Stritttmatter einen Brief geschrieben, woraus sich nicht nur ein Briefwechsel, sondern auch eine enge Freundschaft entwickelte. Den Wohnsitz der Strittmatters in der märkischen Heide, den Schulzenhof,  erlebt Giebe fortan bei seinen Besuchen als „poetisch-magischen Ort“, von dem er wegweisende Impulse empfängt. Angezogen von den Schätzen der Strittmatterschen Bibliothek, liest er bis tief in die Nächte hinein. Rilke, Gottfried Benn, Carl Einstein, Louis Aragon, Bertolt Brecht und Pablo Neruda gehören schon bald zu seinen Favoriten. Die Lesungen des Hausherrn aus seinen noch unveröffentlichten Manuskripten genießt er als wahre „Sternstunden“ und bringt dabei unermüdlich mit raschen Strichen die markanten Gesichtszüge der Gäste zu Papier. Auf seinen stundenlangen Wanderungen fertigt er ganze Stapel von Zeichnungen und Aquarellen an, auf denen er seinen Dialog mit der Natur und den Wechsel der jahreszeitlichen Stimmungen skizziert. Drei Jahrzehnte später, 2005, wird sich Giebe in einem Eva Strittmatter gewidmeten Rückblick an die Erlebnisfülle seiner Aufenthalte auf dem Schulzenhof erinnern, die im krassen Gegensatz zu seinem von Entbehrungen und Zwängen geprägten Dresdner Studentenalltag standen: „Da draußen erwanderte ich mir die Motive, arbeitete dann versunken, oft stundenlang. Langsam stellte sich ein Ausdruck, ein Klang, ein Rhythmus der Landschaften ein. […] Stille und Schönheit des weiten und kargen Landes wurden vertraut und sprachen.“[2]

In Dresden lebt Giebe seit 1976 als freischaffender Maler und Grafiker „mit befristeter Arbeitserlaubnis“. Absolviert hat er inzwischen nicht nur ein Abendstudium schon als Sechzehnjähriger während seiner Schulzeit, sondern auch nach dem Wehrdienst vier Semester Studium der Malerei und Grafik an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste. Doch seine Lehrer Bammes, Bondzin, Eisel, Michaelis langweilten ihn mit ihren theoretischen Unterweisungen und der Engstirnigkeit ihres linientreuen Sozialistischen Realismus. Eine Ausnahme bildete nur der Zeichner Gerhard Kettner, von ihm wurde er darin bestärkt, seinen eigenen ausdrucksstarken zeichnerischen Duktus zu entwickeln. Was Giebe an der Akademieausbildung vermisst hat, den aktiven Bezug zum Leben, sucht er – ausgestattet mit Zeichenblock und Stift – auf den Straßen von Dresden-Neustadt. Sein bildnerisches Wissen und Können formt sich aus den musealen Begegnungen mit den Alten Meistern in den Dresdner  Kunstsammlungen, aus den Anregungen, die ihm Literatur Philosophie und kunstgeschichtliche Lektüre sowie die Herausforderungen der eigenen künstlerischen Praxis bieten.

Wie sein frühes >Selbstbildnis mit Mohnblumen< von 1974 bezeugt, sieht er sich selbst mit subkutanem Blick als einsamen Beobachter und orientiert sich dabei stilistisch am Verismus der zwanziger Jahre, vorrangig an Otto Dix. Mit der wachsenden Ausprägung seines künstlerischen Wollens verdrängt „das Problematische, Rebellische, Anarchistische, Brutale des Lebens“[3]  die in der Abendakademie praktizierte Nachbildung anatomischer Gefälligkeit. So verwandeln sich die Aktstudien am Ende der 1970er Jahre in marionettenhafte Puppen, mit denen der Maler dem Zustand von Entfremdung ein allegorisches Bild gibt. Auf ihren überlängten Stelzenbeinen wirken diese in Künstlichkeit erstarrten „Puppenkörper hygienisch-steril und wie Produkte der Wegwerfgesellschaft“.[4]

Da Giebe seine Vorstellungen von Malerei an der Dresdner Hochschule nicht verwirklichen kann, beantragt er im September 1976 seine Exmatrikulation mit der Begründung, dass er sich weiter autodidaktisch als Maler ausbilden möchte. Unumwunden bekennt er: „Man kann nicht Jahre in einer Akademie sein, und draußen rollen Menschen und Ereignisse vorüber […]“[5]

Zwei Monate später, am 26. November 1976, vermerkt er die Ausbürgerung Wolf Biermanns in seinem Tagebuch und reflektiert über sich selbst: „Nun bin ich wieder frei, nach Kraftanstrengungen, die fast das Leben kosteten.“ Vor dem drohenden Verbot weiterer künstlerischer Betätigung bewahrt ihn vor allem Gerhard Kettner, der einerseits sein Ausscheiden aus der Hochschule bedauert, aber auch mit Hochachtung den mutigen Schritt des Studenten registriert. 1977 bewirkt Kettners Bürgschaft für Giebe dessen Aufnahme als Kandidat in die Sektion Malerei/Grafik  des VBK- Bezirksverbands Dresden und damit die offizielle Zulassung als freiberuflicher Maler. Im gleichen Jahr vertieft sich die Nähe zwischen den beiden durch Giebes Heirat mit Kettners Tochter Marlies.

1978 kann Giebe sein Studium mit einem extern erworbenen Diplom in Grafik abschließen und verbringt das folgende Jahr an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst als Meisterschüler bei Bernhard Heisig. Wie die Kommilitonen Walter Libuda und Johannes Heisig, mit denen sich Giebe anfreundet, schätzt er das furiose Ausdruckspotenzial, das Heisig aus Ensors  dämonischen Maskeraden, Beckmanns verschachtelten Welttheaterdramen und den Farbexplosionen von Dix, Grosz und Kokoschka für seine Handschrift herausfiltert. Vor allem aber fasziniert ihn die das eigene Ich einbindende Auseinandersetzung Heisigs mit der deutschen Kriegsschuld.  Traumatische Obsessionen und lange Zeit verdrängtes Grauen, das Heisig als junger Soldat erlebte, schlagen sich in sinnbildlichen „Erinnerungskonstrukten“ nieder, die ihre Wirkung bis in die Gegenwart ausdehnen.[6]

Diese aus dem assoziativen Erinnern herausfließende Gestaltbildung  Heisigs ist nun wegweisend für Giebes eigene Malerei, die sich in den 1980er Jahren explizit den politischen und menschlichen Auswirkungen des ideologischen Diktats und des Terrors zuwenden wird.

1979 geht Giebe zurück nach Dresden-Neustadt und wirkt als Assistent von Günter Horlbeck an der Dresdner Hochschule. Die Kontakte zum neoexpressionistischen Kreis der Leipziger Heisig-Schüler lässt er fortan nicht abreißen, schließt sich aber auch der Dresdner Boheme an, in der Theaterleute, Musiker, Literaten und Künstler in einer subkulturellen Szene alternative Projekte und Punk-Feste organisieren. Denn mit der Biermann-Zwangsausbürgerung hat sich in der jungen Generation die Infragestellung der staatlichen Macht und des sozialistischen Kollektivs erheblich verstärkt. Die den Künstlern von der Kulturadministration zugedachte Aufgabe, den optimistischen Blick auf die politische Linie der SED zu vermitteln, ist ihm wie auch den Freunden suspekt. Es ist die Zeit, da in Ost und West gleichermaßen ein Bewusstsein dafür entsteht, dass mit der Stationierung von atomaren Kurzstreckenraketen die beiden Weltmächte im Ernstfall den deutschen Boden zum alles vernichtenden Austragungsort ihres Rüstungswahns machen würden. Unter den Kulturschaffenden formieren sich  angesichts dieser Bedrohung Initiativen, die unter Berufung auf den Ende 1972 unterzeichneten Grundlagenvertrag zwischen den beiden deutschen Staaten das grenzüberschreitende Gespräch erproben wollen.

Auf westdeutscher Seite gehört Günter Grass zu den Schriftstellern, die über alle Schwierigkeiten hinweg mehrfach in die DDR einreisen, um sich mit ihren ostdeutschen Kollegen zu treffen. Für Hubertus Giebe wird um 1979/80 der in der DDR nicht veröffentlichte Grass-Roman „Die Blechtrommel“, der auf klandestinen Wegen in seine Hände gelangt, zum Schlüsselerlebnis und Motivator eigener Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen Faschismus im Spiegel eines in dumpfer Gewaltbereitschaft entfesselten Kleinbürgertums. Die Arbeit an der Radierfolge zur >Blechtrommel< 1980 erweist sich für ihn als Prozess eines eigenständigen sinnlichen Denkens im freien Dialog mit dem Romanstoff des westdeutschen Literaten. Dabei thematisiert er mit der Nazivergangenheit den in der DDR latent schwelenden Generationenkonflikt und macht den grotesken Zwerg Oskar Matzerath mit der Trommel zum symbolischen Ankläger einer verführten Jugend.

Zeitgleich mit den Radierungen zur >Blechtrommel< entstehen grafische Blätter zu Heiner Müllers Stück „Die Schlacht“, das der Nachwuchsregisseur Wolfgang Engel auf Giebes Fürsprache im Gebäudekomplex der Dresdner Kunstakademie inszenieren kann. Giebe ist nicht nur ein engagierter Beobachter der Proben, er reagiert auch auf das aus einer Folge kurzer Szenen bestehende Stück mit dem Bildertheater einer aus sieben Motiven gebildeten Offsetlithografie.

Unter den jungen Intellektuellen, Literaten und Künstlern ist Heiner Müller, wie Giebe 1997 zurückblickend konstatiert, ein „Geheimtipp“, in dessen Dramen sie ihre subversive „Seelenlage“ widergespiegelt  finden. [7]  Denn trotz seiner solidarischen Grundhaltung mit der SED als Verfechter antifaschistischer und humanistischer Ideen des Kommunismus war der Dramatiker immer wieder in Konflikte mit der Partei geraten, weil er in seinen Stücken unter Nutzung von Stilelementen der westlichen Avantgarde die Widersprüche in der DDR-Gesellschaft  zur Sprache gebracht hat.

Giebe ist über den Stoff hinaus auch von Müllers dramatischer Methodik fasziniert, die mit den Mitteln der fragmentarischen Synthese individuelle Schicksale mit der deutschen Tragödie parallelisiert. In Bildern wie >Die Schuld<, >Das Ende eines schönen Traumes< (1980/81) oder >Faschistisches Inferno< (1981) greift Giebe diese Methodik  in Form von allegorischen Verdichtungen, Montagen und  surrealen Kombinationen  auf, um die appellatorische Expressivität seiner Darstellungsweise zu steigern.

In den Jahren nach der Biermann-Ausbürgerung herrscht in der DDR ein Klima der Desillusion, das eine tiefe Kluft zwischen der Politik und den Kulturschaffenden aufreißt und eine Welle von Ausreiseanträgen provoziert. Auch in der BRD macht sich angesichts der Nachrüstungsdebatte und des RAF-Terrorismus Resignation breit, da sich die 68er Revolte der Jugend gegen die Geschichtsverdrängung der Väter in einer kapitalistischen Ökonomiedomnanz relativiert hat. So wundert es nicht, dass diesseits und jenseits der Mauer um 1980 in der jungen Kunst Bilder des Scheiterns zu finden sind und man in ihrer expressiven Sprachgestik Anzeichen von Konvergenzen konstatiert, die von der offiziellen Kulturpolitik der DDR mit Argusaugen wahrgenommen werden.

1982/83 findet im Westberliner Martin-Gropius-Bau die viel beachtete ZEITGEIST-Ausstellung als Übersichtsschau zur aktuellen Kunst in der BRD und Italien statt, in deren erzählenden Exponaten eine unruhige Welt voller „Mythen, Erinnerung, geschmolzener oder zerfetzter Formen und Farben“ [8] freigesetzt wird. Ebenfalls 1982 veranstaltet die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland  in der DDR in ihrer Ostberliner Residenz eine Ausstellung mit Werken der „Jungen Wilden“, die trotz der offiziellen Mahnung an die ostdeutschen  Künstler, der Einladung fernzubleiben, große Resonanz findet.  Das Lebensgefühl, das sich in den Bildern der heftigen Malerei aus dem Westen niederschlägt, entspricht dem Begehren  nach Selbstverwirklichung, das viele in der DDR lebende Künstler – unter ihnen auch Giebe – bewegt.

Zu dieser Zeit verfolgt die DDR eine janusköpfige Kulturpolitik zwischen kalkulierten Begünstigungen und repressiven Strafmaßnahmen, deren Auswirkungen Giebe zu spüren bekommt. Während er 1980 im jährlich stattfindenden Wettbewerb des Staatlichen Kunsthandels >100 Ausgewählte Grafiken< für ein Blatt des Radierzyklus >Die Blechtrommel< einen Preis erhält, wird die Arbeit auf der Ausstellung >Junge Künstler< in Frankfurt/Oder nicht gehängt.[9] Einerseits gehört er zur Gruppe der Künstler, die der Staatliche Kunsthandel bei der Ausstellung von DDR-Kunst in der Bundesrepublik und im westlichen Ausland als talentierte Hoffnungsträger lanciert, andererseits belegt ihn  eine doktrinäre Pressekritik angesichts seiner auf der IX. Kunstausstellung der DDR in Dresden 1982/83 gezeigten Geschichtsbilder mit dem Vorwurf, „verklausulierte Gefährdung des Menschen“ und Geschichtsfatalismus zu betreiben[10] – Vorwürfe, die von der Kulturadministration auch gegen Günter Grass und Heiner  Müller ins Feld geführt werden.

Dennoch entscheidet sich Giebe, anders als einige seiner Freunde, die – Penck folgend – in den Westen übersiedeln oder in die Subkultur abtauchen, für den mühsamen Gang durch die Institutionen. Ab 1982 leitet er mit Johannes Heisig das künstlerische Grundlagenstudium für Malerei und Grafik an der Hochschule für bildende Künste in Dresden. 1983 wird er in den Vorstand des Dresdner Bezirksverbandes Bildender Künstler gewählt und gemeinsam mit Johannes Heisig engagiert er sich in der seinerzeit von Christoph Tannert unter progressiven Zielen geleiteten >Zentralen Arbeitsgruppe Junge Künstler<. Seine trotz aller Frustrationen nie versiegende Hoffnung auf eine Reformierbarkeit des verkrusteten DDR-Sozialismus äußert sich im aufklärerischen Impetus seiner Arbeit – und die unterscheidet sich grundlegend von der Rhetorik westlicher Kollegen, die ihren No-future-Gefühlen mit Grotesken, Zynismen und Persiflagen Ausdruck geben.

Als 1983 das Bild >Schein und Schock (für Walter Benjamin)< entsteht, darf man davon ausgehen, dass dieses Gemälde ein malerischer Reflex auf die Gedanken darstellt, die der Philosoph Karl-Heinz Bohrer in seinem für den ZEITGEIST-Katalog geschriebenen Aufsatz „Schein und Chock. Zur esoterischen Ästhetik Walter Benjamins“ entwickelt hat.  Giebes Bild wirkt wie eine Manifestation zur Benjaminschen Notiz aus dem Nachlass: „Das in ihm [dem Kunstwerk KT] bebende Leben muß erstarrt und wie in einem Augenblick gebannt erscheinen. […] Jenes Beben macht die Schönheit, diese Erstarrung die Wahrheit des Werkes aus.“[11]

Im März 1983 lässt Werner Schmidt, der Direktor des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, Giebe wissen, dass Günter Grass, dem Fotos von den Radierungen und Gemälden zur „Blechtrommel“ übermittelt wurden, seinen Dank mit der Bitte verbindet, einen Werkaustausch zwischen ihm und dem Maler zu arrangieren. Daraus entwickelt sich auf Umwegen eine briefliche Korrespondenz, in der sich „ein Gefühl von Gleichklang in wesentlichen Fragen“ einstellt.[12] Im Juni 1987 lernen sich beide erstmals während einer Lesung von Günter Grass in Dresden persönlich kennen.

1984 wird der im Westen  zwischen 1975 und 1981 bei Suhrkamp erschienene, in der DDR jedoch erst nach einigem Zögern 1983 in einer kleinen Auflage edierte dreibändige Roman von Peter Weiss „Die Ästhetik des Widerstands“ in mehrfacher Hinsicht ein Leitbuch für Giebe. Filmischen Schnitten vergleichbar, montiert Weiss hier reflektierende Passagen des Ich-Erzählers mit historischen Szenen und Fragmenten aus der Geschichte der deutschen Linken, sodass sich Bericht und Diskurs, Vergangenheit und Gegenwart überblenden. Aus dem Inhalt und der Form dieser Romantrilogie schöpft Giebe Anregungen für ein bildnerisches Durchleuchten des rechten und linken Terrors, vernetzt mit dem Handeln und Leiden mutiger Widerständler vom Spanischen Bürgerkrieg bis hin zu den stalinistischen Verbannungen im GULAG und den Liquidierungen von Sozialdemokraten und Kommunisten, die als Verräter beschuldigt wurden.[13] Das Gemälde >Der Widerstand (für Peter Weiss)< von 1986/87 erprobt das erkennende Erinnern in einer surrealen „Zusammenschau des Disparaten“.[14] Inmitten einer brutalen Folterszene und aufgebahrter Leichen  versucht eine Mutter, ihr Kind zu schützen. Von Verfolgung und Flucht gezeichnet,  beobachtet Willi Münzenberg vom rechten Bildrand aus das  schreckliche Szenarium. Der linke Politiker, KPD-Parteifunktionär und Publizist, der in Paris gegen den Hitlerterror kämpfte und 1937 als Abweichler aus der Partei ausgeschlossen wurde, fiel in einem südfranzösischen  Internierungslager einem wohl von Stalin angeordneten Fememord zum Opfer.

Die Zitierung des immer noch in der DDR geächteten Münzenberg implaniert das eigentliche Anliegen des Malers in die kathartische Bilderzählung, Schlaglichter auf die Verblendungen der gegenwärtig Mächtigen auszusenden. So schweben über der szenischen Montage zwei monumental über Kreuz verkeilte Männer als Metapher für die deutsch-deutsche Gegenwart, in der die gemeinsamen Wurzeln und die ideologischen Irrwege der Vergangenheit nachwirken. Giebe notiert zu dem Topos der gekreuzten Männer, der sich in seinen Bildern mehrfach wiederholt und die Ost-West-Situation des Kalten Krieges bezeichnet: Sie „sind eine Metapher des Kampfes. Sie sind ausgeleuchtet, überblendet bis auf Schwarz und Weiß. Ungleichzeitig, gleichzeitig, vergangene wie verzauberte Brüder im Märchen, sich gegenbewegend, gebannt. Versunken in einer Zeit, die unter unserer Zeit liegt und hier und dort, klaffend, in sie hineinreißt.[15]

Seit der ersten, von der Kunstzeitschrift art initiierten >Zeitvergleich<-Ausstellung, die ab 1982 durch mehrere bundesdeutsche Städte wanderte, konnte sich bei der Kataloggestaltung zu Künstlern aus der DDR in der Bundesrepublik zunehmend ein dialogisches Procedere etablieren. So wurde es üblich, die Exponate der Künstler nicht mehr ausschließlich von offiziell benannten Interpreten aus der DDR, sondern zusätzlich von Kunsthistorikern aus dem Westen kommentieren zu lassen.

Dies gilt auch für die im November 1986 in der Bonner Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen gezeigte Ausstellung >Menschenbilder – Kunst aus der DDR<, die zeitlich mit der in Ost-Berlin stattfindenden ersten offiziellen Präsentation von zeitgenössischer Malerei aus der BRD >Positionen< zusammenfällt. Anders als bei vorangegangenen Ausstellungen von Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik ist sie die erste, die nicht den Verkaufsinteressen des Staatlichen Kunsthandels dient. Obwohl Giebe der Jüngste unter den teilnehmenden Künstlern ist, erregen seine Exponate – neben Arbeiten zur >Blechtrommel< das Doppelporträt >Christoph und Linda< – besondere Aufmerksamkeit. So rückt die damalige Feuilletonchefin und spätere Kulturdezernentin der Stadt Köln, Marie Hüllenkremer, das groß abgedruckte Doppelbildnis in den Mittelpunkt ihrer Ausstellungsbesprechung im Kölner Stadt-Anzeiger: „Das Bild, 1983 entstanden, ist eins der bestechendsten in einer Ausstellung, deren kulturpolitische Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen ist.“[16] Scharfsichtig registriert Hüllenkremer die in dieser Zeit in der DDR virulenten Spannungen und Widersprüche, die sich in die schrillen Farben und verkrampften Physiognomien des mit Giebe befreundeten Paares eingeschrieben haben.

Die Verfasserin dieses Essays gehörte seinerzeit im Auftrag des Verlagshauses DuMont Schauberg, das die Katalogproduktion finanzierte, zu der Delegation aus Nordrhein-Westfalen, die im Sommer 1986 bei den Vorbereitungen für die Ausstellung >Menschenbilder< auch Hubertus Giebe in seinem Hochschulatelier auf der Brühlschen Terrasse persönlich kennenlernen konnte. Bei einem privaten Besuch bei ihm im darauffolgenden Jahr, veranlasst durch die X. Kunstausstellung der DDR in Dresden, bemerkt sie den deutlichen Anflug von Resignation, mit der Giebe über den Verlust der vielen in den Westen ausgereisten Freunde räsoniert. Hinter einem Vorhang verbirgt er vor unliebsamen Aufpasseraugen auf langestreckter Hartfaserplatte ein fiktives Porträt von Münzenberg, dem eine Reihe weiterer Bildnisse des gehetzten Widerständlers folgen werden. Im Gespräch wird offenkundig, wie sehr ihn der bleierne Stillstand bedrängt, in dem sich die unberechenbar zwischen angedrohten Repressionen und punktuellen Zugeständnissen schwankende Kulturadministration zu dieser Zeit befindet.

Auf der X. Kunstausstellung in Dresden 1987/88 werden Giebes anklagende Geschichtsbilder – darunter das oben zitierte Gemälde >Der Widerstand (für Peter Weiss)< endlich dem DDR-Publikum nicht mehr vorenthalten, bleiben aber im Katalog unkommentiert. Nur wenig später nach Schließung der X. Kunstausstellung kann Giebe im Begleitbuch zur Westberliner Ausstellung >Zeitvergleich ‘88 – 13 Maler aus der DDR< mit dem Abdruck signifikanter Selbstzeugnisse den angemessenen Kontext zu seinen Geschichtsbildern liefern.

Im letzten Jahr vor dem Mauerfall widmet Giebe den Widerstandskämpfern in Spanien und im Exil eine beunruhigende Folge von übermalten Fotofahnen, in deren heroisierender Ausdrucksgestik sich sein aufklärerischer Anspruch verdichtet. Von roten Farbflüssen überzogen, stehen die expressiv aufgeladenen Bildnisse von Carl Einstein, Walter Benjamin, Arthur Koestler, Durruti, George Orwell, Leo Trotzki und Willi Münzenberg neben exekutierenden SA-Männern, einer brennenden Synagoge, Verhaftungen, Internierungslagern und Massengräbern. Im Sommer 1990 bilden diese bodenlangen Fotofahnen eine appellatorische Rauminstallation auf der Biennale Venedig, wo Hubertus Giebe zusammen mit Walter Libuda ein letztes Mal die wenige Monate vor ihrer Auflösung befindliche DDR repräsentiert. Bemerkenswert ist der kleine Katalog, in dem nicht die seit 1988 offiziell nominierten Biennale-Kommissare der DDR Hermann Raum, Günter Rieger und Peter Pachnicke, sondern der Leipziger freischaffende Kunsthistoriker Henry Schumann unter dem Titel „Die Blessuren der Vergangenheit“ die Geschichtsbilder Giebes mit einem fundierten Essay begleitet. Doch die Biennale-Besucher, darunter auch die Verfasserin dieses Textes, empfinden die eindrucksvolle Präsentation im DDR-Pavillon bereits als melancholischen Abgesang auf die von Giebe bis zuletzt bewahrte Utopie, den im Überwachungsstaat DDR degenerierten Sozialismus mit den Prinzipien von Freiheit und Demokratie erneuern zu können. Diesen Glauben hatte Giebe, ein halbes Jahr zuvor, am 19. November 1989, in seiner Rede auf der Demonstration der Künstlerverbände Dresdens noch vehement bekundet, als er die Usurpation der sozialistischen Idee durch die Diktatur der alten Männer anklagte und „die Freiheit der Kunst in dieser Gesellschaft“ einforderte.[17]

Wie auch andere Künstler wünscht sich Giebe grundlegende Reformen in der DDR, aber keine Wiedervereinigung. Doch als die Biennale 1990 in Venedig ihre Tore schließt, ist die Entscheidung für die deutsche Einheit und das Ende der SED-Diktatur längst gefallen, am 3. Oktober ist die deutsche Vereinigung endgültig besiegelt.

 


Anmerkungen

[1] Eva Strittmatter: Hubertus Giebe, in: Joachim Walther( Hrsg.): Mir scheint, der Kerl lasiert. Dichter über Maler, Berlin 1978, S. 120.

[2] Hubertus Giebe: Skizzenblätter aus Schulzenhof. Für Eva Strittmatter, Dresden 2005, S.7.

[3] Hubertus Giebe in einem Brief an Bernd Küster, zit. n. Bernd Küster: Hubertus Giebe, Akte, Gifkendorf 2004, S.31.

[4] Henry Schumann: Die Blessuren der Vergangenheit malen, in: Ausst.-Kat. Hubertus Giebe – Geschichtsbilder. Memorial, hrsg. von der Landeszentrale für politische Bildung Rheinland-Pfalz und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz 1999, S.16.

[5] Aus dem Brief von Hubertus Giebe an die Hochschule für Bildende Künste Dresden vom 16. September 1976.

[6] Siehe dazu Eduard Beaucamp: Die verzweifelte Erinnerung – Geschichtskonstrukte und Bewußtseinsanalysen, in: Eckhart Gillen (Hrsg.): Bernhard Heisig. Die Wut der Bilder. Ausst.-Kat. Leipzig, Düsseldorf, Berlin 2005/2006, S. 22.

[7] Hubertus Giebe: Meine Jahre in der Dresdner Neustadt, in: Ausst.-Kat. Geschichtsbilder (wie Anm.4), S.43.

[8] Robert Rosenblum: Gedanken zu den Quellen des Zeitgeistes, in: Ausst.-Kat. ZEITGEIST, Martin-Gropius-Bau, Berlin 1982/83, S. 11. Hubertus Giebe erwähnt die Ausstellung ausdrücklich in einer Tagebucheintragung vom Oktober 1982.

[9] Astrid Volpert: Ein Leben um zu malen, in: Texte zu Hubertus Giebe 1987-1994, Dresden 1995, S. 6f.

[10]Artur Dänhardt: Die Würde des Menschen in einigen Bildern der Ausstellung, in: Sächsische Zeitung vom 17. Dezember 1982.

[11] Zit. n. Karl-Heinz Bohrer. Schein und Chock. Zur esoterische Ästhetik Walter Benjamins, in: Ausst.-Kat. ZEITGEIST 1982/83 (wie Anm. 8), S. 29.

[12] Siehe dazu die von Bernd Lindner zusammengestellten und kommentierten Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Günter Grass und Hubertus Giebe, in: Mauersprünge, hrsg. von Bernd Lindner und Rainer Eckert, Ausst.-Kat. Klopfzeichen, Leipzig 2002, S. 43ff.

[13] In einem Gespräch mit Eckhart Gillen vom 27. März 2002 hat Giebe darauf hingewiesen, dass seine Fokussierung auf die offiziell tabuisierte Geschichte des Widerstands nicht zuletzt auch durch familiäre Ereignisse motiviert worden ist. 1986 stirbt sein Vater. „Das ist auch ein persönliches Motiv, was sich mit dem Geschichtsverhängnis amalgamiert. Sein Tod intensivierte meine Spurensuche in die Verstrickungen der Arbeiterbewegung, die auch das Schicksal meines Vaters bestimmte. Vor seinem ersten Fronteinsatz beschloss er zu desertieren, wurde gefangen genommen und verhört. Der Hitlergegner und Sozialdemokrat kam für fünf Jahre in ein Lager nach Kasachstan, wo er im Steinbruch gearbeitet hat. Halb verhungert kehrte er 1950 mit seinem Pappkoffer zurück. Über diese Erfahrungen hatte er bis fast zum Schluss geschwiegen, musste er wohl auch schweigen.“ Geschichte als Allegorie. Hubertus Giebe, in: Wahnzimmer, hrsg. von Eugen Blume, Hubertus Gaßner, Eckhart Gillen und Hans-Werner Schmidt, Ausst.-Kat. Klopfzeichen (wie Anm. 12), S. 119f.

[14] Aus der Immatrikulationsrede von Hubertus Giebe an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden, zit. n. Ausst.-Kat. Zeitvergleich ’88 – 13 Maler aus der DDR, Neues Kunstquartier des T. I. P., Berlin 1988, S. 291.          

[15] Zit. n. Dieter Hoffmann: Müller, Grass und Giebe, in: Ausst.-Kat. Geschichtsbilder (wie Anm. 4), S. 33.

[16] Marie Hüllenkremer: Im Mittelpunkt der Kunst: der Mensch – Widerspruch und Problemgehalt mehren sich seit den Sechzigern, in: Kölner Stadt-Anzeiger vom 12. November 1986, S. 15.

[17] Hubertus Giebe: Rede auf der Demonstration der Künstlerverbände Dresdens am 19. November 1989, in: Sächsische Zeitung vom 20. November 1989 sowie in weiteren sächsischen Tageszeitungen.

Quelle:Hubertus Giebe – Malen gegen Widerstände. In: Hubertus Giebe. „Malen ist Denken in Bildern, am Rande der Sprache“, Berlin: Akademie der Künste (Archiv-Blätter 23)2015, S. 7 – 15.

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