Ein Rückblick auf sechs Ausstellungen deutscher Kunst 1997 – 2009

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2011

Ein Rückblick auf sechs Ausstellungen deutscher Kunst 1997 – 2009

Als im Herbst 1989 die Mauer zwischen den beiden deutschen Teilstaaten gefallen war, wurden schon wenige Monate später im Windschatten der Wiedervereinigungseuphorie heftige Animositäten zwischen den Szenarien und Vertretern der ost- und westdeutschen Kunst offenkundig, denen die Publizistik das Signum „deutsch-deutscher Bilderstreit“ gab. Ein knappes halbes Jahr vor dem Kollaps des SED-Regimes hatte eine seinerzeit umstrittene Kölner Ausstellung mit ihrem Titel den Begriff „Bilderstreit“ bereits in den aktuellen Kunstdiskurs eingebracht. Ihr Kurator, Siegfried Gohr, verfolgte unter den Vorzeichen >Bilderstreit – Widerspruch, Einheit, Fragment< eine doppelte Zielsetzung. Einerseits sollte die Ausstellung die Dialogpotenzen der inzwischen legendär gewordenen Kölner >Westkunst<- Schau von 1981 reaktivieren, zugleich aber auch Schlaglichter auf die schöpferischen Energien und Konflikte der Kunst nach 1960 werfen, die in der >Westkunst< noch weitgehend ausgeblendet war.

Für den Kontext des deutsch-deutschen Bilderstreits, der bereits ein Jahr nach der Kölner >Bilderstreit<-Ausstellung zu eskalieren beginnt und sich auf eine breit ausgetragene Feuilleton-Diskussion um den Wert oder Unwert der Kunstproduktion aus DDR-Zeiten fokussieren wird, ist weniger die Auswahlkonzeption des Kölner Exponaten-Arrangements als vielmehr der Einführungsessay des Katalogbuches von Hans Belting aufschlussreich. Unter dem Titel „Bilderstreit – ein Streit um die Moderne“ sondiert Belting die Konflikte der Moderne und diagnostiziert den Gegensatz von Figuration und Abstraktion als einen der folgenreichsten Streitpunkte, der sich – offen oder subkutan – von der Moderne bis zur Postmoderne durch die internationale Geschichte der Kunst zieht. Dabei verquicken sich die künstlerischen Bilderstreite als Kampf um die Deutungshoheit in der Kunst mit den Nachwirkungen politischer Schauplätze.

Die großen Stil-Bewegungen der Moderne verstanden sich vom Futurismus bis zum Bauhaus als Leitbilder, nach denen sich die Reform der Welt richten sollte. Diese Utopie erneuerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal in der restaurativen Moderne. Die Wiedergutmachungsaktionen, die das westliche Europa der abstrakten Kunst entgegenbrachte, gipfelten in Werner Haftmanns zweiter Documenta (1959), die das abstrakte Kunstwerk von den Banalitäten der gegenständlichen Themen fernhielt und zum kultischen Schaubild des Sublimen stilisierte. So wurde der Bilderstreit, den Verteidiger des Realismus in den 1950er Jahren auslösten, in wachsendem Maße ein Streit  um die Moderne, in dem sich kulturell und politisch der vom Vietnamkrieg herausgeforderte Gegensatz zwischen Europa und den USA widerspiegelt.1 In den 1980er Jahren war die Leitbild-Idee der Moderne vollends erschöpft, ihr Fortschrittsoptimismus hat sich in einer ironischen Zitatenkunst relativiert, die sich – wie Belting formuliert – „wahllos der modernen wie der vormodernen Vorbilder bedient“.2

Als der deutsch-deutsche Bilderstreit ausbricht, ist der Antagonismus zwischen Abstraktion und Figuration in den Kunstkontroversen weithin obsolet geworden. Doch als die deutschen Künstler aus West und Ost ab 1990 plötzlich Seite an Seite um Anteile am kapitalistisch organisierten Kunstmarkt konkurrieren, reaktiviert die kulturpolitische Diskussion die verbrauchten Utopien der Moderne von der wesensmäßigen Verbindung zwischen freier Kunst und Fortschritt und implantiert sie in den deutsch-deutschen Bilderstreit. Mit dem Verweis auf ihren gesellschaftlichen Auftrag und auf rückwärtsgewandte Traditionsverhaftung disqualifiziert das kulturelle Establishment aus Westdeutschland die ostdeutschen Künstler als staatshörig oder vorgestrig antimodern und unter-lässt dabei zunächst eine genaue Analyse dessen, was Staatsauftrag war und was von der Kunst in der DDR aus dem Abseits oder der Dissidentenperspektive relevant geworden war.

Die Polemik weitet sich Ende 1993 zu einem Sturm der Entrüstung aus, als Dieter Honisch Kunstwerke von Malern aus der DDR, die vorwiegend über den Staatlichen Kunsthandel in die Bestände der Berliner Neuen Nationalgalerie gelangt waren, der modernen Abteilung internationaler Kunst des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Neuhängung inkorporiert. Die Proteste gipfeln schließlich im Ruf nach Entsorgung, für die sechs Jahre später die diffamierende Weimarer Ausstellung >Aufstieg und Fall der Moderne< in der ästhetischen Analogisierung von NS- und DDR-Kunst den inszenatorischen Rahmen liefert. Vor allem aber gerät in dieser Phase des Bilderstreits die Neugier auf mögliche Gemeinsamkeiten in der deutsch-deutschen Kunst aus dem Blick.

Dabei hatte Eberhard Roters bereits 1985 die Berliner Museen dazu angeregt, Kunst aus der Bundesrepublik und der DDR danach zu befragen, wie in ihnen der Verlust von Geschichte und deren Wiederkehr anschaulich geworden war. 1997 kann Eckhart Gillen dieses Vorhaben des inzwischen verstorbenen Eberhard Roters mit der Ausstellung >Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land< anlässlich der 47. Berliner Festwochen verwirklichen. Nicht das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Deutschlands, sondern das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ist Gillens Ausgangspunkt für die Analyse der selbstverschuldeten deutschen Katastrophe. Denn zwölf Jahre Terror, endend im Vernichtungskrieg und im Holocaust, hatten die deutsche Teilung und die Blockbildung des Kalten Krieges zur Folge. Nicht zuletzt in der Bewusstwerdung dieser Kontexte sieht Gillen bei allen Gegensätzen eine verblüffende Gemeinsamkeit ost- und westdeutscher Künstlerpersönlichkeiten.

Der umfangreiche Katalog zur Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau wird vom Abdruck eines Vortrags eingeleitet, den Eberhard Roters am 4. April 1992 in Dresden unter dem Eindruck des inzwischen virulenten deutsch-deutschen Bilderstreits gehalten hatte. Roters’ Ausführungen umreißen die künstlerische >Spannweite der Konflikte< und setzen Reflexionen fort, die Hans Belting bereits drei Jahre zuvor in seinem oben zitierten Essay formuliert hatte. Nicht das Abrücken aus dem Realitätsgefüge seiner Zeit  macht den Künstler autonom, sondern die Diagnose „des Zeitbewusstseins aus der Perspektive des Ortes, an dem er sich befindet. ‚Ort’ ist dabei sowohl geographisch wie geistig gemeint.“3 Damit fordert Roters die Sondierung der künstlerischen Werke vor dem Hintergrund der politischen Szenarien ihrer Entstehungszeit, was die Bilderstreit-Debatte zu diesem Zeitpunkt mit ihren Pauschalurteilen noch weitgehend unterlässt.

Mit Nachdruck thematisiert Roters auch die Austragung des Generationenkonflikts, dem er fruchtbare Perspektiven  für die weitere Entwicklung der Kunst in Deutschland zuweist: „Die Jungen haben den Identitätsausdruck ihres eigenen Epochenbewusstseins zu finden, und das geht selbstverständlich nicht ohne den Streit mit den Alten. Es geht sogar nicht ohne die Ablehnung der Alten, gerade deshalb, weil die Jungen nicht umhin können, sich auf das zu beziehen, was ihnen die Alten hinterlassen haben.“4 Beide Sondierungsaspekte für das Kunstwerk und seinen Urheber – das Zeitbewusstsein und den darin verankerten Identitätsausdruck – hat Gillen zu Leitlinien seiner Ausstellung erhoben. Vor der Folie der politischen Zusammenhänge von 1933 bis zur Wiedervereinigung interpretieren die >Deutschlandbilder< die deutsche Kunst aus Ost und West erstmals als mentale Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch in Auschwitz. In den Räumen der Ausstellung und in den 20 Kapiteln des Kataloges, die Kunst-werke von ost- und westdeutschen Künstlern problemorientiert zusammenführen, erfährt der Rezipient noch einmal die Anfänge, Generationsbrüche und Perspektivenwechsel zwischen Erinnern und Vergessen.

Mit dem Titel der Beuysschen Installation Zeige deine Wunde lässt sich Gillens Zugriff auf die deutsche Kunstgeschichte metaphorisch beschreiben, deren Brüchen und Traumata er in Bildern nachspürt und dabei erstaunliche Parallelen zwischen der ost- und westdeutschen Kunst offen legen kann. In seinem Katalogessay „Die Wunde“ macht Siegfried Gohr darauf aufmerksam, dass es die abstrakte Sprache der frühen Penckschen Weltbilder war, die statt utopischer Leitbilder zur Weltverbesserung das Ost-West-Verhältnis jenseits der herrschenden Eiszeit im Kalten Krieg analysierte.5 Als sich die Moderne im Westen und der sozialistische Traum im Osten an den Realitäten des Alltags verbraucht hatten, gab es – so dokumentiert Gillens Ausstellung >Deutschlandbilder< – unangefochten von Stilwechseln oder weltanschaulichen Bevormundungen im Westen wie im Osten Künstler, die mit malerischer Könnerschaft gedanklichen Eigensinn bewiesen haben.

Den Blick auf die deutsch-deutsche Kunstgeschichte kann Eckhart Gillen 2002/03 gemeinsam mit Eugen Blume in einer Ausstellung für das Museum der bildenden Künste Leipzig und das Museum Folkwang Essen auf das letzte Jahrzehnt vor dem Mauerfall konzentrieren. Die Ausstellung trägt den Titel >Wahnzimmer< und ist Teil der Doppelschau >Klopfzeichen<, in der das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig in der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland deutsch-deutsche Kulturbeziehungen unter dem Motto >Mauersprünge< facettenreich in Szene setzt und anschaulich bilanziert. Leider bleibt die Resonanz auf diese Doppelausstellung, die einen innovativen konzeptionellen Weg beschreitet, relativ blass, weil die gedrängte Präsentation in den provisorischen Räumen des Leipziger Bildermuseums das Wechselspiel zwischen den Exponaten, die von den Kuratoren aus dem Schaffen von Künstlern der jüngeren Generation in den 1980er Jahren ausgewählt worden waren, nicht zur vollen Wirkung bringen kann. Der Katalog zur Ausstellung verdient umso mehr Beachtung. Er veranschaulicht in den ausgestellten Werken wie in den Kommentaren der Kuratoren und den Statements der Künstler ebenso die von Hans Belting in seinem Bilderstreit-Aufsatz apostrophierte Stilrelativierung durch beliebige Stilzitate der Westkünstler wie die zwischen Melancholie, Nihilismus und Sinnsuche oszillierende Mimesis vieler ostdeutscher Künstler. Nichts wird in eine künstliche Nähe gerückt, es bleibt dem Leser überlassen, von den gesellschafts-politischen Umständen bedingte Differenzen ,aber auch subkutane Beziehungsgeflechte vor dem Hintergrund der gemeinsamen deutschen Kulturtradition wahrzunehmen. So wird der „Laborismus gegen Kapitalismus und Kommunismus“6, den die Utopie Beuysscher Richtkräfte  in beiden deutschen Kunstszenen während der frühen 1980er Jahre ausgelöst hat, ebenso greifbar wie der spätere Utopieverlust. Solche Desillusionen äußern sich in den sarkastischen Ironien und Parodien der Kippenberger-Riege, die sich der Trivialtechniken der Massenmedien bedient, aber auch im ostdeutschen Eigen-Sinn tragikomischer Mythenannexionen und performativer Selbsterfahrungen, in denen sich „die Absurditäten des Alltags als Reflex auf das Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität“ spiegeln.7 Parallel zum westdeutschen Wiedereinstieg in das narrative Bild entdecken die beiden Kuratoren auch eine weit gefächerte Palette abstrakter Kunst in verschiedenen Enklaven der ostdeutschen Landschaft. Dieser „Austritt aus dem Menschenbild“ konnte nicht wie im Westen aus Kontinuitäten und Paradigmenwechsel entstehen, sondern in ihm manifestiert sich jeweils eine persönliche Werkkonzeption, die „aus einer realistischen Gesinnung heraus, irgendwann das bereits nicht mehr Erzählende dieser Figurationen frei übersetzte“8. Die Ausstellung macht offenkundig, dass der in den Bilderstreit wieder hineingetragene Konflikt zwischen einer innovativen Moderne und einer traditionsverhafteten, figurativen Bildlichkeit die Künstler der 1980er Jahre realiter nicht mehr beschäftigt hat.

In der alten Bundesrepublik bewirken die von Eckhart Gillen (mit-)verantworteten Ausstellungen >Deutschlandbilder< und >Wahnzimmer< eine beruhigende Versachlichung des Bilderstreits. Unter den ostdeutschen Künstlern, vornehmlich der älteren Generation, verbleiben jedoch kritische Vorbehalte, weil das jeweilige Themenkonzept der Ausstellungen eine umfassende Einbeziehung der ostdeutschen Kunstszene nicht ermöglicht. Umso nachhaltiger begrüßen Künstler, Kunstvermittler und Besucher aus den neuen Bundesländern die im Sommer und Herbst 2003 in der Neuen Nationalgalerie gezeigte Retrospektivausstellung >Kunst in der DDR<. Mit rund 400 ausgestellten Werken vom 145 Künstlern erheben die beiden Kustoden der Berliner Nationalgalerie, Roland März und Eugen Blume, den Anspruch, jenseits der Debatte des Bilderstreits um die politische Funktionalisierung das künstlerische Erbe der DDR nach ästhetischen Kriterien zu sichten. Erstaunlicherweise ähneln ihre thematischen Abteilungen dem Gliederungssystem nach lokalen Schulen wie Dresden, Leipzig, Ost-Berlin sowie nach Stilen und Themen, das Lothar Lang in seinem 1978 für das westliche Ausland bestimmte Kompendium “Malerei und Graphik in der DDR“ im Rückgriff auf spezifische deutsche Traditionen und Vorgaben der Moderne angewendet hatte. Für die Jahre 1946 bis 1980 kann die Ausstellung mit diesen Kriterien eine große thematische Bandbreite erreichen. Ausgespart bleibt jedoch eine differenzierende Sicht auf die 1980er Jahre, wie sie Eberhard Roters als Konflikt zwischen der älteren und der jüngeren Generation angesprochen hatte, weil sich die Kuratoren für diese Zeitspanne auf eine gründliche Analyse der unterschiedlichen politischen Auffassungen und ästhetischen Konzepte , die u.a. in den Verbandstagungen artikuliert worden sind, nicht einlassen. Statt dessen unterstreichen sie ihre Absicht, „nicht die weltanschauliche Position, sondern allein die Qualität und das Niveau des Kunstwerkes“ in den Blick nehmen zu wollen.9

Unterschwellig durchpulsen somit die überholten Werkvorstellungen der Moderne diese Ausstellung, so als seien sie in der Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Realismus noch längst nicht abgegolten. In seiner Rezension der Ausstellung konstatiert Hanno Rauterberg nach einem ersten Rundgang am 31. Juli 2003: „Gewiss ist es richtig, die Kunst nicht allein nach ihrer Gesinnung zu beurteilen, sonst täte man am Ende nichts anderes als die DDR-Apparatschiks. Nach dieser Gesinnung aber gar nicht zu fragen kommt einer Verharmlosung gleich. (…) Fast kann man den Eindruck gewinnen, da habe jemand ein Stück Kunstgeschichte kanonisieren wollen, um das Kapitel endlich ab- und wegzuschließen.“10

Wenn auch Rauterbergs Vorwurf, die Kuratoren hätten Kunst aus der DDR endgültig in eine abgeschlossene Vergangenheit bannen wollen, überzogen sein mag, so ist doch unverkennbar, dass März und Blume mit ihrem Ausstellungskonzept ein mit dem Anspruch des Gültigen auftretendes Gegenmodell zur unqualifizierten Ideologisierung  von Kunst aus der DDR durch die Weimarer Schau von Achim Preiß 1999 setzen wollten. Für die museale Auratisierung des nach ihrem Urteil Bleibenden reaktivieren sie noch einmal jenen Haftmannschen Werkbegriff, der die Schöpfungen der Nachkriegskunst – nach den schockierenden Diffamierungen der „entarteten Kunst“ – den politischen Niederungen entheben und mit einem  über-zeitlichen Geltungsanspruch nobilitieren sollte.

Mit ihrer Intention der Entpolitisierung und Kanonisierung des künstlerischen Erbes aus der DDR sprechen März und Blume den Bürgern der neuen Bundesländer aus der Seele, bei ihnen findet das Inszenierungskonzept zur >Kunst in der DDR< breite Zustimmung. Denn die Ausstellung enthält viele Bilder, die von der SED-Kulturpolitik unter Verschluss gehalten oder mit Argwohn betrachtet worden waren und jetzt erstmals die thematische und ästhetische Bandbreite einer Kunst sichtbar machen, die in ihrem politisch-sozialen Umfeld entstanden war und eigene Lebenserfahrungen reflektierte. Als die Ausstellung jedoch auf westdeutschem Boden in der Bonner Bundeskunsthalle gastiert, bleiben die Besucherzahlen weit hinter den gewohnten Erwartungen zurück, die das Haus sonst verzeichnen kann. Die Bürger der alten Bundesrepublik sind überwiegend nicht in der Lage, diese geschichtsentrückte und weitgehend kontextfrei inszenierte Bildersammlung aus dem anderen Deutschland zu begreifen.

Als im August 2003 eine Tagung von Kunst- und Sozial-wissenschaftlern in Neuhardenberg nach den ersten Feuilleton-Reaktionen auf die Berliner Ausstellung >Kunst in der DDR< den deutsch-deutschen Bilderstreit bilanziert, liefert der Hallenser Maler Moritz Götze mit seiner >re: realismus< betitelten kleinen Bilderschau vor Ort den ironischen Kommentar der jungen ostdeutschen Künstlergeneration, die sich inzwischen längst auf dem Kunstmarkt etabliert hat. In der Manier seiner Pop-Comics persifliert Götze jahrzehntelang in der DDR-Propaganda verankerte Bildikonen wie Harald Hakenbecks Peter im Tierpark, Willi Sittes Arbeiter am Schaltpult oder Walter Womackas Paar am Strand. Jeder Bürger, der in der DDR aufgewachsen ist, war von diesen Bildern während seiner gesamten Schulzeit begleitet worden. Doch die Berliner Ausstellung ignoriert dieses Phänomen, als habe es gar nicht existiert. Während die verletzende Polemik aus dem Bilderstreit schwindet und dem entspannenden Lachen eines ironischen Humors Platz macht, bleibt die museale Kunstvermittlung eine vergleichende kritische Aufarbeitung der Kunst aus beiden deutschen Staaten im Kontext ihrer kultursoziologischen Grundierung weiterhin schuldig.

Im Frühjahr 2006 unterzieht Peter Pachnicke >Deutsche Bilder< in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen einer neuen Bilanzierung und möchte seine aus Beständen der Sammlung Ludwig bestückte Ausstellung ausdrücklich als Beitrag zum deutsch-deutschen Bilderstreit verstanden wissen. Denn schon seit den 1970er Jahren war die Bildersammlung mit Werken aus West- und Ostdeutschland, die das Ehepaar Ludwig neben der internationalen Kunst erworben hatte, in den Bilderstreit eingebunden, der mit der umstrittenen Teilnahme von staatlich approbierten Künstlern aus der DDR an der documenta 6 (1977) begonnen hatte. Da Peter Ludwig seine sammlerischen Erkundungen der ostdeutschen Kunstszene im Kölner Zentrum seiner Vertragsmuseen, dem damaligen Wallraf-Richartz-Museum, nicht nach seinen Wünschen etablieren konnte, initiierte er seit 1982 die Sammlung „Kunst der DDR“ in der Obhut der Stadt Oberhausen und vollzog das in Köln verweigerte direkte Nebeneinander der deutsch-deutschen Kunst auch in seinen Vertragsmuseen in Wien, Budapest, St. Petersburg und Peking. Bedeutende Leihgaben aus diesen Häusern – darunter Bernhard Heisigs Preußisches Museum von 1977/78 aus dem Museum Moderner Kunst/Stiftung Ludwig Wien und Anselm Kiefers Große Eisenfaust Deutschland von 1979 aus dem Museum Ludwig im Staatlichen Russischen Museum St. Petersburg – dokumentieren in der Oberhausener Ausstellung >Deutsche Bilder aus der Sammlung Ludwig< den Anspruch dieser Sammlung, die deutsch-deutsche Kunst jenseits aller Vorurteile und ideologischen Verwerfungen als Gestaltungsraum für ästhetische und diskursive Interaktionen zur Anschauung zu bringen. Schon frühzeitig nahm das Ehepaar Ludwig hinter allen Unterschieden parallele existenzielle Dispositionen und malerische Passionen bei jenen ost- und westdeutschen Künstlern wahr, die in den 1960er Jahren einen Mentalitätswechsel vollzogen hatten und die Motive ihrer Kunst in der verdrängten deutschen Geschichte suchten.

Pachnickes Ausstellungskonzept ist auf diese „mit der Wut der Sinne“11 gemalten Bilder fokussiert und forscht in der frühen Moderne nach typisch deutschen Wurzeln und Traditionen für diese rebellische Expressivität in Brüchen und Widersprüchen. Ausdrücklich beruft sich Pachnicke auf den Pionier in der kritischen Beobachtung des deutschen Bilderstreits, Eberhard Roters, dessen Dresdner Vortrag von 1992 mit dem Titel „Die Spannweite der Konflikte“ im Katalog – als Reprise auf den Katalog der >Deutschlandbilder< – erneut in Erinnerung gerufen wird. Geistesgeschichtliche  Anregung hat sich der Kurator bei Werner Hofmann geholt, der in seiner 1999 erschienenen und auszugsweise im Oberhausener Ausstellungs-katalog nachgedruckten Streitschrift  „Wie deutsch ist die deutsche Kunst?“ den Verstörungen in der deutschen Malerei seit Adolph Menzel nachgegangen ist.12 Von den in ihrer Affir-mation der preußischen Glorie gescheiterten Historien-bildern Menzels schlägt Hofmann den Bogen zu Heisigs Preußischem Soldatentanz, zu den dithyrambischen Vogel-scheuchen von Lüpertz in Wehrmachtsuniform und zu den amputierten Helden von Georg Baselitz inmitten verwüsteter Landschaften. Nach Hofmann leisten die Künstler aus Ost- und Westdeutschland hier gleichermaßen den Selbstfindungsprozess in einer fragwürdig gewordenen Welt und in der Auseinander-setzung mit den „Daseinsfragen, Erwartungen und Ängsten der Nation“.

Leider gelingt es Pachnicke nicht, den geistesgeschichtlichen Rahmen, den er von Werner Hofmann bezieht, mit den konkreten Spannungsfeldern des Kunstschaffens in der DDR und ihrer Kulturpolitik zu verbinden. Obwohl er sich auf Eberhard Roters beruft, entgleitet ihm die „Spannweite der Konflikte“, statt dessen stellt er die Bilder seiner Ausstellung in die pure Ästhetik eines „white cube“ hinein. Damit glaubt er, dem von ihm postulierten Prinzip einer Präsentation von ost- und westdeutscher Kunst „gleichberechtigt auf einer Augenhöhe“13 Genüge zu tun, leistet  damit aber erneut einem irritierenden Missverständnis Vorschub, dem zuvor schon die Kuratoren der Berliner Ausstellung >Kunst in der DDR< anheimgefallen sind. Denn die Bedeutung und Sinnhaftigkeit „deutscher Bilder“ ist ohne ihre Entstehungszusammenhänge schwer zu begreifen. Diese gründen nicht nur – wie Pachnicke hervorhebt – in der kunstgeschichtlichen Periode des Expressionismus, an die Künstler im Osten wie auch im Westen Deutschlands gleichermaßen anknüpfen konnten, sondern ebenso in den zeitspezifischen politischen und gesellschaftlichen Kontexten einer geteilten deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie Roland März und Eugen Blume versäumt es auch Peter Pachnicke, die Entstehungskontexte der Kunst aus der DDR sichtbar werden zu lassen, Verwerfungen aufzuzeigen und Widersprüche konkret zu benennen. Statt dessen sucht er die Spuren zu markieren, die sich von den Selbstbefragungen des deutschen Expressionismus und den Realitätswahrnehmungen der Neuen Sachlichkeit in den Bildern aus dem geteilten Deutschland entdecken lassen, um auf diese Weise die Parallelen in der Traditionsaneignung zu betonen, die in der DDR-Kunstwissenschaft lange Zeit geleugnet worden waren.

Die expressive Rebellion als einen in der nationalen Kunstgeschichte verankerten deutsch-deutschen Parallelprozess vermag die Ausstellung aber nur für die Phase des Aufbruchs in den 1960er und frühen 1970er Jahren nachzuweisen, als sich Künstler in der Bundesrepublik und in der DDR gleichermaßen der eigenen Geschichte mitsamt ihrer verdrängten Schuld genähert haben. In den Brüchen und Destruktionen dieser Bilder entdeckte bereits Hofmann gleichgelagerte Strategien, mit denen die Künstler ihre Verstörungen durch die Denkmuster des Kalten Krieges und die Spannungen zwischen den Generationen in der Aufarbeitung der Vergangenheit ausdrückten.

In ihren nachfolgenden Teilen zerfasert die Ausstellung aber zu einer mehr oder weniger zufälligen Ansammlung von Exponaten aus den späten 1980er und 1990er Jahren, als Peter Ludwig sein früheres stringentes Sammlungskonzept nicht mehr fortgeführt hat. So gelingt es der Ausstellung nicht, jenes ironische Patchwork angemessen zu inszenieren, mit dem Albert Oehlen oder Martin Kippenberger in der Nachfolge Sigmar Polkes auf die mediale Bilderflut des Zeitgeistes und auf die Pathosformel „deutsche Kunst“ reagiert haben. Auch die Agonie des DDR-Staates findet keinen pointierten Widerhall in den ostdeutschen Exponaten aus den späten 1980er Jahren. Neo Rauchs noch fast farbfrisches Gemälde Konvoi von 2003 als Schlusspunkt der Ausstellung wirkt ohne Einbeziehung in ein aktuelles malerisches Umfeld wie eine bloße Konzession an die künstlerische Reputation des Leipziger Malers, die er sich als Shootingstar auf dem internationalen Kunstmarkt erworben hat. Als die DDR 1989 kollabierte, malte Neo Rauch als Student an der Leipziger Hochschule noch mit dem neoexpressio-nistischen Furor seiner Lehrer. Den deutsch-deutschen Bilderstreit hat er mit seinen verrätselten Nachwendebildern in elegischer Distanz zurückgelassen.

Pachnickes Ausstellung greift zwar, gestützt auf Werner Hofmanns Reflexionen, jenes spezifisch deutsche Thema auf, das Siegfried Gohr im Katalog der >Deutschlandbilder< als „die Wunde“ leitmotivisch umschrieben hat. Er versäumt es aber Hofmanns Denkansatz auf die 1980er Jahre zu übertragen und mit den politischen Abläufen dieser Zeit zu kontextualisieren. Die eigene Einbindung in den kulturpolitischen Apparat des SED-Staates als Vizepräsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR mag den früheren Professor an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst daran gehindert haben, eine freie Sicht auf die letzte Phase der Kunstproduktion in der DDR zu gewinnen.

Wo die Kunstvermittlung weiterhin Defizite in der konkreten Aufarbeitung der doppelten deutschen Kunst aufzuweisen hat, sind die Künstler durch entkrampfte Begegnungen einander näher gerückt. Gerhard Richter, der 1977 seine Bilder aus Protest gegen die behördensanktionierte Beteiligung von staatsloyalen DDR-Künstlern an der documenta 6 zurück-gezogen hatte, beschenkte inzwischen seine Heimatstadt Dresden großzügig mit einem gewichtigen Werkkonvolut aus allen Phasen seines Schaffens, und westdeutsche Malerfürsten wie Baselitz und Lüpertz haben ihr 1990 noch kategorisch formuliertes Verdikt gegenüber den ostdeutschen Kollegen aus ihrer Generation revidiert. Als Bernhard Heisigs große Retrospektivausstellung  >Die Wut der Bilder< 2005 nach ihrer Erstpräsentation im Leipziger Museum der bildenden Künste auch in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gezeigt wird, beteiligt sich der Rektor der Düsseldorfer  Kunstakademie Markus Lüpertz an der in Leipzig publizierten Festschrift für „Bernhard Heisig zum Achtzigsten“ mit einem Gedicht, in dem die Zeilen zu lesen sind: „So schufen die Maler hinter der Mauer / eine große Trotzdem-Bildwelt, / die man lesen können musste /Bernhard Heisig ist ein Gigant / in dieser vergangenen Bretterwelt gewesen.“

Hat man 2005 die Erwartung hegen können, dass von nun an eine unaufgeregte Sichtung deutsch-deutscher Kunstgeschichte die gemeinsam vertretene Zielsetzung von Kunsthistorikern und Museumsdirektoren aus West- und Ostdeutschland sein würde, so erhält diese Hoffnung ausgerechnet fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer mit der Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau >60 Jahre 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2009< einen empfindlichen Rückschlag. Denn sie bestätigt ein weiteres Mal die lakonische Feststellung, mit der Werner Hofmann im Jahr 2003 seinen Katalogbeitrag für die Ausstellung >Kunst in der DDR. Eine Retrospektive< begonnen hatte: „Lange Zeit waren die Künstler der DDR dem Westen – sofern er sie überhaupt zur Kenntnis nahm – ein Ärgernis, eine Belanglosigkeit, ein Anachronimus. Heute, nach dem politischen Debakel vom November 1989, steht dieses ausgesparte Terrain erst recht im Abseits.“14

Die von der Bundeskanzlerin am 30. April 2009 eröffnete und vom Bundesinnenministerium finanziell geförderte Ausstellung beruhte auf der Idee, für jedes Jahr des Geschichtsverlaufs zwischen 1949 und 2009 jeweils ein Kunstwerk in den Mittelpunkt einer Betrachtung des kulturellen Lebens in Deutschland zu stellen. Für die Jahre 1949 bis 1989 treten ausschließlich Künstler in den Blick, die zu dieser Zeit in der alten Bundesrepublik gelebt haben. Künstler aus der DDR blieben von der Präsentation mit dem Argument ausgegrenzt, im anderen Deutschland habe es unter den Bedingungen staatlicher Einflussnahme und Beschränkung keine Kunstfreiheit gegeben, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepubkik garantiert ist. Signifikant für die von der Ausstellungs-organisation verfolgte kulturpolitische Tendenz sind die im Katalog abgedruckten Textauszüge aus dem protokollierten Ideenaustausch, in dem ein als Kuratorium firmierendes, prominent besetztes Beratergremium von Museumsleuten und weiteren Kunstexperten im Vorfeld der Ausstellung über Konzeption und Künstlerauswahl beriet. Auf die Bemerkung von Laszlo Glozer, dass Kunst aus der DDR ab den 1970er Jahren Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit war, antwortete der Projektorganisator Walter Smerling: „Wir zeigen die Kunst, die unter Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes möglich war, nämlich freie Kunst. In der DDR war die Kunst nicht frei, also hat sie in der Ausstellung nichts zu suchen.“15 Unter den Teilnehmern des Ideenaustauschs blieb – wie Diskussionsbeiträge von Ingrid Mössinger, Museumsdirektorin in Chemnitz, und von Peter Iden belegen – diese apodiktische Abwertung aller Kunstleistungen aus der DDR nicht unwidersprochen. Doch Folgen für das Ausstellungskonzept hatte dieser Widerspruch zu Smerlings Sichtweise nicht, weder für die Jahre 1949 bis 1970 noch für die von Glozer angesprochene Phase nach 1970, die unter dem Vorzeichen eines sich erweiternden Kulturaustauschs stand.16 Kunstgeschichtlich zeugt die Ausgrenzung von international renommierten Künstlern wie Hermann Glöckner, Gerhard Altenbourg oder Carlfriedrich Claus von einer befremdlichen Ignoranz, denn längst haben diese Künstlerpersönlichkeiten in der nach 1989 entstandenen kunstkritischen Literatur ihre angemessene Würdigung gefunden und die seit der Renaissance vielfach diskutierte, von Smerling abermals reaktivierte Behauptung widerlegt, relevante Kunst könne nur in einem freien Staatsgebilde entstehen – was schon unter Verweis auf das Werk von Dmitri Schostakowitsch in der stalinistischen Sowjetunion eindrucksvoll widerlegt wird.

Bemerkenswert ist aber auch die kulturpolitische Seite der mit einer formalen staatsrechtlichen Begründung sanktionierten Aussparung ostdeutscher Kunst aus dieser nachkriegsdeutschen Kunstbilanz. Wir erinnern uns: Die westdeutsche Politik vertrat in den beiden ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundes-republik mit Vehemenz einen staats- und völkerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch, doch postulierte sie gleichzeitig den Fortbestand einer gemeinsamen deutschen Kultur als wesentliche Klammer für die Einheit der deutschen Nation. An diesem kulturgeschichtlichen Konzept hielt sie bis zum Ende der DDR fest, erst nach der deutschen Vereinigung entstand die Tendenz, die Kultur aus der DDR weitgehend abzuwerten, ohne die Frage nach ihrer wertvollen Substanz inhaltlich zu reflek-tieren. Für diese fragwürdige Entwicklung ist es symptomatisch, wenn Walter Smerling im Katalogvorwort konstatiert: „Die kreative Kraft soll vermittelt werden, die sich in den sechs Jahrzehnten seit Kriegsende entfaltet hat und die Basis für die heutige Kunstlandschaft der Bundesrepublik darstellt. Es werden die wichtigsten Werke wegweisender deutscher Künstler von 1949 bis 2009 gezeigt (…)“17 So erkennen wir im Jahr des doppelten deutschen Jubiläums ein merkwürdiges Paradox: Im  „Kultur- Artikel“ 35 des Einigungsvertrags vom 31. August 1990 hatten die beiden demokratisch gewählten deutschen Regierungen bekräftigt: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation.“ Als 19 Jahre später neben der Staatsgründung der Bundesrepublik vor 60 Jahren auch die deutsche Wiedervereinigung gewürdigt werden sollte, war diese ebenso lapidar wie treffend formulierte Einsicht ad acta gelegt, was die Entrüstung vieler ostdeutscher Museumsleute und Kunstkritiker sehr verständlich machte.

Für die Zeit nach dem Ende der SED-Diktatur wurde von den ostdeutschen Künstlern der älteren Generation nur Wolfgang Mattheuer in die Phalanx „wegweisender deutscher Künstler“ aufgenommen. Doch das für das kulturelle und künstlerische Klima des Jahres 1993 als prototypisch vorgestellte Gemälde Hinter den 7×7 Bergen  ist die Paraphrase eines älteren Bildes (Hinter den 7 Bergen), das Mattheuer bereits 1973 malte. Obwohl es qualitativ mehr überzeugt, konnte es nach den Kriterien der Ausstellungsmacher nicht berücksichtigt werden, es wurde in der Ausstellungsinszenierung nicht einmal erwähnt. Was soll da noch der Bildkommentar im Katalog bedeuten, der Mattheuer als einen der „wegweisenden“ Protagonisten der Leipziger Schule hervorhebt, der „über die Staatskunst der DDR hinaus eigenständige und kritische Werke geschaffen“18 habe. Mit dem für die Ausstellung ausgewählten Gemälde aus Mattheuers Spätwerk lässt sich dieser postulierte Stellenwert nur unzureichend unterstreichen.

Da wäre ein Gemälde von Bernhard Heisig, in dem sich dieser andere Maler der Leipziger Schule mit seinen traumatischen Kriegserinnerungen und den ideologischen Auswirkungen der mörderischen Welteroberungsfantasien Hitlers auf das Schicksal des Einzelnen auseinandersetzt, eher dem beanspruchten Bedeutungshorizont gerecht geworden. So wundert es nicht, dass die so kurzfristig wie aufwendig von der Bundesregierung unterstützte und von der Boulevard-Zeitung Bild als Medien-partner geförderte Ausstellung in der Presse fast einhellig heftige Kritik erfahren hat und in der Diskussion um eine gesamtdeutsche Kunstgeschichte ohne Wirkung geblieben ist.

Dagegen hat die am 25. Januar 2009 im Los Angeles County Museum of Art (LACMA) eröffnete Ausstellung >Art of Two Germanys/Cold War Culture< nicht nur auf nordamerika-nischem Boden, sondern auch hierzulande große Aufmerk-samkeit gefunden. Kuratoren der kalifornischen Ausstellung, die im Anschluss an ihre Präsentation in Los Angeles vom 28. Mai bis 6. September auch im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und vom 3. Oktober 2009 bis zum 10. Januar 2010 im Deutschen Historischen Museum Berlin gezeigt wurde, waren Stephanie Barron und Eckhart Gillen, die in ihrer Kooperation auch die Städtepartnerschaft zwischen Los Angeles und Berlin konkret bekundet haben. Für Stephanie Barron ist die in Nürnberg und Berlin unter dem Titel >Kunst und Kalter Krieg – Deutsche Positionen 1945-89< gezeigte Ausstellung das dritte von ihr innerhalb der zurückliegenden 20 Jahre organisierte Projekt, das sich mit der deutschen Kunst im Kontext von Politik beschäftigt. 1991 hatte sie im LACMA –  anschließend auch in Berlin präsentiert –  das Schicksal der Avantgarde im Nazideutschland unter dem diffamierenden Vorzeichen von >Entarteter Kunst< analysiert, und 1997 folgte mit >Exil, Flucht und Emigration< eine weitere Ausstellung, die deutsche Künstler und ihre Werke aus einer apolitischen Betrachtungsweise herausholte, um sie als eine komplexe Kombination von kulturellen Erfahrungen und politischen Programmen in den Blick zu nehmen. Mit Eckhart Gillen gewann Stephanie Barron einen erfahrenen Partner für ihre dritte, auf das Thema Kunst und Kalter Krieg fokussierte Ausstellung, konnte dieser doch seinen Forschungsfundus, den er schon in den >Deutschlandbildern<  erstmals bilanziert hatte, in das Projekt einbringen. Ausgangspunkt der Ausstellung sind die unterschiedlichen Systeme, die als Folge des untergegangenen „Dritten Reiches“ im Nachkriegsdeutschland von den Siegermächten etabliert worden sind und das Kunstgeschehen in den 1949 gegründeten beiden deutschen Teilstaaten während des Kalten Krieges maßgeblich beeinflusst haben. Was die Ausstellung >60 Jahre 60 Werke< völlig ausgeklammert hat  – die Parallelwahrnehmung der ost- und westdeutschen Kunstlandschaften mitsamt den Ursachen ihrer Polarisierungen und Annäherungen –, das leisten Barron und Gillen mit ihrer Ausstellung und dem Autorenteam des begleitenden Katalogbuches.19

Während Smerlings Ausstellungskonzeption die These Werner Haftmanns von der ideologiefernen, als Ausdruck der Freiheit verstandenen Kunst der Abstraktion fortschreibt, die sich der bundesdeutschen Demokratie verdanke, enthüllt der von Stephanie Barron und Sabine Eckmann herausgegebene Katalog diese scheinbare Ideologiefreiheit als aus den USA subversiv gesteuerte Strategie, mit der die Sowjetdiktatur kulturell decouvriert und eigene Hegemonialinteressen verbrämt werden sollten. Zugleich wird der Wandel verfolgt, den die ostdeutsche Kunst zwischen dem sozialistischen Realismus der Stalin-Ära und den künstlerischen Auf- und Ausbrüchen im Anschluss an die Moderne durchschritten hat. Dabei fällt auf, dass die Sicht von außen, die die Amerikanerin Stephanie Barron auf die deutsche Kunstgeschichte richtet, zu unkonventionellen Wahrnehmungen befähigt hat. So nimmt sie aus dem Œuvre Willi Sittes ein Frühwerk in den Blick, mit dem der später zum Vorsitzenden des Verbandes Bildender Künstler aufgestiegene Maler seinerzeit massive Kritik von Kultur-funktionären wie Alfred Kurella herausgefordert hat. Das Gemälde Massaker II  von 195920 gehört zu einem Werkzyklus, in dem Sitte die Verbrechen der SS im tschechischen Ort Lidice dokumentiert hat. In einer grausamen Vergeltungsaktion für das Attentat auf Reinhard Heydrich waren am 10. Juni 1942 die männlichen Ortsbewohner ermordet, die Frauen und Kinder in Konzentrationslager deportiert worden. Sittes BIld hält die Szene unmittelbar nach der Erschießung fest und orientiert sich dabei unübersehbar an Picassos Guernica-Monumentalbild. Hier wird deutlich, dass Sitte, wie auch Harald Metzkes, in den ausgehenden 1950er Jahren zu den jungen Künstlern in der DDR gehörte, die mit  Anlehnungen an die Moderne die dogmatische Starre des sozialistischen Realismus durch erweiterte stilistische und thematische Freiräume aufzubrechen suchten.

Bemerkenswert ist die breite Resonanz, die das Publikum der Ausstellung in Los Angeles im Vergleich zu der Station in Nürnberg entgegengebracht hat. Die Nürnberger Besucher-zahlen bestätigen die allgemeine Erfahrung, dass in West-deutschland Künstler und Kunstwerke aus der DDR auch weiterhin wenig Aufmerksamkeit finden. Der Bilderstreit der 1990er Jahre ist einem sich latent ausbreitenden Desinteresse gewichen. So löste eine 2009 veröffentlichte Pressemeldung über die Verlagerung der DDR-Sammlungsbestände aus der Galerie Ludwig im Schloss Oberhausen vor Ort und in der Rhein-Ruhr-Region keinerlei Aufregung über den Verlust eines wichtigen Fundus von Kunst aus der DDR im Westen Deutschlands aus. Christine Vogt, die nach dem Ausscheiden von Bernhard Mensch 2008 die Leitung des Hauses übernommen hatte,sah keine Verwendungsperspektive mehr für die umfangreiche Dauerleihgabe Peter Ludwigs, die nach der Wiedervereinigung eine Brückenkopf-Funktion für Kunst aus der DDR hätte einnehmen können. Von der Kollektion, die der Aachener Sammler 1983 Schloss Oberhausen für die Gründung des Ludwig-Instituts für Kunst der DDR bereitgestellt hatte, wanderten 129 Gemälde und 33 Skulpturen in das Museum der bildenden Künste Leipzig und fast 500 grafische Blätter in die Depots des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Für das Leipziger Museum eröffnet sich mit dem umfangreichen Zuwachs die Chance, einen neuen Fokus auszubilden, der die Kunst aus der DDR in den Kontext der deutschen und inter-nationalen Kunstentwicklung rückt. Das kann nicht nur durch Wechselausstellungen gelingen, die neue Sichtweisen auf die alte Kunst der DDR bietet, sondern müsste nun auch in der Komposition der Dauerausstellung der Sammlungsbestände zur Wirkung kommen. Nur auf diese Weise könnte die Diskussion um die gesamtdeutsche Kunstgeschichte einen neuen Impuls bekommen.

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1  Siehe die Kapitel >1945: die restaurierte Moderne<, >Der Streit um das Menschenbild<, >1960: eine zweite „Stunde Null“< und >Der Streit mit der Öffentlichkeit<  im Beitrag von Hans Belting: >Bilderstreit: ein Streit um die Moderne<, in: Siegfried Gohr und Johannes Gachnang: Bilderstreit – Widerspruch, Einheit und Fragment in der Kunst seit 1960, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 1989, S. 18ff.

2  Ebd., S. 25.

3  Eberhard Roters: „Die Spannweite der Konflikte“, in: Eckhart Gillen (Hrsg.): Deutschlandbilder, Ausst.-Kat., Berlin 1997, S.20.

4  Ebd., S. 21.

5  Siegfried Gohr: „Die Wunde“ – ein Leitmotiv für die Betrachtung der deutschen Kunst, in: Ausst.-Kat. Deutschlandbilder (wie Anm. 3), S. 29.

6  Siehe Claudia Banz: Laborismus gegen Kapitalismus und Kommunismus im Dunkeln:Joseph Beuys, in: Ausst.-Kat. Wahnzimmer, Museum der bildenden Künste Leipzig und Museum Folkwang Essen, Leipzig 2002, S. 45.

7 Eckhart Gillen: Auto-Perforationsartistik: Else Gabriel, Micha Brendel, Rainer Görß, Via Lewandowsky, in: Ausst.-Kat. Wahnzimmer (wie Anm. 6), S.191.

8  Siehe Eugen Blume: Austritt aus dem Menschenbild: Joachim Böttcher, Volker Henze, Hanns Schimansky, Harald Toppl, Mark Lammert, in: Ausst.-Kat. Wahnzimmer (wie Anm. 6), S. 132.

9  Eugen Blume und Roland März: Re-Vision. Kunstdenkmäler und Sinnzeichen, in:  dies.(Hrsg.):Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin 2003, S. 31.  – Für Eugen Blume mag die weitgehende Aussparung einer Konfliktanalyse der 1980er Jahre in der kurz zuvor von ihm mitkuratierten Ausstellung >Wahnzimmer< begründet sein. Zumal die Neue Nationalgalerie eine Zeitlang die in Leipzig gezeigte Doppelausstellung >Klopfzeichen< (mit ihren beiden Teilen >Wahnzimmer< und >Mauersprünge<) nach Berlin holen wollte. Da die Nationalgalerie aber bereits an einer eigenen Ausstellung arbeitete, zerschlug sich das Vorhaben. Roland März war mit großer Beharrlichkeit an den Planungen der hauseigenen Ausstellung von Kunst aus der DDR in der Neuen Nationalgalerie beteiligt und legte besonderen Wert darauf, den bisher dominierenden Leipziger Malern die künstlerische Bedeutung der Berliner Schule entgegenzustellen, mit deren Vertretern ihn langjährige Freundschaften verbinden.

10  Hanno Rauterberg: Kunst auf Freigang. Die Neue Nationalgalerie in Berlin zeigt großartige Bilder aus DDR-Zeiten, verschweigt aber deren Geschichte, in: Die Zeit, 31. Juli 2003.

11  >Wut der Sinne< tituliert Peter Pachnicke das zentrale Raumarrangement seiner Ausstellung >Deutsche Bilder aus der Sammlung Ludwig< in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen.

12  Siehe Werner Hofmann: Wie deutsch ist die deutsche Kunst? Eine Streitschrift, Leipzig 1999. Peter Pachnicke bezieht sich auf das Kapitel >Das Grauen der Abgründe<, S. 51ff.

13  Bernhard Mensch und Peter Pachnicke (Hrsg.): Ausst.-Kat. Deutsche Bilder aus der Sammlung Ludwig, Ludwig Galerie Schloss Oberhausen 2006, S. 7 (Vorwort).

14  Ausst-Kat. Kunst in der DDR. Eine Retrospektive (wie Anm. 9), S. 33.

15  Das Beratergremium ist erstmals am 23. 10. 2008 zusammengetreten, das Protokoll in Auszügen abgedruckt in: Ausst.-Kat. 60 Jahre 60 Wege. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2009, hrsg. von Walter Smerling, Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn, Martin-Gropius-Bau Berlin 2009, Köln 2009, S. 16-23, hier S. 19.

16  Siehe dazu Karin Thomas: Die Rezeption der Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik bis 1989, in: Deutschland Archiv, H. 4/2009, S. 684-695.

17  Walter Smerling: Das Gestern kann uns nur ermutigen, in: Ausst.-Kat. 60 Jahre 60 Werke (wie Anm. 15), S. 14.

18  Ausst.-Kat. 60 Jahre 60 Werke (wie Anm. 15), S. 248

19  Stephanie Barron und Sabine Eckmann (Hrsg.): Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89, deutsche Ausgabe des vom Los Angeles County Museum of Art konzipierten Katalogs: Art of Two Germanys/Cold War Cultures, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg und Deutsches Historisches Museum Berlin, Köln 2009.

20  Will Sitte, Massaker II, 1959, ebd., S. 69, Katalognummer 359.

© Karin Thomas

(Eine wesentlich erweiterte Fassung unter dem Titel „Re-Visionen eines Bilderstreites. Ausstellungen deutscher Kunst zwischen 1997 und 2012“ in: Karl-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR als Stellvertreterdiskurs der deutschen Wiedervereinigung. Berlin: Siebenhaar Verlag 2013, S.151-165)

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