Ernst Brücher und die Neue Musikszene – Erinnerungssplitter

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2008

Ernst Brücher und die Neue Musikszene – Erinnerungssplitter

Seit ich Ernst Brücher kennengelernt habe, gehören sein fundiertes Wissen zur Kunst, sein geradezu enzyklopädisches Bilder-Gedächtnis und seine nie versiegende Neugier auf alle Tendenzen der Avantgarde wie selbstverständlich zu seiner verlegerischen Persönlichkeit. Dass ihn aber darüber hinaus schon frühzeitig in der Nachkriegsära die Neue Musik in ihren Bann gezogen hat – diese Facette seiner Interessen wurde mir erst im Verlauf meiner langjährigen Lektoratstätigkeit in seinem Buchverlag offenkundig. Das publizistische Engagement des Kunstbuchverlegers für Mauricio Kagel und Nam June Paik, zu denen Ernst Brücher eine mäzenatische Freundschaft pflegte, war mir einleuchtend. Verbanden doch beide Künstler ihr musikalisches Experimentieren mit den performativen Aktivitäten der Fluxus-Bewegung, die in der Köln-Düsseldorfer Kunstszene seit den 1950er Jahren eine lebhafte Präsenz entfaltete. Doch den elektronisch-synthetisierten Klangschichtungen von Karlheinz Stockhausen verweigerte mein ausschließlich auf klassische Harmonien gepoltes Ohr zunächst jede Rezeptionsbereitschaft. So hat es geraume Zeit gedauert, bis ich 1994 erste Blicke in Stockhausens nun schon in mehreren Bänden bei DuMont edierte Werkdokumentation warf. Anlass dazu gab mir das Begleitheft zu der Ausstellung >Neue Musik in Köln 1945 – 1971<, das Franz-Xaver Ohnesorg 1994 zur Ersten Musik Triennale in der Kölner Philharmonie herausgegeben hatte. Eingestreut zwischen den Rückblicken längst zu internationalem Ruhm aufgestiegener Protagonisten der Neuen Musik, stieß ich auf die „Erinnerungen“ von Ernst Brücher an eine Zeit, als das von Herbert Eimert schon 1951 im WDR eingerichtete >Studio für Elektronische Musik< vielen Komponisten der Avantgarde die Realisierung ihrer Werke an den technischen Mischpulten des Senders und deren Aufzeichnung in der Sendereihe >Musik der Zeit< ermöglichte. Mit der für ihn so signifikanten Mischung aus humorvoller, auf die Anekdotenpointe fokussierter Erzählung und bescheidenem Hintanstellen der eigenen Kennerschaft blickt Ernst Brücher auf seine Erlebnisse im Konzertsaal des WDR zurück: „Es zirpte, klöppelte, schabte, zischte, piepste, murkelte und scharmützelte nur so, daß es eine reine Freude war. Na, dachte ich, das kann ja heiter werden, denn ich war ursprünglich gewohnt, zum Beispiel bei Beethovens Neunter Symphonie heimlich mitsummen zu können oder bei Wagnerschem Gebrause geistig-sinnliche Stimmungen in der Gegend des Unterleibes zu verspüren. (…) Dessen ungeachtet und trotzdem: Aus mir fast unerfindlichen Gründen lernte ich dann offenbar langsam doch, die sinnlich-heiteren Passagen von Berio, die pathetische Schönheit von Boulez, die phantasiebewegten, streng gegliederten Musikstücke von Mauricio Kagel, die sphärisch-mystischen Klänge von Stockhausen, die wunderbaren Innovationen von Nono und Ligeti, die hoch intelligente, mehrschichtige Arbeit von Paik zu verstehen und zu genießen.“

Diese Worte weckten meine Neugier auf das, was in DuMonts frühem Verlagsprogramm zum Thema Neue Musik zu entdecken war. So konnte bereits der zweite Produktionszyklus nach der Verlagsgründung mit einer Trouvaille aus dem Studio für Elektronische Musik überraschen. Dort entsteht 1957 die Schallplattenaufzeichnung Fa:m’Ahniesgwow, eine Komposition in 43 Strukturen von Hans G. Helms. Laute, Silben, Worte, Phrasen der Umgangssprache und Slangausdrücke sind derart zu Begriffskomplexen verbunden, dass sie unversehens in eine scharfe Kritik an dem medialen Sprachverschleiß durch Reklame und Propaganda umschlagen. Brücher veröffentlicht die Strukturenfolge als Buch und als Schallplatte mit Synchronisationsplan und etabliert mit dieser ersten Künstleredition die Reihe studio dumont, die fortan außergewöhnlichen Einzelpublikationen und Künstlerbüchern vorbehalten ist. 1969 veröffentlicht Dieter Schnebel in dieser Reihe unter dem Titel Mo-No Musik zum Lesen, die den Benutzer des Buches für sich allein agierend – mono – zum Ausführenden von Musik im Kopf macht. Bereits 1960 hatte Ernst Brücher in den DuMont Dokumenten, die sich zur erfolgreichsten Reihe in der Verlagsgeschichte entwickeln werden, mit dem Titel Kommentare zur Neuen Musik I eine Auswahl der ursprünglich vom WDR-Studio für Elektronische Musik unter der Regie von Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen edierten Hefte 1 bis 7 Information über serielle Musik herausgebracht. Der Sammelband würdigt zunächst mit Texten u. a. von Pierre Boulez, Herbert Eimert, Heinz-Klaus Metzger, Ernst Krenek und Arnold Schönberg die Bedeutung Anton Weberns für die elektronische Musik, während Komponisten wie John Cage, Henri Pousseur, Gottfried Michael König, Boulez und Stockhausen Einblicke in ihre Konzeptionen elektronischer Klangerzeugung geben. Noch heute ist das Buch eine profunde Quelle zur Geschichte der Neuen Musik.

Zu Brüchers Freunden aus der Szene der Neuen Musik gehörte auch John Cage. Wir finden den Amerikaner  sowohl im WDR-nahen Eiscafé des Jazz-begeisterten Gigi Campi und unter den Gästen der späteren Ehefrau Stockhausens, Mary Bauermeister, die aus ihrem Kölner Atelier einen salonartigen Treffpunkt der Rheinischen Avantgarde macht, wie auch im Hahnwald-Anwesen der Familie Brücher. Daran erinnert sich Ernst Brücher geradezu lustvoll in seinem Essay für die Broschüre der Musik Triennale 1994: „Gemeinsam mit Kind und Kegel (…) reisten wir (…) zu den seinerzeit höchst aufregenden und produktiven Musiktagen in Darmstadt. Zur selben Zeit begannen wir, zu Hause unprätentiös-vergnügt sogenannte Hauskonzerte zu veranstalten. Neben manchen der schon erwähnten kühnen Meistern der Tonkunst erschien auch John Cage, dessen musikalischer Beitrag insofern angenehme Stille und gute Konzentration verbreitete, indem er sich zwischen uns auf den Boden hockte, ein Bettlaken über den Kopf zog und einen hölzernen Kochlöffel ab und zu unten aus dem weißen Linnenberg herausschauen ließ: >Listen, that’s a beautiful and intelligent mouse…<, rief er uns aus seinem Versteck zu.“ In den Erzählungen des Komponisten gibt es eine weitere Anekdote aus dem Haus in Hahnwald, die Ernst Brücher wohl stets geleugnet hat, die aber von Teilnehmern aus dem Brücherschen Freundeskreis ihre Bestätigung fand. Danach soll Cage im Hause Brücher eine Privatvorführung seines berühmten Stückes 4’33 vorgenommen haben, ohne dass dies vom Gros der Anwesenden bemerkt worden wäre. Als der Hausherr gegen Mitternacht den Künstler fragte, wann er denn seine Komposition spielen werde, soll der verwundert geantwortet haben, sie sei bereits vor dreieinhalb Stunden vorgeführt worden. In der Tat bestand das 1952 konzipierte Stück aus den Zufallsgeräuschen eines vom Künstler ausgewählten Zeitintervalls von 4 Minuten und 33 Sekunden.

Während der weitläufige Hahnwald-Neubau der Familie Brücher einen vielzähligen Freundeskreis aufnehmen konnte, befand sich Mary Bauermeisters Atelier in einer kleinen Dachbodenwohnung in der Lintgasse. Um die Gäste ihrer geschätzten Soireen unterbringen zu können, musste Frau Bauermeister jeweils Möbel rücken und Ernst Brücher um das Anmieten von Klappstühlen bitten. Das tat er bereitwillig, wie er mir erzählte, bis der Stuhlverleih ihn darauf hinwies, dass der Fußboden im Bauermeister-Atelier den außerordentlichen Belastungen nicht gewachsen sei und dass daraus im Ernstfall ein kostspieliges Versicherungsproblem entstehen könnte.

In der langjährigen Freundschaft zu Nam June Paik spiegelt sich das außerordentliche Engagement Brüchers für die Videokunst, die schon in ihren Anfängen bei DuMont eine breite publizistische Präsenz erhielt. 1971 verfasst Paik auf Veranlassung von Ernst Brücher für meine eigene Dokumentation aktueller Ästhetik Kunst Praxis heute (erschienen 1972) einen ersten Bericht über den gemeinsam mit Shuya Abe konstruierten Videosynthesizer, der es möglich macht, dass Töne Bilder werden. Aus der „elektronischen Musik“ entwickelt Paik seine elektronische Videokunst. Als der Kölner Kunstverein 1976 die erste deutsche Retrospektivausstellung zum Werk von Paik veranstaltet, erscheint der Ausstellungskatalog mit einer detaillierten Werkchronologie des Künstlers bei DuMont. Gerd de Vries, der das Lektorat des Katalogs betreut, stellt bei der Kontrolle der Werkabbildungen mit dem Kennerblick des Musikwissenschaftlers  fest, dass die Partitur einer frühen Symphonie – anders als vorgegeben – unvollständig ist. Im Unterschied zu den Ausstellungsorganisatoren nimmt Brücher den Hinweis seines Lektors auf die Unvollständigkeit der Dokumentation ernst und macht in vielen Telefonaten Paik ausfindig, der zu dieser Zeit seinen Aufenthaltsort ständig zwischen Tokio, New York und Köln wechselt. Dankbar für die Umsicht des Lektors und die Brüchersche Vermittlung schickt Paik umgehend das fehlende Partiturstück seiner symphonisch konzipierten Komposition.

In den frühen 1970er Jahren erweist sich Brücher als Fan der Pop-Kunst und der Beatles. Nach einem seiner vielen London-Aufenthalte schenkt er seinem Freund Mauricio Kagel – wie Achim Mantscheff berichtet – eine Platte der Beatles mit dem Kommentar: „Mauro, jetzt wird es ernst, mit diesen Burschen wird die Sache anders.“ Hatte Brücher doch erkannt, dass mit den Stücken der Pilzköpfe die Grenzen zwischen den Bereichen von E- und U-Musik endgültig durchbrochen wurden. Da er die Kontinuitäten und Wandlungen von künstlerischen Konzepten stets frühzeitig wahrnahm, erkannte er die durchkomponierte Struktur in den Stücken der Beatles, die dem Musikverständnis eines Stockhausen weit näher waren als jeder gängigen Schlagerproduktion. So wundert es nicht, dass der Einfluss Stockhausens auf die Beatles in der Literatur häufig apostrophiert wird. Michael Kurtz berichtet in seiner 1988 erschienenen Stockhausen-Biografie sogar von den Plänen eines gemeinsamen Konzerts. So manchem Mitglied der avantgardistischen Rock-Szene hatten Stockhausens elektronische Klänge den Einstieg in neue Sound-Texturen gewiesen. Als John Lennon im Dezember 1980 ermordet wurde, veröffentlichte die Welt am Sonntag Stockhausens Würdigung, in der es hieß: „Lennon hat mich früher oft angerufen. Er liebte besonders meine Hymnen und den Gesang der Jünglinge und hat manches übernommen, zum Beispiel für Strawberry Fields Forever.“ So tat Ernst Brücher recht daran, als er den alten Freunden der Neuen Musik auch weiterhin editorisch die Treue hielt. Er publizierte sorgfältig erarbeitete Werkdokumentationen zu John Cage und Mauricio Kagel, Kataloge und Schriften von Paik sowie über mehrere Jahrzehnte die Schriften von Karlheinz Stockhausen in einer Werkausgabe von insgesamt sechs Bänden.

© Karin Thomas

In: Ernst Brücher. Ein Erinnerungsbuch. Köln: DuMont Buchverlag 2008, S. 120-125.

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