Blickpunkt Moderne

2010 ist im Kölner DuMont Buchverlag mein Buch Blickpunkt Moderne.Eine Geschichte der Kunst von der Romantik bis heute erschienen.

Dokumentiert sind Einleitung und Epilog:

Einleitung                                              

In der Kunstwissenschaft hat sich der Begriff „Moderne“ als Sammelbezeichnung für die künstlerischen Strömungen seit dem ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts mit ihren rasch aufeinanderfolgenden Stilerscheinungen etabliert. In kulturwissenschaftlicher Sicht ist er jedoch weit mehr als ein Epochenbegriff. Übergreifend bezeichnet er den alle Bereiche des sozialen, politischen und kulturellen Lebens umfassenden Umbruch gegenüber einer traditionellen Ordnung, die von feudalen Herrschaftsstrukturen und nationalen Eigenheiten gekennzeichnet war. Ideengeschichtlich beginnt diese Entwicklung bereits mit der frühen Aufklärung im 17. Jahrhundert1, politisch provoziert die Französische Revolution einschneidende Veränderungen, die bis in die Gegenwart fortwirken. Mit dem Sturz des Ancien Regime wandeln sich die überkommenen Machtstrukturen. Adel und Klerus büßen ihre Vorrechte ein, und aus dem kritischen Denken der Aufklärer gehen die Maximen der Menschenrechte und die Grundzüge demokratischer Gesellschaftsordnungen hervor. Wirtschaftlich bietet die Industrialisierung der Gründerzeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufstieg einer bürgerlichen Elite die ökonomischen und kulturellen Rahmenbedingungen für die Ausbildung einer neuen Klientel von Kunstrezipienten. Durch die Einrichtung von Museen2 und jährlich stattfindenden Salons, in denen die zeitgenössische Kunstproduktion der Öffentlichkeit präsentiert wird, erhält jeder interessierte Bürger in den Kunstmetropolen Paris, Wien oder Berlin nun die Gelegenheit, aktuelle Kunst zu besichtigen und zu bewerten.

Die kulturgeschichtliche Literatur benennt in der Regel keine festen Eckdaten, an denen sich das historische Einsetzen der Moderne festmachen ließe. Die Datierung des Beginns hängt ab von den Grundlagen und Voraussetzungen, die man für ihr Erscheinen ansetzt. Überzeugend ist die Eingrenzung, die der renommierte amerikanische Kulturhistoriker Peter Gay für die Epoche der Moderne auf den Zeitraum von 1840 bis 1960 vornimmt.3 Den Beginn verortet Gay bei Baudelaire, der in seiner Dichtung, vor allem aber auch in seinem 1863 veröffentlichten Essay Der Maler des modernen Lebens, eine Vorstellung von Modernität umreißt.4 Für Baudelaire ist modern die fortwährend neue und flüchtige, weil sich rasant wandelnde Großstadtwirklichkeit. Sie erlebt der beobachtende Flaneur gleichermaßen als Stimulans, wie auch als Schock, durch sie wird seine „Imagination“ zu künstlerischer Interpretation herausgefordert.

Seit dem frühen 20. Jahrhundert sehen sich die Künstler der Moderne als Avantgarde, als Vorhut des Zeitgeistes und als Neuerer einer auf das Leben bezogenen Kunst. Signifikant für ihr künstlerisches Experimentieren ist der Zugriff auf unverbrauchte Materialien, die Erprobung neuer bildnerischer Sprachformen, die Beobachtung der Realität und die Nutzung moderner Informationsmedien.

Wenn wir den Verlauf der Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert näher in den Blick nehmen, stellen wir fest, dass die Künstler in den einzelnen Phasen der Stilentwicklungen unterschiedlich auf ihre Gegenwart reagiert haben. Ihre Stellungnahmen zu dem, was sich vollzog, schwanken zwischen Voraussicht, Opposition und Anpassung, und in diesen Haltungen bekundet sich auch ihre eigene Positionsbestimmung. So sehen Malewitsch und Mondrian in der Geometrie ihrer abstrakten Bilder das Modell einer harmonischen Welt, eine utopische Vorstellung, die in Russland von der postrevolutionären stalinistischen Diktatur und in Westeuropa von den Okkupationen und dem Terror der Nationalsozialisten vollends zerstört wird. Auch die Expressionisten müssen solche Erfahrungen durchleben und verarbeiten. Frustriert von den Konventionen geben die Brücke-Maler in glühenden Farbströmen ihrer Sehnsucht nach einer Erneuerung von Kunst und Leben Ausdruck. Doch als der Erste Weltkrieg sie mit der Zerstörung ihrer Ideale in eine tiefe Identitätskrise stürzt, drückt Kirchner in giftigen Farben und scharf kantigen Formen seinen schreienden Protest gegen die Grausamkeiten des Zeitgeschehens aus.

In den 1930er- und 1940er-Jahren erlebt die Avantgarde in ganz Europa durch die Folgen der faschistischen und stalinistischen Diktaturen eine grundlegende Erschütterung, die sich in Pablo Picassos Guernica-Gemälde ikonisch verdichtet. Viele Künstler, die der Moderne zuvor Maß setzende Impulse gaben, müssen ihre Heimatländer verlassen und emigrieren zumeist in die USA. Paris verliert seinen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert unangefochtenen Metropolenstatus für die Kunst. Das internationale Avantgardegeschehen verlagert sich nach New York, wo der Exponent des Abstrakten Expressionismus, Jackson Pollock, das Profil des Avantgarde-Künstlers „als genialisch begabter, zugleich jedoch von persönlichen Krisen gequälter“ Erneuerer und Einzelgänger noch einmal reanimiert5 und in den 1950er-Jahren nach Europa zurückbringt. Damit verbunden ist ein Prozess der Wiedergutmachung gegenüber den von Faschismus und Stalinismus diskreditierten Künstlern und ein anwachsender transatlantischer Dialog, der die nationalen Kunstszenen zugunsten ihrer internationalen Vernetzung relativiert. Die Künstler werden im Zuge der ideologischen Blockbildung zwischen Ost und West dazu aufgefordert, die Möglichkeiten einer freien Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte als Folge der politischen Freiheit in den westlichen Demokratien zu sehen.

Mit der Pop Art schwindet der Impetus der modernen Kunst, der Welt ein Ideal von globalisierender Freiheit vor Augen zu führen, wie dies der Abstrakte Expressionismus und das Informel für sich in Anspruch genommen haben. Andy Warhol verwischt in seiner Factory die bis dahin nie ganz infrage gestellte Trennlinie zwischen Kunst und Leben, indem er das ganze Alltagsleben bis hin zu Werbung und Starkult als Material der Kunst absorbiert. Im „Anything goes“6 seiner Bildzitate aus den Medien und der Konsumwelt verflüchtigt sich der Originalitätsanspruch der vorausgegangenen Stile und deren gegenseitiger usurpatorischer Verdrängungsprozess.

1968 ist nicht nur das Jahr der gesellschaftlichen und politischen Umbrüche und der Ernüchterung angesichts von Generationskonflikten, Rassenunruhen und der brutalen Exzesse im Vietnamkrieg, sein rebellischer Furor provoziert auch eine grundlegende Neujustierung der Kunst. Mit den vielschichtigen Facetten der Concept-, Body- und Process Art bildet sich eine experimentelle Kunst, die vom Subjekt ausgehend, die Vielschichtigkeit der Erfahrungen wertungsfrei in den Blick nimmt und die Mechanismen von Wahrnehmung und Handeln in ihrer Komplexität erforscht. An die Stelle der Schulen und Stile treten ein ausgeprägter Individualismus und ein künstlerisches Nomadentum, die sich ebenso historische Ressourcen wie auch aktuelle Bildquellen aus den Medien und wissenschaftliche Methodik nach Bedarf und Belieben aneignen.

Lebhafte Diskussionen über das Ende der Moderne und ihre retrospektive Bewertung setzen zu dem Zeitpunkt ein, als mit dem Aufkommen einer sogenannten Postmoderne implizit der Abschluss der Moderne postuliert wird und man zugleich die Stilentwicklungen vom Kubismus und Futurismus bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts als klassische Moderne von einer zweiten Moderne ab 1939 abgrenzt, bis sich in der pluralistisch ausdifferenzierten Kunst der Nach-68er-Generation das künstlerische Selbstverständnis eines elitären Schöpfertums vollends verflüchtigt. Als einer der Ersten hat Charles Jencks in den ausgehenden 1970er-Jahren den Begriff der Postmoderne im Blick auf die Entwicklung der zeitgenössischen Architektur benutzt7 und als einen durch die Kunstgeschichte schweifenden Stileklektizismus gekennzeichnet, der Zitate aus allen Epochen nach den Parametern des Zeitgeistes mischt und neu aufbereitet.

Auf jeden Fall haben die Reflexionen über das Ende der Moderne dazu geführt, dass mit der postmodernen Kritik an der Moderne auch ihre grundlegenden Eigenschaften ins Bewusstsein gehoben worden sind. Denn die Protagonisten der Moderne zeichnen sich allesamt durch einen rigorosen Subjektivismus aus, der sie dazu motiviert hat, ebenso bedingungslose Selbsterforschung zu betreiben, wie sie ihre Zeitgenossen durch Provokation und Schock aufgerüttelt haben.

In der kunstgeschichtlichen Literatur variieren die Markierungen für den zeitlichen Beginn der Moderne nicht zuletzt auch danach, ob der Inhalt der Kunstwerke oder ihre Form den vorrangigen Maßstab für eine Zuordnung zur Moderne liefert.8 Wo der retrospektive Blick auf die Avantgarden von jenen Stiltendenzen dominiert wird, in denen sich das Sprachrepertoire der Abstraktion weitgehend verselbstständigt hat, ragt Paul Cézanne als der große Anreger aus dem Kreis der impressionistischen und postimpressionistischen Künstler heraus. Angesichts der Badenden und der immergleichen Motive am Fuß der südfranzösichen Montagne Sainte-Victoire ist es unverkennbar, dass den Maler nicht mehr emotionale Gehalte seiner Sujets zur Bildfindung motivierten, sondern der Prozess des Malens als solcher.

Die Etablierung innovativer bildnerischer Mittel ist seit Kubismus, Futurismus, Expressionismus und Surrealismus eines der zentralen Anliegen, auf das sich die Moderne konzentriert. Doch wo die historische Sichtung der Kunstwerke weniger von der Ästhetik ihrer Form als von den zukunftsweisenden Potenzen ihrer Inhalte ausgeht, verschiebt sich die Genese einer modernen Kunstauffassung nach rückwärts. Dann erweisen sich Künstler wie Goya, Daumier, Courbet und Manet, aber auch die Romantiker und selbst der preußische Hofmaler Adolph von Menzel als hochsensible Beobachter einer Zeit der Übergänge und Umbrüche. Denn seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wandeln sich nicht nur die sozialen und politischen Verhältnisse durch die geistige Kraft der Aufklärung und die revolutionären Vorgänge auf der Straße, auch die Religion verliert ihre Autorität. Das sich von Vorschriften konventioneller Moralvorstellungen emanzipierende Individuum lotet nun seine subjektiven Befindlichkeiten auch in den tabuisierten Zonen des sinnlichen Begehrens aus. Wir widmen daher unser Eingangskapitel den frühen Wegbereitern der Moderne.
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1 Ähnlich wie die Periode der Moderne lässt sich auch das Zeitalter der Aufklärung schwer eingrenzen. Die Ursprünge der Aufklärung liegen bereits in der Renaissance und dem Prozess der Säkularisierung, in dem „das Licht“ der menschlichen Vernunft als Quelle der Wahrheit benannt wird. In dieser Hinsicht können René Descartes, Francis Bacon und Gottfried Wilhelm Leibniz als Väter der „Frühaufklärung“ (Werner Krauss) gelten. Mitte des 18. Jahrhunderts sind es die französischen Enzyklopädisten um Denis Diderot (zu denen u. a. Rousseau, Voltaire und Montesquieu zählen), die das „Siècle des lumières“ einleiten, mit dem Ziel, das Wissen allen zugänglich zu machen. Für Immanuel Kant ist Aufklärung (in seiner Preisschrift von 1784 >Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?<) schließlich mit der Autonomie der handelnden Person verbunden: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“

2 Das moderne Museum ist aus den Kunst- und Wunderkammern des 17. Jahrhunderts entstanden, in denen Naturalien und Kunstwerke gemeinsam gesammelt worden sind (berühmt war die Kunst- und Wunderkammer Peters des Großen, 1714 nach seinen Europareisen gegründet). Das British Museum ist als erstes modernes, allgemein zugängliches Museum 1759 eröffnet worden, hervorgegangen aus der Stiftung einer privaten Kunst- und Literatursammlung an den englischen Staat. Das Fridericianum in Kassel (seit 1955 Ausstellungsort der documenta) ist das zweite öffentliche Museum, für das 1779 das erste eigens für diesen Zweck bestimmte Gebäude errichtet worden ist.

3 Peter Gay: Die Moderne – Eine Geschichte des Aufbruchs, Frankfurt am Main 2009.

4 Charles Baudelaire: Constantin Guys, der Maler des modernen Lebens, in: Ders.: Das Schöne, die Mode und das Glück, Berlin 1988.

5 Siehe dazu das Kapitel: Jackson Pollock und die „Weltsprache Abstraktion“ in: Patrick Werkner: Kunst seit 1940. Von Jackson Pollock bis Joseph Beuys, Wien/Köln/Weimar 2007, S. 21ff.

6 Der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend hat die weltweite Karriere der Parole „anything goes“ begründet, die für die Übergangsperiode von der Moderne zur Postmoderne in nahezu allen Lebensbereichen charakteristisch geworden ist. Sie ist in seiner Schrift >Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge< von1974 geprägt worden (deutsch: Wider den Methodenzwang, Frankfurt am Main 1975).

7  Charles Jencks: Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition, Stuttgart 1978.

8  So ordnet Martin Kemp den Kubismus dem Zeitalter der Revolutionen zu, das er von 1770 bis 1914 ansetzt. Die Moderne beginnt für ihn als „Moderne des Internationalen Stils“ mit dem historischen Einschnitt des Ersten Weltkriegs. Siehe Martin Kemp (Hrsg.): DuMont Geschichte der Kunst, Köln 2003.

(In: Blickpunkt Moderne, S. 12-16)

Epilog

In den 1970er- und 1980er-Jahren konkretisiert sich das Aufwachen aus der Moderne in einem wachsenden Pluralismus der Ausdrucksweisen und Stilkombinationen. Individuelles Experimentieren, Theorieverzicht, Zugriffe auf digitale Medien, Kitsch, Werbung und Banalitäten sowie ein Crossover aller Kunstdisziplinen ersetzen das Verdrängungsprinzip der Moderne, wonach das Neue als das Überlegene das Alte ablöst.

Solche Tendenzen begannen bereits bei Warhol, der Fotografie und Malerei mit den Reprotechniken der Industrie vernetzte, und setzten sich fort in der parallelen Nutzung unterschiedlicher Medien wie Installation, Performance, Film, Objekt und Text bei Robert Morris oder Bruce Nauman.

Der analytische Purismus konzeptueller Kunstpraxis provoziert am Beginn der 1980er-Jahre einen „Hunger nach Bildern“, der sich in wieder erwachter Lust an malerischer Erzählung niederschlägt. Neoexpressive Stilpotenziale werden von den „Jungen ‚Wilden“ mit Comic und Cartoon gemixt, um je nach Stimmungslage parodistisch, polemisch oder punkhaft emotional zu sein. Der Griff in das Bildarchiv der Kunstgeschichte geschieht ebenso unbekümmert wie die Weiterverwendung vorgefertigter Materialien, Fotografien und Bilder aus den Medien. Albert Oehlen wechselt am Ende des Jahrzehnts vom anarchischen Bildwitz in der Gefolgschaft Sigmar Polkes zur selbstreflexiven Malerei über Malerei, betreibt sie aber nicht als autonome Abstraktion, sondern schleust verschwommene Andeutungen von Umwelt in sie ein, ohne diese objekthaft zu konkretisieren.

In dem 300minütigen Filmzyklus Cremaster, an dem der Amerikaner Matthew Barney von 1994 bis 2002 beinahe ein Jahrzehnt arbeitet, verschränken sich Film, Performance, Installation und Video zu einer eigenwilligen, romanhaften Erzählform, in der die Faszination der rätselhaften Sequenzen, motivisch entlehnt aus Mythologie, Märchen und Science-Fiction, über eine Erzähllogik dominiert.

Synthetische Bilderzählungen aus privaten Erinnerungs-splittern, mythologischen Anspielungen, medialen Motivanleihen aus Comic-Literatur und Hollywood-Cineastik sowie ein Stilamalgam, das die Skala der Moderne vom Postimpressio-nismus Bonnards bis zu den Vermalungen und Abstraktionen Gerhard Richters ausschöpft, sind signifikant für eine zeitgenössische figurative Malerei, die nicht nur in Peter Doig, Luc Tuymans, Neo Rauch oder Daniel Richter international renommierte Exponenten hat. Für sie ist das Schweifen zwischen figurativer Rhetorik und gestischen Farbsetzungen ebenso selbstverständlich wie das Sampling, das Zusammenfügen von heterogenen Bildquellen. Diese Methode des kreativen Manipulierens übernehmen sie aus der computergesteuerten Tontechnologie, bei der diverse Musikfragmente aus der E- und U- Musik zerstückelt, zerdehnt, beschleunigt und wieder neu zusammengeschnitten werden.

Der Brite Peter Doig, der seine Kindheit und Jugend in Kanada verbrachte und 2002 seinen Wohnsitz für einige Zeit von London in die tropische Exotik der karibischen Insel Trinidad verlegt hat, mischt ganz nach dem Montageprinzip des Samplings seine Erinnerungen mit Bildzitaten aus Reise-prospekten und Zeitschriften, mit Filmstills und überarbeiteten Fotografien. Seine Gemälde entstehen nicht vor Ort, sondern aus der Ferne, wo biografische Reminiszenzen an kunsthisto-rische Assoziationen und populäre Bildzitierungen andocken können. So malt Doig in Trinidad den kanadischen Schnee, während bei den temporären Aufenthalten in London die Landschaften aus der Karibik produziert werden. Der Malprozess synthetisiert die Materialien des Samplings und hinterfängt das Amalgam mit einem Irritationsmoment: In die psychedelische Suggestionskraft weich fließender Farblasuren schleicht sich hinter der romantischen Halluzination Entfremdung ein, die Idylle kollidiert mit dem Gift der Kloake, das von der ausbeuterischen Industrie in die Wildnis hineingetragen worden ist. Daher ist bei Peter Doig nichts, wie es den Anschein hat, der Malprozess überzieht die Magie der märchenhaften Motive mit den ironischen Brechungen subtil ausgelegter Fallstricke.

Ähnliche Doppelbödigkeiten implantiert auch Daniel Richter in seine Bilder, die wie eine Infrarotkamera die bedrohlichen Dimensionen der Wirklichkeit durchleuchten. Richters Gemälde und Zeichnungen entstehen aus einem umfangreichen Archivmaterial, das der Künstler gesammelt hat, sie nutzen dokumentarische Fotografien und popkulturelle Versatzstücke. Doch ihre Signifikanz beziehen sie aus ihrer malerischen Inszenierung, die Richter aus psychedelisch tropfenden Farbflecken konstruiert und durch die das fotografische Vorlagenmaterial auf eine besondere Raum-Zeit-Ebene mit eigener Rhetorik überführt wird. In einem Gespräch mit Philipp Kaiser exemplifiziert Daniel Richter diesen Verwandlungsvorgang an einem seiner ersten figurativen Bilder Phienox (2000): „Mir ist zum Zeitpunkt, als ich Phienox gemalt habe, klar gewesen, dass ich das Bild in Berlin ausstellen werde und dass Deutschland gerade zehn Jahre Mauerfall feierte. Deswegen habe ich ein Bild gemalt, in dem Kreuzabnahme, Mauerfall und Katastrophe ineinander verwoben sind. Wird das Bild als Mauerfall gelesen, entwirft es eine ziemlich paranoide Version des geschichtlichen Ereignisses. Phienox ist eine angsterfüllte, überladene und seltsame Mischung aus Hollywood-Kriegsfilm und abstrakter Malerei und basiert, anbei bemerkt, auf einem Zeitungsfoto aus der Neuen Zürcher Zeitung, das die durch radikale Muslime bombardierte amerikanische Botschaft in Nairobi zeigt. Doch sollte das Publikum in Berlin ein Mauerfallbild sehen.“341

Weiter noch als Daniel Richter löst der Belgier Luc Tuymans seine Gemälde aus der vorgegebenen Eindeutigkeit ihrer medialen Quellen. In schwebenden Farbtonlagen thematisiert er historische Ereignisse mitsamt dem Kontext ihrer Verdrängung in das Fremdwerden und Vergessen. Während sich dem Betrachter auf den ersten Blick ein scheinbar belangloser Bildinhalt darbietet, untergräbt die aus ephemeren Farbschleiern aufgebaute Bildstruktur das erzählerische Moment und schafft einen verunsichernden Raum, in dem sich bedrohliche Ahnungen und Anspielungen einnisten. Mit dem Aufscheinen des Unheimlichen öffnen sich die Bilder für das, was – wie der Holocaust – an sich nicht darstellbar ist. Emma Dexter vergleicht das Gemälde Gaskammer von 1986 mit dem Horror bei Kafka, der sich in die unscheinbare Normalität hineinschleicht und umso stärker wirkt, wie den Betrachter das Unheimliche unerwartet trifft. Indem Tuymans die Genres Historienbild und Stillleben zur Vergegenwärtigung des Unheimlichen verschmilzt, entsteht „ein hybrides Genre, in dem Dinge, Details und Fragmente vom Grauen erzählen, das im Alltag verborgen liegt“.342 Die oft als unzeitgemäß gescholtene und totgesagte Malerei offenbart hier in ihrer Mehrdeutigkeit erstaunliche Potenzen der Regeneration. Sie löst sich aus der Dichotomie von Abstraktion und Figuration und macht sich statt dessen ihre gesamte Historie bis zur analytischen Auseinandersetzung mit sich selbst und der Fotografie im selbstverständlichen Zugriff dienstbar.

In der deutschen Kunstszene ist der Leipziger Maler Neo Rauch zum bedeutendsten Vertreter einer Malerei avanciert, die den kunstgeschichtlichen Fundus der beiden letzten Jahrhunderte ausschöpft und in Gestalt von individuellen Erinnerungs- und Wahrnehmungspartikeln miteinander vernetzt. Geradezu beispielhaft ist jedes seiner Gemälde eine postmoderne Inszenierung, die ihre beunruhigende Wirkung aus dem Zusammenschnitt auseinander liegender Kompartimente bezieht. Sind die frühen Bilder aus der ersten Nachwendezeit von einer nostalgischen Pop-Ästhetik im Anklang an die ausgehenden 1950er-Jahre und von einer stillgelegten Industriearchitektur sozialistischer Herkunft geprägt, so hat sich Neo Rauch seit dem in die Historie des 19. Jahrhunderts hineingegraben. Seine somnambulen Figuren treten nun – gänzlich unzeitgemäß – in Bratenrock und Rüschenhemd auf und erleben ihre surrealen Albträume im Biedermeier-Ambiente. Doch in welche Zeiträume auch immer der Maler seine Gestalten hineinversetzt, stets zeichnet er ein verstörendes Szenarium ihrer Fremdheit.

Als Neo Rauch 2007 seine aktuellen Arbeiten im Metropolitan Museum ausstellen kann, weist ein New Yorker Kritiker darauf hin, dass sich hinter den „Vergangenheitsformen“ Zeitgenössisches verschlüsselt. Geht man diesem Gedanken nach, so allegorisieren Rauchs Gemälde die politischen Nachbeben des Kalten Krieges in der auch nach der Wiedervereinigung noch fortdauernden gespaltenen Mentalität der Deutschen. Darüber hinaus spiegeln sie auch, wie David Cohen treffend vermerkt, „die beiden politischen Extreme wider, die sich in den Realismen des 20. Jahrhunderts niedergeschlagen haben: das Libertäre, Individualistische und Unbewusste des Surrealismus sowie das Autoritative, Kollektive und Konformistische des sozialistischen Realismus.“343 Neo Rauch selbst konstatiert, dass er dem Unheimlichen, Verstörenden und Chaotischen eine Bildsprache geben will, die den direkten aktuellen Bezug meidet. Wie Luc Tuymans macht er den „Phantomschmerz“ spürbar und verweist auf dessen Ursachen, die „weit zurückliegen. Die Wunden sind sehr alt, und die Mechanismen, die sie hervorgerufen haben, bleiben immer die gleichen.“344

Nach dem Ende des Kalten Krieges und im Gefolge der globalisierten Vernetzung wirtschaftlicher Interessen haben sich auch kulturelle Überlagerungen zwischen zuvor völlig abgetrennten Kontinentalzonen entwickelt, die sich in hybriden Identitätsdispositionen und transkulturellen Synkretismen widerspiegeln. War die frühe Epoche der Moderne mit Kubismus, Futurismus und Expressionismus ein ausschließlich europäisches Avantgarde-Phänomen und die zweite Moderne nicht zuletzt vom Rücktransport modernistischer Vorstellungen aus den USA nach Europa getragen, so vollziehen sich im ausgehenden 20. Jahrhundert unter dem Vorzeichen der pluralistisch ausdifferenzierten Postmoderne vielerlei Interferenzen.

So wird Jean-Michel Basquiat, der von Andy Warhol am Beginn der 1980er Jahre geförderte Shootingstar der New Yorker Szene, nicht nur der Wegbereiter eines wilden Neoexpressionismus in den USA und in Europa, er ist aufgrund seiner karibischen Herkunft auch Vorreiter einer Bildsprache, die Rassismus und soziale Ungleichheit zwischen Schwarz und Weiß thematisiert. Im New Yorker Underground begann Basquiat als Graffiti-Sprayer und Musiker, bevor er – gerade 20-jährig – seine Kunstkarriere startet und in kurzer Zeit als erster farbiger Künstler internationales Renommee erlangt. Zum Faszinosum wird das revolutionäre Quellenmaterial seiner Bilder und Zeichnungen. Rückbezüge auf die Pop-Kunst von Rauschenberg und Warhol werden mit den ephemeren Kalligrafien Cy Twomblys, mit Comic-Witz und Graffiti-Ikonografie gesampelt. Metallische Farben und kuriose Alltags-objekte umrahmen skeletthafte Figuren, groteske Masken, exotische Pikogramme und rudimentär notierte Slangworte. Häufiges Bildmotiv sind afroamerikanische Sportlerheroen, deren Siegerposen die politische Brisanz der Rassen-diskriminierung hinterfängt. In der kurzen Zeitspanne seines künstlerischen Wirkens bringt der bereits mit 27 Jahren an einer Überdosis Heroin verstorbene Jungstar ein neuartiges Bildvokabular hervor, in dem sich die aus den Traditionen der westlichen Moderne hervorgegangene Pop-Kunst mit Zitaten aus der afroamerikanischen Kulturgeschichte sowie mit einer beißenden Gesellschaftskritik auflädt.

In den zeitgenössischen Kunstszenen der interkontinental agierenden Metropolen Chinas, Afrikas, Brasiliens oder Indiens sind Aneignung und Auseinandersetzung mit der europäisch-amerikanischen Moderne inzwischen mit großer Selbstverständlichkeit eingebunden in einen Bewusstwerdungsprozess über das eigene, historisch verankerte Anderssein. So greifen Maler in Peking, Schanghai oder Hongkong mit dem Medium der Malerei auf Leinwand eine Kunstform auf, die in ihrer Kultur ein Fremdkörper war, doch sie verbinden sie mit heimischen Kulturelementen, sodass sich der Konflikt zwischen dem Althergebrachten und dem Neuen in hybriden Bildern und Erzählformen artikuliert.

2002 öffnete sich die Documenta erstmals den Problem-horizonten globalisierter Kunstpraxis. Ihr künstlerischer Leiter, Okwui Enwezor, sah die Aufgabe der Documenta 11 nicht mehr gemäß ihrer historischen Genese in einer museologischen Tradition, „in der die Kunst für Modelle der Repräsentation und der Erzählungen von autonomer Subjektivität“ stand 345, sondern definierte sie als multidisziplinäres Labor und „Plattform“ künstlerischer Prozesse, die außerhalb der westlichen Kultur produziert werden, aber beides in sich tragen, die Geschichte der Avantgarden und die kolonialistische

Vergangenheit ihres Herkunftslandes. Sowohl die grotesk- postmodernen Phantom-Architekturmodelle für die Megacities der Zukunft des aus Zaire stammenden Künstlers Bodys Isek Kingelez als auch die suggestiven Zeichentrickfilme von William Kentridge, der die Folgen der Apartheid in seiner südafrikanischen Heimat durchleuchtet, reagieren auf den utopischen Impetus der frühen Avantgardebewegungen und implizieren gleichzeitig Kritik an der heutigen Abhängigkeit postkolonialer afrikanischer Staaten von den Almosen des globalisierten Kapitals.

Als Betriebssystem ist die bildende Kunst zutiefst in die Strategien des kapitalistischen Marktes eingebunden, sodass sich der Künstler heute mehr denn je der Frage konfrontiert sieht, wie weit er innerhalb globalisierter Kommunikations- und Marktfluktuationen als Subjekt noch autonome Handlungsvollmacht besitzt und für sich jenseits von überholten Heilsbotschaften eine neue Form von Eigentlichkeit finden kann.

In der Verlaufsgeschichte der Moderne sind ihre Fortschrittseuphorie und ihr Erneuerungspathos schon vor der Diskussion um postmoderne Grenzüberschreitungen infrage gestellt worden. So gab es in Reaktion auf die mit philosophischen und gesellschaftspolitischen Theorien aufgeladenen Abstraktionen Kandinskys, Mondrians und Malewitschs sowie auf den Geniekult der Abstrakten Expressionisten Rückzugsbewegungen aus dem kanonisierten Fortgang der Moderne, die nachfolgende Avantgarden mit produktiven Impulsen bereichert haben. Als sich Fauvismus, Kubismus, Futurismus, Kubofuturismus und Expressionismus in ihrem Erneuerungswillen gegenseitig zu übertrumpfen suchten, war die dekadente Ästhetik des Symbolismus den Künstlern der ersten Moderne nicht weniger suspekt als die akademische Salonmalerei und der Historismus des 19. Jahrhunderts. Und doch hat diese Stilrichtung mit ihren von Sigmund Freud unternommenen Einblicken in das Labyrinth der unterbewussten Begierden die psychoanalytische Sensibilität für die Dämonie des Sinnlichen an Munch, Kokoschka oder die deutschen Expressionisten weitergegeben.

Geradezu symptomatisch ist der Wechsel bzw. das Nebeneinander von progressiven und retardierenden, von stilistisch produktiven und reproduktiven Phasen für den Werkverlauf des bedeutendsten Protagonisten der Moderne, Pablo Picasso. Als die von ihm initiierte kubistische Auf-splitterung des Gegenstandes in abstrakte Formen lebhafte Nachahmung findet, sucht er – nicht zuletzt auch in Reaktion auf die unruhigen Vorboten des Ersten Weltkrieges – nach dem ordnenden Gleichmaß im Rückzug auf klassizistische Stil- und Motivannexionen. In vergleichbarer Weise reagieren de Chirico und Carrà auf den aggressiven Fortschrittslärm der Futuristen. Ein weiteres Mal – nun unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges – bewegt sich Picasso gegen den Strom der sich erschöpfenden ersten Moderne. Während die École de Paris – Erbe der Abstraktionsbewegungen – die Gräuel und Leiden des Kriegsgeschehens mit harmoniesüchtigen Farbgestikulationen aus dem Gedächtnis zu verdrängen sucht, leistet Picasso mit der kathartischen Vergegenwärtigung grausam deformierter Menschenleiber auf seinem Gemälde Leichenhaus (1945) tiefgreifende Trauerarbeit.

So häufig die Avantgarden in Opposition zu totalitären Ideologien standen, so oft gingen sie auch den Pakt mit Ideologien und Mächtigen unter dem Vorzeichen des gesell-schaftlichen Fortschritts ein. Erinnert sei in diesem Kontext an die wechselnden Bündnisse zwischen den Revolutionären und den künstlerischen Avantgarden in Russland, aber auch an die politischen Interessen, mit denen der Transfer gestisch-expressiver Abstraktion als Erneuerung der Moderne von den USA nach Europa und dort insbesondere in das von den Folgen des Krieges politisch und kulturell entleerte Deutschland verbunden war. So ist die Geschichte der Moderne auch eine des rigorosen Durchsetzungswillens und der gesteuerten Einflussnahme.

Was Kunst unter den Vorzeichen ihrer Aufsplitterung in der Konkurrenz zu den elektronischen Medien noch leisten kann, ist die Kernfrage, der sich die Künstler in nachmodernen Zeiten konfrontiert sehen. Der Erfolg von Richard Prince, der in den 1980er-Jahren als Nachfolger Warhols gefeiert, zum Shootingstar auf dem amerikanischen Kunstmarkt avanciert, erklärt sich daraus, dass er sich mit seinen abfotografierten Marlboro-Anzeigen die Wirksamkeit aneignet, die sich diese Sujets mit der Ästhetik der Werbung erobert haben. Indem Prince in seinen Fotografien die Lasso schwingenden Cowboys repro-duziert, die durch die Weiten Amerikas reiten, legt er die hinter dieser Werbung verborgene epische Erzählung offen: den Mythos von den erfolgreichen Siedlern, die die neue Welt mit ihrem Durchsetzungswillen eroberten. Diese Kunst ist Analyse einer typischen Sprachform unserer Zeit, und indem Prince seine refotografierten Reklame-Cowboys mit einer leichten Portion Witz hinterfängt, balancieren diese Bilder geschickt zwischen Komplizenschaft und Kritik gegenüber der Bildstrategie der Werbung. Kunst ist für Prince somit nicht mehr Ausdruck von subjektiver Kreativität oder Emotion, sondern sie konstituiert sich aus beliebig vielen Sprachformen, die sich aus historischen und zeitspezifischen Komponenten zusammenfügen.

Im Gegensatz zu dieser Unverbindlichkeit fokussiert Herbert C. Ottersbach sein künstlerisches Tun wieder auf ein Sinn gebendes Ziel, das er in der Fortsetzung der von Gerhard Richter erprobten Methoden aus dem Dialog der Malerei mit der Fotografie und den digitalen Medien ableitet. Seine Bildkompositionen beziehen ihre motivischen Elemente aus unterschiedlichen Archivquellen und Zeiträumen. Am Computer synthetisiert Ottersbach sein Bild, und im malerischen Übertragungsvorgang auf die Leinwand entsteht die alle Fragmente homogenisierende Aura, die den Betrachter in den reflexiven Bildgehalt hineinzieht. Aus dieser manipulativen Methode geht eine geschichtsbewusste Malerei hervor, die in konzentrierten Bildern die Moderne mit ihren Erlösungsversprechen, Theorien und gesellschaftspolitischen Auswirkungen auf den Prüfstand stellt. Der Werkzyklus Modernebilder (1995-1999) ruft in schemenhaften Bildern die politischen und künstlerischen Utopien des 20. Jahrhunderts ins Gedächtnis zurück und erinnert an das Scheitern ihrer auf Weltverbes-serung ausgerichteten Apodiktik. Zugleich begreift Ottersbach dieses Scheitern für sich selbst als neue künstlerische Chance.346 Die ästhetische Aura seiner Malprozesse will „Freiräume“ öffnen, in die sich reflexive Sonden ohne vorgefestigte Denkrichtung einbetten.

In seinem 1998 erschienenen Buch Die Moderne im Rückspiegel bemerkt Werner Hofmann zur Postmoderne, dass ihr „freibeuterischer Aspekt“, mit Zitaten, Zynismen und Paraphrasen spielend, alles erlaubt. Das einzige, was sie sich verbietet, ist der Anspruch auf Modellcharakter. Zugleich weist Hofmann darauf hin, dass postmoderne Stilmischungen die Traditionen der Kunst nicht über Bord werfen, sondern nur die kanonische Rangordnung von Geschichtsprozessen.347

Wo Künstler mit komplexer Beweglichkeit ihr gebrochenes Verhältnis zur historischen Moderne reflektieren, verlässt die postmoderne Kunst ihren Übergangscharakter und nimmt womöglich den Anlauf, in eine neue, andere Moderne einzuleiten.

 

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 341  Daniel Richter – Hintergrund, Ausst.-Kat. Museum für Gegenwartskunst, Basel 2006, S.212.

342  Siehe dazu Emma Dexter:>Die Welt als a– Historienbild, Stilllleben und das Unheimliche<, in: Luc Tuymans, hrsg. von Emma Dexter und Julian Heynen, Ausst.-Kat. K21, Düsseldorf 2004, S. 17-27, hier S. 27.

343  Kommentar von David Cohen, in: The New York Sun, 24. Mai 2007.

344  Interview von Jordan Mejias mit Neo Rauch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Mai 2007.

345  Okwui Enwezor: >Die Black Box<, in: Documenta 11. Plattform 5: Ausstellung, Ausst.-Kat. Kassel 2002, S. 54.

346  Siehe auch Thomas Wagner: >Restlicht der Moderne. Der Künstler Heribert C. Ottersbach<, in: art, 3/2008, S. 30ff.

347  Werner Hofmann: Die Moderne im Rückspiegel (wie Anm. 333), S. 345.

(In: Blickpunkt Moderne, S. 411-419)

Ein Rückblick auf sechs Ausstellungen deutscher Kunst 1997 – 2009

Text als Word-Dokument downloaden: Re-Visionen_eines_Bilderstreites.doc

2011

Ein Rückblick auf sechs Ausstellungen deutscher Kunst 1997 – 2009

Als im Herbst 1989 die Mauer zwischen den beiden deutschen Teilstaaten gefallen war, wurden schon wenige Monate später im Windschatten der Wiedervereinigungseuphorie heftige Animositäten zwischen den Szenarien und Vertretern der ost- und westdeutschen Kunst offenkundig, denen die Publizistik das Signum „deutsch-deutscher Bilderstreit“ gab. Ein knappes halbes Jahr vor dem Kollaps des SED-Regimes hatte eine seinerzeit umstrittene Kölner Ausstellung mit ihrem Titel den Begriff „Bilderstreit“ bereits in den aktuellen Kunstdiskurs eingebracht. Ihr Kurator, Siegfried Gohr, verfolgte unter den Vorzeichen >Bilderstreit – Widerspruch, Einheit, Fragment< eine doppelte Zielsetzung. Einerseits sollte die Ausstellung die Dialogpotenzen der inzwischen legendär gewordenen Kölner >Westkunst<- Schau von 1981 reaktivieren, zugleich aber auch Schlaglichter auf die schöpferischen Energien und Konflikte der Kunst nach 1960 werfen, die in der >Westkunst< noch weitgehend ausgeblendet war.

Für den Kontext des deutsch-deutschen Bilderstreits, der bereits ein Jahr nach der Kölner >Bilderstreit<-Ausstellung zu eskalieren beginnt und sich auf eine breit ausgetragene Feuilleton-Diskussion um den Wert oder Unwert der Kunstproduktion aus DDR-Zeiten fokussieren wird, ist weniger die Auswahlkonzeption des Kölner Exponaten-Arrangements als vielmehr der Einführungsessay des Katalogbuches von Hans Belting aufschlussreich. Unter dem Titel „Bilderstreit – ein Streit um die Moderne“ sondiert Belting die Konflikte der Moderne und diagnostiziert den Gegensatz von Figuration und Abstraktion als einen der folgenreichsten Streitpunkte, der sich – offen oder subkutan – von der Moderne bis zur Postmoderne durch die internationale Geschichte der Kunst zieht. Dabei verquicken sich die künstlerischen Bilderstreite als Kampf um die Deutungshoheit in der Kunst mit den Nachwirkungen politischer Schauplätze.

Die großen Stil-Bewegungen der Moderne verstanden sich vom Futurismus bis zum Bauhaus als Leitbilder, nach denen sich die Reform der Welt richten sollte. Diese Utopie erneuerte sich nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal in der restaurativen Moderne. Die Wiedergutmachungsaktionen, die das westliche Europa der abstrakten Kunst entgegenbrachte, gipfelten in Werner Haftmanns zweiter Documenta (1959), die das abstrakte Kunstwerk von den Banalitäten der gegenständlichen Themen fernhielt und zum kultischen Schaubild des Sublimen stilisierte. So wurde der Bilderstreit, den Verteidiger des Realismus in den 1950er Jahren auslösten, in wachsendem Maße ein Streit  um die Moderne, in dem sich kulturell und politisch der vom Vietnamkrieg herausgeforderte Gegensatz zwischen Europa und den USA widerspiegelt.1 In den 1980er Jahren war die Leitbild-Idee der Moderne vollends erschöpft, ihr Fortschrittsoptimismus hat sich in einer ironischen Zitatenkunst relativiert, die sich – wie Belting formuliert – „wahllos der modernen wie der vormodernen Vorbilder bedient“.2

Als der deutsch-deutsche Bilderstreit ausbricht, ist der Antagonismus zwischen Abstraktion und Figuration in den Kunstkontroversen weithin obsolet geworden. Doch als die deutschen Künstler aus West und Ost ab 1990 plötzlich Seite an Seite um Anteile am kapitalistisch organisierten Kunstmarkt konkurrieren, reaktiviert die kulturpolitische Diskussion die verbrauchten Utopien der Moderne von der wesensmäßigen Verbindung zwischen freier Kunst und Fortschritt und implantiert sie in den deutsch-deutschen Bilderstreit. Mit dem Verweis auf ihren gesellschaftlichen Auftrag und auf rückwärtsgewandte Traditionsverhaftung disqualifiziert das kulturelle Establishment aus Westdeutschland die ostdeutschen Künstler als staatshörig oder vorgestrig antimodern und unter-lässt dabei zunächst eine genaue Analyse dessen, was Staatsauftrag war und was von der Kunst in der DDR aus dem Abseits oder der Dissidentenperspektive relevant geworden war.

Die Polemik weitet sich Ende 1993 zu einem Sturm der Entrüstung aus, als Dieter Honisch Kunstwerke von Malern aus der DDR, die vorwiegend über den Staatlichen Kunsthandel in die Bestände der Berliner Neuen Nationalgalerie gelangt waren, der modernen Abteilung internationaler Kunst des 20. Jahrhunderts im Rahmen einer Neuhängung inkorporiert. Die Proteste gipfeln schließlich im Ruf nach Entsorgung, für die sechs Jahre später die diffamierende Weimarer Ausstellung >Aufstieg und Fall der Moderne< in der ästhetischen Analogisierung von NS- und DDR-Kunst den inszenatorischen Rahmen liefert. Vor allem aber gerät in dieser Phase des Bilderstreits die Neugier auf mögliche Gemeinsamkeiten in der deutsch-deutschen Kunst aus dem Blick.

Dabei hatte Eberhard Roters bereits 1985 die Berliner Museen dazu angeregt, Kunst aus der Bundesrepublik und der DDR danach zu befragen, wie in ihnen der Verlust von Geschichte und deren Wiederkehr anschaulich geworden war. 1997 kann Eckhart Gillen dieses Vorhaben des inzwischen verstorbenen Eberhard Roters mit der Ausstellung >Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land< anlässlich der 47. Berliner Festwochen verwirklichen. Nicht das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Deutschlands, sondern das Jahr der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 ist Gillens Ausgangspunkt für die Analyse der selbstverschuldeten deutschen Katastrophe. Denn zwölf Jahre Terror, endend im Vernichtungskrieg und im Holocaust, hatten die deutsche Teilung und die Blockbildung des Kalten Krieges zur Folge. Nicht zuletzt in der Bewusstwerdung dieser Kontexte sieht Gillen bei allen Gegensätzen eine verblüffende Gemeinsamkeit ost- und westdeutscher Künstlerpersönlichkeiten.

Der umfangreiche Katalog zur Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau wird vom Abdruck eines Vortrags eingeleitet, den Eberhard Roters am 4. April 1992 in Dresden unter dem Eindruck des inzwischen virulenten deutsch-deutschen Bilderstreits gehalten hatte. Roters’ Ausführungen umreißen die künstlerische >Spannweite der Konflikte< und setzen Reflexionen fort, die Hans Belting bereits drei Jahre zuvor in seinem oben zitierten Essay formuliert hatte. Nicht das Abrücken aus dem Realitätsgefüge seiner Zeit  macht den Künstler autonom, sondern die Diagnose „des Zeitbewusstseins aus der Perspektive des Ortes, an dem er sich befindet. ‚Ort’ ist dabei sowohl geographisch wie geistig gemeint.“3 Damit fordert Roters die Sondierung der künstlerischen Werke vor dem Hintergrund der politischen Szenarien ihrer Entstehungszeit, was die Bilderstreit-Debatte zu diesem Zeitpunkt mit ihren Pauschalurteilen noch weitgehend unterlässt.

Mit Nachdruck thematisiert Roters auch die Austragung des Generationenkonflikts, dem er fruchtbare Perspektiven  für die weitere Entwicklung der Kunst in Deutschland zuweist: „Die Jungen haben den Identitätsausdruck ihres eigenen Epochenbewusstseins zu finden, und das geht selbstverständlich nicht ohne den Streit mit den Alten. Es geht sogar nicht ohne die Ablehnung der Alten, gerade deshalb, weil die Jungen nicht umhin können, sich auf das zu beziehen, was ihnen die Alten hinterlassen haben.“4 Beide Sondierungsaspekte für das Kunstwerk und seinen Urheber – das Zeitbewusstsein und den darin verankerten Identitätsausdruck – hat Gillen zu Leitlinien seiner Ausstellung erhoben. Vor der Folie der politischen Zusammenhänge von 1933 bis zur Wiedervereinigung interpretieren die >Deutschlandbilder< die deutsche Kunst aus Ost und West erstmals als mentale Auseinandersetzung mit dem Zivilisationsbruch in Auschwitz. In den Räumen der Ausstellung und in den 20 Kapiteln des Kataloges, die Kunst-werke von ost- und westdeutschen Künstlern problemorientiert zusammenführen, erfährt der Rezipient noch einmal die Anfänge, Generationsbrüche und Perspektivenwechsel zwischen Erinnern und Vergessen.

Mit dem Titel der Beuysschen Installation Zeige deine Wunde lässt sich Gillens Zugriff auf die deutsche Kunstgeschichte metaphorisch beschreiben, deren Brüchen und Traumata er in Bildern nachspürt und dabei erstaunliche Parallelen zwischen der ost- und westdeutschen Kunst offen legen kann. In seinem Katalogessay „Die Wunde“ macht Siegfried Gohr darauf aufmerksam, dass es die abstrakte Sprache der frühen Penckschen Weltbilder war, die statt utopischer Leitbilder zur Weltverbesserung das Ost-West-Verhältnis jenseits der herrschenden Eiszeit im Kalten Krieg analysierte.5 Als sich die Moderne im Westen und der sozialistische Traum im Osten an den Realitäten des Alltags verbraucht hatten, gab es – so dokumentiert Gillens Ausstellung >Deutschlandbilder< – unangefochten von Stilwechseln oder weltanschaulichen Bevormundungen im Westen wie im Osten Künstler, die mit malerischer Könnerschaft gedanklichen Eigensinn bewiesen haben.

Den Blick auf die deutsch-deutsche Kunstgeschichte kann Eckhart Gillen 2002/03 gemeinsam mit Eugen Blume in einer Ausstellung für das Museum der bildenden Künste Leipzig und das Museum Folkwang Essen auf das letzte Jahrzehnt vor dem Mauerfall konzentrieren. Die Ausstellung trägt den Titel >Wahnzimmer< und ist Teil der Doppelschau >Klopfzeichen<, in der das Zeitgeschichtliche Forum Leipzig in der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland deutsch-deutsche Kulturbeziehungen unter dem Motto >Mauersprünge< facettenreich in Szene setzt und anschaulich bilanziert. Leider bleibt die Resonanz auf diese Doppelausstellung, die einen innovativen konzeptionellen Weg beschreitet, relativ blass, weil die gedrängte Präsentation in den provisorischen Räumen des Leipziger Bildermuseums das Wechselspiel zwischen den Exponaten, die von den Kuratoren aus dem Schaffen von Künstlern der jüngeren Generation in den 1980er Jahren ausgewählt worden waren, nicht zur vollen Wirkung bringen kann. Der Katalog zur Ausstellung verdient umso mehr Beachtung. Er veranschaulicht in den ausgestellten Werken wie in den Kommentaren der Kuratoren und den Statements der Künstler ebenso die von Hans Belting in seinem Bilderstreit-Aufsatz apostrophierte Stilrelativierung durch beliebige Stilzitate der Westkünstler wie die zwischen Melancholie, Nihilismus und Sinnsuche oszillierende Mimesis vieler ostdeutscher Künstler. Nichts wird in eine künstliche Nähe gerückt, es bleibt dem Leser überlassen, von den gesellschafts-politischen Umständen bedingte Differenzen ,aber auch subkutane Beziehungsgeflechte vor dem Hintergrund der gemeinsamen deutschen Kulturtradition wahrzunehmen. So wird der „Laborismus gegen Kapitalismus und Kommunismus“6, den die Utopie Beuysscher Richtkräfte  in beiden deutschen Kunstszenen während der frühen 1980er Jahre ausgelöst hat, ebenso greifbar wie der spätere Utopieverlust. Solche Desillusionen äußern sich in den sarkastischen Ironien und Parodien der Kippenberger-Riege, die sich der Trivialtechniken der Massenmedien bedient, aber auch im ostdeutschen Eigen-Sinn tragikomischer Mythenannexionen und performativer Selbsterfahrungen, in denen sich „die Absurditäten des Alltags als Reflex auf das Auseinanderklaffen von Anspruch und Realität“ spiegeln.7 Parallel zum westdeutschen Wiedereinstieg in das narrative Bild entdecken die beiden Kuratoren auch eine weit gefächerte Palette abstrakter Kunst in verschiedenen Enklaven der ostdeutschen Landschaft. Dieser „Austritt aus dem Menschenbild“ konnte nicht wie im Westen aus Kontinuitäten und Paradigmenwechsel entstehen, sondern in ihm manifestiert sich jeweils eine persönliche Werkkonzeption, die „aus einer realistischen Gesinnung heraus, irgendwann das bereits nicht mehr Erzählende dieser Figurationen frei übersetzte“8. Die Ausstellung macht offenkundig, dass der in den Bilderstreit wieder hineingetragene Konflikt zwischen einer innovativen Moderne und einer traditionsverhafteten, figurativen Bildlichkeit die Künstler der 1980er Jahre realiter nicht mehr beschäftigt hat.

In der alten Bundesrepublik bewirken die von Eckhart Gillen (mit-)verantworteten Ausstellungen >Deutschlandbilder< und >Wahnzimmer< eine beruhigende Versachlichung des Bilderstreits. Unter den ostdeutschen Künstlern, vornehmlich der älteren Generation, verbleiben jedoch kritische Vorbehalte, weil das jeweilige Themenkonzept der Ausstellungen eine umfassende Einbeziehung der ostdeutschen Kunstszene nicht ermöglicht. Umso nachhaltiger begrüßen Künstler, Kunstvermittler und Besucher aus den neuen Bundesländern die im Sommer und Herbst 2003 in der Neuen Nationalgalerie gezeigte Retrospektivausstellung >Kunst in der DDR<. Mit rund 400 ausgestellten Werken vom 145 Künstlern erheben die beiden Kustoden der Berliner Nationalgalerie, Roland März und Eugen Blume, den Anspruch, jenseits der Debatte des Bilderstreits um die politische Funktionalisierung das künstlerische Erbe der DDR nach ästhetischen Kriterien zu sichten. Erstaunlicherweise ähneln ihre thematischen Abteilungen dem Gliederungssystem nach lokalen Schulen wie Dresden, Leipzig, Ost-Berlin sowie nach Stilen und Themen, das Lothar Lang in seinem 1978 für das westliche Ausland bestimmte Kompendium “Malerei und Graphik in der DDR“ im Rückgriff auf spezifische deutsche Traditionen und Vorgaben der Moderne angewendet hatte. Für die Jahre 1946 bis 1980 kann die Ausstellung mit diesen Kriterien eine große thematische Bandbreite erreichen. Ausgespart bleibt jedoch eine differenzierende Sicht auf die 1980er Jahre, wie sie Eberhard Roters als Konflikt zwischen der älteren und der jüngeren Generation angesprochen hatte, weil sich die Kuratoren für diese Zeitspanne auf eine gründliche Analyse der unterschiedlichen politischen Auffassungen und ästhetischen Konzepte , die u.a. in den Verbandstagungen artikuliert worden sind, nicht einlassen. Statt dessen unterstreichen sie ihre Absicht, „nicht die weltanschauliche Position, sondern allein die Qualität und das Niveau des Kunstwerkes“ in den Blick nehmen zu wollen.9

Unterschwellig durchpulsen somit die überholten Werkvorstellungen der Moderne diese Ausstellung, so als seien sie in der Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Realismus noch längst nicht abgegolten. In seiner Rezension der Ausstellung konstatiert Hanno Rauterberg nach einem ersten Rundgang am 31. Juli 2003: „Gewiss ist es richtig, die Kunst nicht allein nach ihrer Gesinnung zu beurteilen, sonst täte man am Ende nichts anderes als die DDR-Apparatschiks. Nach dieser Gesinnung aber gar nicht zu fragen kommt einer Verharmlosung gleich. (…) Fast kann man den Eindruck gewinnen, da habe jemand ein Stück Kunstgeschichte kanonisieren wollen, um das Kapitel endlich ab- und wegzuschließen.“10

Wenn auch Rauterbergs Vorwurf, die Kuratoren hätten Kunst aus der DDR endgültig in eine abgeschlossene Vergangenheit bannen wollen, überzogen sein mag, so ist doch unverkennbar, dass März und Blume mit ihrem Ausstellungskonzept ein mit dem Anspruch des Gültigen auftretendes Gegenmodell zur unqualifizierten Ideologisierung  von Kunst aus der DDR durch die Weimarer Schau von Achim Preiß 1999 setzen wollten. Für die museale Auratisierung des nach ihrem Urteil Bleibenden reaktivieren sie noch einmal jenen Haftmannschen Werkbegriff, der die Schöpfungen der Nachkriegskunst – nach den schockierenden Diffamierungen der „entarteten Kunst“ – den politischen Niederungen entheben und mit einem  über-zeitlichen Geltungsanspruch nobilitieren sollte.

Mit ihrer Intention der Entpolitisierung und Kanonisierung des künstlerischen Erbes aus der DDR sprechen März und Blume den Bürgern der neuen Bundesländer aus der Seele, bei ihnen findet das Inszenierungskonzept zur >Kunst in der DDR< breite Zustimmung. Denn die Ausstellung enthält viele Bilder, die von der SED-Kulturpolitik unter Verschluss gehalten oder mit Argwohn betrachtet worden waren und jetzt erstmals die thematische und ästhetische Bandbreite einer Kunst sichtbar machen, die in ihrem politisch-sozialen Umfeld entstanden war und eigene Lebenserfahrungen reflektierte. Als die Ausstellung jedoch auf westdeutschem Boden in der Bonner Bundeskunsthalle gastiert, bleiben die Besucherzahlen weit hinter den gewohnten Erwartungen zurück, die das Haus sonst verzeichnen kann. Die Bürger der alten Bundesrepublik sind überwiegend nicht in der Lage, diese geschichtsentrückte und weitgehend kontextfrei inszenierte Bildersammlung aus dem anderen Deutschland zu begreifen.

Als im August 2003 eine Tagung von Kunst- und Sozial-wissenschaftlern in Neuhardenberg nach den ersten Feuilleton-Reaktionen auf die Berliner Ausstellung >Kunst in der DDR< den deutsch-deutschen Bilderstreit bilanziert, liefert der Hallenser Maler Moritz Götze mit seiner >re: realismus< betitelten kleinen Bilderschau vor Ort den ironischen Kommentar der jungen ostdeutschen Künstlergeneration, die sich inzwischen längst auf dem Kunstmarkt etabliert hat. In der Manier seiner Pop-Comics persifliert Götze jahrzehntelang in der DDR-Propaganda verankerte Bildikonen wie Harald Hakenbecks Peter im Tierpark, Willi Sittes Arbeiter am Schaltpult oder Walter Womackas Paar am Strand. Jeder Bürger, der in der DDR aufgewachsen ist, war von diesen Bildern während seiner gesamten Schulzeit begleitet worden. Doch die Berliner Ausstellung ignoriert dieses Phänomen, als habe es gar nicht existiert. Während die verletzende Polemik aus dem Bilderstreit schwindet und dem entspannenden Lachen eines ironischen Humors Platz macht, bleibt die museale Kunstvermittlung eine vergleichende kritische Aufarbeitung der Kunst aus beiden deutschen Staaten im Kontext ihrer kultursoziologischen Grundierung weiterhin schuldig.

Im Frühjahr 2006 unterzieht Peter Pachnicke >Deutsche Bilder< in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen einer neuen Bilanzierung und möchte seine aus Beständen der Sammlung Ludwig bestückte Ausstellung ausdrücklich als Beitrag zum deutsch-deutschen Bilderstreit verstanden wissen. Denn schon seit den 1970er Jahren war die Bildersammlung mit Werken aus West- und Ostdeutschland, die das Ehepaar Ludwig neben der internationalen Kunst erworben hatte, in den Bilderstreit eingebunden, der mit der umstrittenen Teilnahme von staatlich approbierten Künstlern aus der DDR an der documenta 6 (1977) begonnen hatte. Da Peter Ludwig seine sammlerischen Erkundungen der ostdeutschen Kunstszene im Kölner Zentrum seiner Vertragsmuseen, dem damaligen Wallraf-Richartz-Museum, nicht nach seinen Wünschen etablieren konnte, initiierte er seit 1982 die Sammlung „Kunst der DDR“ in der Obhut der Stadt Oberhausen und vollzog das in Köln verweigerte direkte Nebeneinander der deutsch-deutschen Kunst auch in seinen Vertragsmuseen in Wien, Budapest, St. Petersburg und Peking. Bedeutende Leihgaben aus diesen Häusern – darunter Bernhard Heisigs Preußisches Museum von 1977/78 aus dem Museum Moderner Kunst/Stiftung Ludwig Wien und Anselm Kiefers Große Eisenfaust Deutschland von 1979 aus dem Museum Ludwig im Staatlichen Russischen Museum St. Petersburg – dokumentieren in der Oberhausener Ausstellung >Deutsche Bilder aus der Sammlung Ludwig< den Anspruch dieser Sammlung, die deutsch-deutsche Kunst jenseits aller Vorurteile und ideologischen Verwerfungen als Gestaltungsraum für ästhetische und diskursive Interaktionen zur Anschauung zu bringen. Schon frühzeitig nahm das Ehepaar Ludwig hinter allen Unterschieden parallele existenzielle Dispositionen und malerische Passionen bei jenen ost- und westdeutschen Künstlern wahr, die in den 1960er Jahren einen Mentalitätswechsel vollzogen hatten und die Motive ihrer Kunst in der verdrängten deutschen Geschichte suchten.

Pachnickes Ausstellungskonzept ist auf diese „mit der Wut der Sinne“11 gemalten Bilder fokussiert und forscht in der frühen Moderne nach typisch deutschen Wurzeln und Traditionen für diese rebellische Expressivität in Brüchen und Widersprüchen. Ausdrücklich beruft sich Pachnicke auf den Pionier in der kritischen Beobachtung des deutschen Bilderstreits, Eberhard Roters, dessen Dresdner Vortrag von 1992 mit dem Titel „Die Spannweite der Konflikte“ im Katalog – als Reprise auf den Katalog der >Deutschlandbilder< – erneut in Erinnerung gerufen wird. Geistesgeschichtliche  Anregung hat sich der Kurator bei Werner Hofmann geholt, der in seiner 1999 erschienenen und auszugsweise im Oberhausener Ausstellungs-katalog nachgedruckten Streitschrift  „Wie deutsch ist die deutsche Kunst?“ den Verstörungen in der deutschen Malerei seit Adolph Menzel nachgegangen ist.12 Von den in ihrer Affir-mation der preußischen Glorie gescheiterten Historien-bildern Menzels schlägt Hofmann den Bogen zu Heisigs Preußischem Soldatentanz, zu den dithyrambischen Vogel-scheuchen von Lüpertz in Wehrmachtsuniform und zu den amputierten Helden von Georg Baselitz inmitten verwüsteter Landschaften. Nach Hofmann leisten die Künstler aus Ost- und Westdeutschland hier gleichermaßen den Selbstfindungsprozess in einer fragwürdig gewordenen Welt und in der Auseinander-setzung mit den „Daseinsfragen, Erwartungen und Ängsten der Nation“.

Leider gelingt es Pachnicke nicht, den geistesgeschichtlichen Rahmen, den er von Werner Hofmann bezieht, mit den konkreten Spannungsfeldern des Kunstschaffens in der DDR und ihrer Kulturpolitik zu verbinden. Obwohl er sich auf Eberhard Roters beruft, entgleitet ihm die „Spannweite der Konflikte“, statt dessen stellt er die Bilder seiner Ausstellung in die pure Ästhetik eines „white cube“ hinein. Damit glaubt er, dem von ihm postulierten Prinzip einer Präsentation von ost- und westdeutscher Kunst „gleichberechtigt auf einer Augenhöhe“13 Genüge zu tun, leistet  damit aber erneut einem irritierenden Missverständnis Vorschub, dem zuvor schon die Kuratoren der Berliner Ausstellung >Kunst in der DDR< anheimgefallen sind. Denn die Bedeutung und Sinnhaftigkeit „deutscher Bilder“ ist ohne ihre Entstehungszusammenhänge schwer zu begreifen. Diese gründen nicht nur – wie Pachnicke hervorhebt – in der kunstgeschichtlichen Periode des Expressionismus, an die Künstler im Osten wie auch im Westen Deutschlands gleichermaßen anknüpfen konnten, sondern ebenso in den zeitspezifischen politischen und gesellschaftlichen Kontexten einer geteilten deutschen Nachkriegsgeschichte. Wie Roland März und Eugen Blume versäumt es auch Peter Pachnicke, die Entstehungskontexte der Kunst aus der DDR sichtbar werden zu lassen, Verwerfungen aufzuzeigen und Widersprüche konkret zu benennen. Statt dessen sucht er die Spuren zu markieren, die sich von den Selbstbefragungen des deutschen Expressionismus und den Realitätswahrnehmungen der Neuen Sachlichkeit in den Bildern aus dem geteilten Deutschland entdecken lassen, um auf diese Weise die Parallelen in der Traditionsaneignung zu betonen, die in der DDR-Kunstwissenschaft lange Zeit geleugnet worden waren.

Die expressive Rebellion als einen in der nationalen Kunstgeschichte verankerten deutsch-deutschen Parallelprozess vermag die Ausstellung aber nur für die Phase des Aufbruchs in den 1960er und frühen 1970er Jahren nachzuweisen, als sich Künstler in der Bundesrepublik und in der DDR gleichermaßen der eigenen Geschichte mitsamt ihrer verdrängten Schuld genähert haben. In den Brüchen und Destruktionen dieser Bilder entdeckte bereits Hofmann gleichgelagerte Strategien, mit denen die Künstler ihre Verstörungen durch die Denkmuster des Kalten Krieges und die Spannungen zwischen den Generationen in der Aufarbeitung der Vergangenheit ausdrückten.

In ihren nachfolgenden Teilen zerfasert die Ausstellung aber zu einer mehr oder weniger zufälligen Ansammlung von Exponaten aus den späten 1980er und 1990er Jahren, als Peter Ludwig sein früheres stringentes Sammlungskonzept nicht mehr fortgeführt hat. So gelingt es der Ausstellung nicht, jenes ironische Patchwork angemessen zu inszenieren, mit dem Albert Oehlen oder Martin Kippenberger in der Nachfolge Sigmar Polkes auf die mediale Bilderflut des Zeitgeistes und auf die Pathosformel „deutsche Kunst“ reagiert haben. Auch die Agonie des DDR-Staates findet keinen pointierten Widerhall in den ostdeutschen Exponaten aus den späten 1980er Jahren. Neo Rauchs noch fast farbfrisches Gemälde Konvoi von 2003 als Schlusspunkt der Ausstellung wirkt ohne Einbeziehung in ein aktuelles malerisches Umfeld wie eine bloße Konzession an die künstlerische Reputation des Leipziger Malers, die er sich als Shootingstar auf dem internationalen Kunstmarkt erworben hat. Als die DDR 1989 kollabierte, malte Neo Rauch als Student an der Leipziger Hochschule noch mit dem neoexpressio-nistischen Furor seiner Lehrer. Den deutsch-deutschen Bilderstreit hat er mit seinen verrätselten Nachwendebildern in elegischer Distanz zurückgelassen.

Pachnickes Ausstellung greift zwar, gestützt auf Werner Hofmanns Reflexionen, jenes spezifisch deutsche Thema auf, das Siegfried Gohr im Katalog der >Deutschlandbilder< als „die Wunde“ leitmotivisch umschrieben hat. Er versäumt es aber Hofmanns Denkansatz auf die 1980er Jahre zu übertragen und mit den politischen Abläufen dieser Zeit zu kontextualisieren. Die eigene Einbindung in den kulturpolitischen Apparat des SED-Staates als Vizepräsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR mag den früheren Professor an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst daran gehindert haben, eine freie Sicht auf die letzte Phase der Kunstproduktion in der DDR zu gewinnen.

Wo die Kunstvermittlung weiterhin Defizite in der konkreten Aufarbeitung der doppelten deutschen Kunst aufzuweisen hat, sind die Künstler durch entkrampfte Begegnungen einander näher gerückt. Gerhard Richter, der 1977 seine Bilder aus Protest gegen die behördensanktionierte Beteiligung von staatsloyalen DDR-Künstlern an der documenta 6 zurück-gezogen hatte, beschenkte inzwischen seine Heimatstadt Dresden großzügig mit einem gewichtigen Werkkonvolut aus allen Phasen seines Schaffens, und westdeutsche Malerfürsten wie Baselitz und Lüpertz haben ihr 1990 noch kategorisch formuliertes Verdikt gegenüber den ostdeutschen Kollegen aus ihrer Generation revidiert. Als Bernhard Heisigs große Retrospektivausstellung  >Die Wut der Bilder< 2005 nach ihrer Erstpräsentation im Leipziger Museum der bildenden Künste auch in der Düsseldorfer Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen gezeigt wird, beteiligt sich der Rektor der Düsseldorfer  Kunstakademie Markus Lüpertz an der in Leipzig publizierten Festschrift für „Bernhard Heisig zum Achtzigsten“ mit einem Gedicht, in dem die Zeilen zu lesen sind: „So schufen die Maler hinter der Mauer / eine große Trotzdem-Bildwelt, / die man lesen können musste /Bernhard Heisig ist ein Gigant / in dieser vergangenen Bretterwelt gewesen.“

Hat man 2005 die Erwartung hegen können, dass von nun an eine unaufgeregte Sichtung deutsch-deutscher Kunstgeschichte die gemeinsam vertretene Zielsetzung von Kunsthistorikern und Museumsdirektoren aus West- und Ostdeutschland sein würde, so erhält diese Hoffnung ausgerechnet fast 20 Jahre nach dem Fall der Mauer mit der Ausstellung im Berliner Martin-Gropius-Bau >60 Jahre 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2009< einen empfindlichen Rückschlag. Denn sie bestätigt ein weiteres Mal die lakonische Feststellung, mit der Werner Hofmann im Jahr 2003 seinen Katalogbeitrag für die Ausstellung >Kunst in der DDR. Eine Retrospektive< begonnen hatte: „Lange Zeit waren die Künstler der DDR dem Westen – sofern er sie überhaupt zur Kenntnis nahm – ein Ärgernis, eine Belanglosigkeit, ein Anachronimus. Heute, nach dem politischen Debakel vom November 1989, steht dieses ausgesparte Terrain erst recht im Abseits.“14

Die von der Bundeskanzlerin am 30. April 2009 eröffnete und vom Bundesinnenministerium finanziell geförderte Ausstellung beruhte auf der Idee, für jedes Jahr des Geschichtsverlaufs zwischen 1949 und 2009 jeweils ein Kunstwerk in den Mittelpunkt einer Betrachtung des kulturellen Lebens in Deutschland zu stellen. Für die Jahre 1949 bis 1989 treten ausschließlich Künstler in den Blick, die zu dieser Zeit in der alten Bundesrepublik gelebt haben. Künstler aus der DDR blieben von der Präsentation mit dem Argument ausgegrenzt, im anderen Deutschland habe es unter den Bedingungen staatlicher Einflussnahme und Beschränkung keine Kunstfreiheit gegeben, wie sie im Grundgesetz der Bundesrepubkik garantiert ist. Signifikant für die von der Ausstellungs-organisation verfolgte kulturpolitische Tendenz sind die im Katalog abgedruckten Textauszüge aus dem protokollierten Ideenaustausch, in dem ein als Kuratorium firmierendes, prominent besetztes Beratergremium von Museumsleuten und weiteren Kunstexperten im Vorfeld der Ausstellung über Konzeption und Künstlerauswahl beriet. Auf die Bemerkung von Laszlo Glozer, dass Kunst aus der DDR ab den 1970er Jahren Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit war, antwortete der Projektorganisator Walter Smerling: „Wir zeigen die Kunst, die unter Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes möglich war, nämlich freie Kunst. In der DDR war die Kunst nicht frei, also hat sie in der Ausstellung nichts zu suchen.“15 Unter den Teilnehmern des Ideenaustauschs blieb – wie Diskussionsbeiträge von Ingrid Mössinger, Museumsdirektorin in Chemnitz, und von Peter Iden belegen – diese apodiktische Abwertung aller Kunstleistungen aus der DDR nicht unwidersprochen. Doch Folgen für das Ausstellungskonzept hatte dieser Widerspruch zu Smerlings Sichtweise nicht, weder für die Jahre 1949 bis 1970 noch für die von Glozer angesprochene Phase nach 1970, die unter dem Vorzeichen eines sich erweiternden Kulturaustauschs stand.16 Kunstgeschichtlich zeugt die Ausgrenzung von international renommierten Künstlern wie Hermann Glöckner, Gerhard Altenbourg oder Carlfriedrich Claus von einer befremdlichen Ignoranz, denn längst haben diese Künstlerpersönlichkeiten in der nach 1989 entstandenen kunstkritischen Literatur ihre angemessene Würdigung gefunden und die seit der Renaissance vielfach diskutierte, von Smerling abermals reaktivierte Behauptung widerlegt, relevante Kunst könne nur in einem freien Staatsgebilde entstehen – was schon unter Verweis auf das Werk von Dmitri Schostakowitsch in der stalinistischen Sowjetunion eindrucksvoll widerlegt wird.

Bemerkenswert ist aber auch die kulturpolitische Seite der mit einer formalen staatsrechtlichen Begründung sanktionierten Aussparung ostdeutscher Kunst aus dieser nachkriegsdeutschen Kunstbilanz. Wir erinnern uns: Die westdeutsche Politik vertrat in den beiden ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundes-republik mit Vehemenz einen staats- und völkerrechtlichen Alleinvertretungsanspruch, doch postulierte sie gleichzeitig den Fortbestand einer gemeinsamen deutschen Kultur als wesentliche Klammer für die Einheit der deutschen Nation. An diesem kulturgeschichtlichen Konzept hielt sie bis zum Ende der DDR fest, erst nach der deutschen Vereinigung entstand die Tendenz, die Kultur aus der DDR weitgehend abzuwerten, ohne die Frage nach ihrer wertvollen Substanz inhaltlich zu reflek-tieren. Für diese fragwürdige Entwicklung ist es symptomatisch, wenn Walter Smerling im Katalogvorwort konstatiert: „Die kreative Kraft soll vermittelt werden, die sich in den sechs Jahrzehnten seit Kriegsende entfaltet hat und die Basis für die heutige Kunstlandschaft der Bundesrepublik darstellt. Es werden die wichtigsten Werke wegweisender deutscher Künstler von 1949 bis 2009 gezeigt (…)“17 So erkennen wir im Jahr des doppelten deutschen Jubiläums ein merkwürdiges Paradox: Im  „Kultur- Artikel“ 35 des Einigungsvertrags vom 31. August 1990 hatten die beiden demokratisch gewählten deutschen Regierungen bekräftigt: „In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation.“ Als 19 Jahre später neben der Staatsgründung der Bundesrepublik vor 60 Jahren auch die deutsche Wiedervereinigung gewürdigt werden sollte, war diese ebenso lapidar wie treffend formulierte Einsicht ad acta gelegt, was die Entrüstung vieler ostdeutscher Museumsleute und Kunstkritiker sehr verständlich machte.

Für die Zeit nach dem Ende der SED-Diktatur wurde von den ostdeutschen Künstlern der älteren Generation nur Wolfgang Mattheuer in die Phalanx „wegweisender deutscher Künstler“ aufgenommen. Doch das für das kulturelle und künstlerische Klima des Jahres 1993 als prototypisch vorgestellte Gemälde Hinter den 7×7 Bergen  ist die Paraphrase eines älteren Bildes (Hinter den 7 Bergen), das Mattheuer bereits 1973 malte. Obwohl es qualitativ mehr überzeugt, konnte es nach den Kriterien der Ausstellungsmacher nicht berücksichtigt werden, es wurde in der Ausstellungsinszenierung nicht einmal erwähnt. Was soll da noch der Bildkommentar im Katalog bedeuten, der Mattheuer als einen der „wegweisenden“ Protagonisten der Leipziger Schule hervorhebt, der „über die Staatskunst der DDR hinaus eigenständige und kritische Werke geschaffen“18 habe. Mit dem für die Ausstellung ausgewählten Gemälde aus Mattheuers Spätwerk lässt sich dieser postulierte Stellenwert nur unzureichend unterstreichen.

Da wäre ein Gemälde von Bernhard Heisig, in dem sich dieser andere Maler der Leipziger Schule mit seinen traumatischen Kriegserinnerungen und den ideologischen Auswirkungen der mörderischen Welteroberungsfantasien Hitlers auf das Schicksal des Einzelnen auseinandersetzt, eher dem beanspruchten Bedeutungshorizont gerecht geworden. So wundert es nicht, dass die so kurzfristig wie aufwendig von der Bundesregierung unterstützte und von der Boulevard-Zeitung Bild als Medien-partner geförderte Ausstellung in der Presse fast einhellig heftige Kritik erfahren hat und in der Diskussion um eine gesamtdeutsche Kunstgeschichte ohne Wirkung geblieben ist.

Dagegen hat die am 25. Januar 2009 im Los Angeles County Museum of Art (LACMA) eröffnete Ausstellung >Art of Two Germanys/Cold War Culture< nicht nur auf nordamerika-nischem Boden, sondern auch hierzulande große Aufmerk-samkeit gefunden. Kuratoren der kalifornischen Ausstellung, die im Anschluss an ihre Präsentation in Los Angeles vom 28. Mai bis 6. September auch im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg und vom 3. Oktober 2009 bis zum 10. Januar 2010 im Deutschen Historischen Museum Berlin gezeigt wurde, waren Stephanie Barron und Eckhart Gillen, die in ihrer Kooperation auch die Städtepartnerschaft zwischen Los Angeles und Berlin konkret bekundet haben. Für Stephanie Barron ist die in Nürnberg und Berlin unter dem Titel >Kunst und Kalter Krieg – Deutsche Positionen 1945-89< gezeigte Ausstellung das dritte von ihr innerhalb der zurückliegenden 20 Jahre organisierte Projekt, das sich mit der deutschen Kunst im Kontext von Politik beschäftigt. 1991 hatte sie im LACMA –  anschließend auch in Berlin präsentiert –  das Schicksal der Avantgarde im Nazideutschland unter dem diffamierenden Vorzeichen von >Entarteter Kunst< analysiert, und 1997 folgte mit >Exil, Flucht und Emigration< eine weitere Ausstellung, die deutsche Künstler und ihre Werke aus einer apolitischen Betrachtungsweise herausholte, um sie als eine komplexe Kombination von kulturellen Erfahrungen und politischen Programmen in den Blick zu nehmen. Mit Eckhart Gillen gewann Stephanie Barron einen erfahrenen Partner für ihre dritte, auf das Thema Kunst und Kalter Krieg fokussierte Ausstellung, konnte dieser doch seinen Forschungsfundus, den er schon in den >Deutschlandbildern<  erstmals bilanziert hatte, in das Projekt einbringen. Ausgangspunkt der Ausstellung sind die unterschiedlichen Systeme, die als Folge des untergegangenen „Dritten Reiches“ im Nachkriegsdeutschland von den Siegermächten etabliert worden sind und das Kunstgeschehen in den 1949 gegründeten beiden deutschen Teilstaaten während des Kalten Krieges maßgeblich beeinflusst haben. Was die Ausstellung >60 Jahre 60 Werke< völlig ausgeklammert hat  – die Parallelwahrnehmung der ost- und westdeutschen Kunstlandschaften mitsamt den Ursachen ihrer Polarisierungen und Annäherungen –, das leisten Barron und Gillen mit ihrer Ausstellung und dem Autorenteam des begleitenden Katalogbuches.19

Während Smerlings Ausstellungskonzeption die These Werner Haftmanns von der ideologiefernen, als Ausdruck der Freiheit verstandenen Kunst der Abstraktion fortschreibt, die sich der bundesdeutschen Demokratie verdanke, enthüllt der von Stephanie Barron und Sabine Eckmann herausgegebene Katalog diese scheinbare Ideologiefreiheit als aus den USA subversiv gesteuerte Strategie, mit der die Sowjetdiktatur kulturell decouvriert und eigene Hegemonialinteressen verbrämt werden sollten. Zugleich wird der Wandel verfolgt, den die ostdeutsche Kunst zwischen dem sozialistischen Realismus der Stalin-Ära und den künstlerischen Auf- und Ausbrüchen im Anschluss an die Moderne durchschritten hat. Dabei fällt auf, dass die Sicht von außen, die die Amerikanerin Stephanie Barron auf die deutsche Kunstgeschichte richtet, zu unkonventionellen Wahrnehmungen befähigt hat. So nimmt sie aus dem Œuvre Willi Sittes ein Frühwerk in den Blick, mit dem der später zum Vorsitzenden des Verbandes Bildender Künstler aufgestiegene Maler seinerzeit massive Kritik von Kultur-funktionären wie Alfred Kurella herausgefordert hat. Das Gemälde Massaker II  von 195920 gehört zu einem Werkzyklus, in dem Sitte die Verbrechen der SS im tschechischen Ort Lidice dokumentiert hat. In einer grausamen Vergeltungsaktion für das Attentat auf Reinhard Heydrich waren am 10. Juni 1942 die männlichen Ortsbewohner ermordet, die Frauen und Kinder in Konzentrationslager deportiert worden. Sittes BIld hält die Szene unmittelbar nach der Erschießung fest und orientiert sich dabei unübersehbar an Picassos Guernica-Monumentalbild. Hier wird deutlich, dass Sitte, wie auch Harald Metzkes, in den ausgehenden 1950er Jahren zu den jungen Künstlern in der DDR gehörte, die mit  Anlehnungen an die Moderne die dogmatische Starre des sozialistischen Realismus durch erweiterte stilistische und thematische Freiräume aufzubrechen suchten.

Bemerkenswert ist die breite Resonanz, die das Publikum der Ausstellung in Los Angeles im Vergleich zu der Station in Nürnberg entgegengebracht hat. Die Nürnberger Besucher-zahlen bestätigen die allgemeine Erfahrung, dass in West-deutschland Künstler und Kunstwerke aus der DDR auch weiterhin wenig Aufmerksamkeit finden. Der Bilderstreit der 1990er Jahre ist einem sich latent ausbreitenden Desinteresse gewichen. So löste eine 2009 veröffentlichte Pressemeldung über die Verlagerung der DDR-Sammlungsbestände aus der Galerie Ludwig im Schloss Oberhausen vor Ort und in der Rhein-Ruhr-Region keinerlei Aufregung über den Verlust eines wichtigen Fundus von Kunst aus der DDR im Westen Deutschlands aus. Christine Vogt, die nach dem Ausscheiden von Bernhard Mensch 2008 die Leitung des Hauses übernommen hatte,sah keine Verwendungsperspektive mehr für die umfangreiche Dauerleihgabe Peter Ludwigs, die nach der Wiedervereinigung eine Brückenkopf-Funktion für Kunst aus der DDR hätte einnehmen können. Von der Kollektion, die der Aachener Sammler 1983 Schloss Oberhausen für die Gründung des Ludwig-Instituts für Kunst der DDR bereitgestellt hatte, wanderten 129 Gemälde und 33 Skulpturen in das Museum der bildenden Künste Leipzig und fast 500 grafische Blätter in die Depots des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Für das Leipziger Museum eröffnet sich mit dem umfangreichen Zuwachs die Chance, einen neuen Fokus auszubilden, der die Kunst aus der DDR in den Kontext der deutschen und inter-nationalen Kunstentwicklung rückt. Das kann nicht nur durch Wechselausstellungen gelingen, die neue Sichtweisen auf die alte Kunst der DDR bietet, sondern müsste nun auch in der Komposition der Dauerausstellung der Sammlungsbestände zur Wirkung kommen. Nur auf diese Weise könnte die Diskussion um die gesamtdeutsche Kunstgeschichte einen neuen Impuls bekommen.

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1  Siehe die Kapitel >1945: die restaurierte Moderne<, >Der Streit um das Menschenbild<, >1960: eine zweite „Stunde Null“< und >Der Streit mit der Öffentlichkeit<  im Beitrag von Hans Belting: >Bilderstreit: ein Streit um die Moderne<, in: Siegfried Gohr und Johannes Gachnang: Bilderstreit – Widerspruch, Einheit und Fragment in der Kunst seit 1960, Ausst.-Kat. Museum Ludwig, Köln 1989, S. 18ff.

2  Ebd., S. 25.

3  Eberhard Roters: „Die Spannweite der Konflikte“, in: Eckhart Gillen (Hrsg.): Deutschlandbilder, Ausst.-Kat., Berlin 1997, S.20.

4  Ebd., S. 21.

5  Siegfried Gohr: „Die Wunde“ – ein Leitmotiv für die Betrachtung der deutschen Kunst, in: Ausst.-Kat. Deutschlandbilder (wie Anm. 3), S. 29.

6  Siehe Claudia Banz: Laborismus gegen Kapitalismus und Kommunismus im Dunkeln:Joseph Beuys, in: Ausst.-Kat. Wahnzimmer, Museum der bildenden Künste Leipzig und Museum Folkwang Essen, Leipzig 2002, S. 45.

7 Eckhart Gillen: Auto-Perforationsartistik: Else Gabriel, Micha Brendel, Rainer Görß, Via Lewandowsky, in: Ausst.-Kat. Wahnzimmer (wie Anm. 6), S.191.

8  Siehe Eugen Blume: Austritt aus dem Menschenbild: Joachim Böttcher, Volker Henze, Hanns Schimansky, Harald Toppl, Mark Lammert, in: Ausst.-Kat. Wahnzimmer (wie Anm. 6), S. 132.

9  Eugen Blume und Roland März: Re-Vision. Kunstdenkmäler und Sinnzeichen, in:  dies.(Hrsg.):Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie, Ausst.-Kat. Neue Nationalgalerie Staatliche Museen zu Berlin 2003, S. 31.  – Für Eugen Blume mag die weitgehende Aussparung einer Konfliktanalyse der 1980er Jahre in der kurz zuvor von ihm mitkuratierten Ausstellung >Wahnzimmer< begründet sein. Zumal die Neue Nationalgalerie eine Zeitlang die in Leipzig gezeigte Doppelausstellung >Klopfzeichen< (mit ihren beiden Teilen >Wahnzimmer< und >Mauersprünge<) nach Berlin holen wollte. Da die Nationalgalerie aber bereits an einer eigenen Ausstellung arbeitete, zerschlug sich das Vorhaben. Roland März war mit großer Beharrlichkeit an den Planungen der hauseigenen Ausstellung von Kunst aus der DDR in der Neuen Nationalgalerie beteiligt und legte besonderen Wert darauf, den bisher dominierenden Leipziger Malern die künstlerische Bedeutung der Berliner Schule entgegenzustellen, mit deren Vertretern ihn langjährige Freundschaften verbinden.

10  Hanno Rauterberg: Kunst auf Freigang. Die Neue Nationalgalerie in Berlin zeigt großartige Bilder aus DDR-Zeiten, verschweigt aber deren Geschichte, in: Die Zeit, 31. Juli 2003.

11  >Wut der Sinne< tituliert Peter Pachnicke das zentrale Raumarrangement seiner Ausstellung >Deutsche Bilder aus der Sammlung Ludwig< in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen.

12  Siehe Werner Hofmann: Wie deutsch ist die deutsche Kunst? Eine Streitschrift, Leipzig 1999. Peter Pachnicke bezieht sich auf das Kapitel >Das Grauen der Abgründe<, S. 51ff.

13  Bernhard Mensch und Peter Pachnicke (Hrsg.): Ausst.-Kat. Deutsche Bilder aus der Sammlung Ludwig, Ludwig Galerie Schloss Oberhausen 2006, S. 7 (Vorwort).

14  Ausst-Kat. Kunst in der DDR. Eine Retrospektive (wie Anm. 9), S. 33.

15  Das Beratergremium ist erstmals am 23. 10. 2008 zusammengetreten, das Protokoll in Auszügen abgedruckt in: Ausst.-Kat. 60 Jahre 60 Wege. Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2009, hrsg. von Walter Smerling, Stiftung für Kunst und Kultur e.V. Bonn, Martin-Gropius-Bau Berlin 2009, Köln 2009, S. 16-23, hier S. 19.

16  Siehe dazu Karin Thomas: Die Rezeption der Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik bis 1989, in: Deutschland Archiv, H. 4/2009, S. 684-695.

17  Walter Smerling: Das Gestern kann uns nur ermutigen, in: Ausst.-Kat. 60 Jahre 60 Werke (wie Anm. 15), S. 14.

18  Ausst.-Kat. 60 Jahre 60 Werke (wie Anm. 15), S. 248

19  Stephanie Barron und Sabine Eckmann (Hrsg.): Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89, deutsche Ausgabe des vom Los Angeles County Museum of Art konzipierten Katalogs: Art of Two Germanys/Cold War Cultures, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg und Deutsches Historisches Museum Berlin, Köln 2009.

20  Will Sitte, Massaker II, 1959, ebd., S. 69, Katalognummer 359.

© Karin Thomas

(Eine wesentlich erweiterte Fassung unter dem Titel „Re-Visionen eines Bilderstreites. Ausstellungen deutscher Kunst zwischen 1997 und 2012“ in: Karl-Siegbert Rehberg / Paul Kaiser (Hg.): Bilderstreit und Gesellschaftsumbruch. Die Debatten um die Kunst aus der DDR als Stellvertreterdiskurs der deutschen Wiedervereinigung. Berlin: Siebenhaar Verlag 2013, S.151-165)

Hans Broschs selbstreferenzielle Malerei und ihre Kontexte

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2010

Hans Broschs selbstreferenzielle Malerei und ihre Kontexte

Eine aufschlussreiche Notiz zum künstlerischen Werdegang von Hans Brosch findet sich im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 6. Oktober 1975. Dort resümiert der in Frankreich lebende Kunsthistoriker Werner Spies seine Eindrücke vom Rundgang über die IX. Pariser Biennale der Jungen Kunst und kommentiert in seiner Rezension äußerst überrascht den Beitrag des weithin unbekannten Malers Hans Brosch aus Ostberlin, der zur Sensation dieser Veranstaltung avanciert sei: „Er bietet Collagen, teilweise mit reliefhaften Zutaten, die keinerlei gegenständliche Assoziation zulassen.“1 Jürgen Schweinebraden lieferte später eine genauere Kennzeichnung solcher Collagen als „Serien von collagierten Zeichnungen, bei denen Papierstreifen aufgeklebt, zeichnerisch weiterbearbeitet, in der Zeichnung verwischt, mit Wachsspuren versehen und teils auch durchbrannt werden.“ Statt die Prinzipien des Sozialistischen Realismus zu exemplifizieren, orientierte sich hier ein Künstler aus der DDR am experimentellen Erbe der Moderne. Broschs Arbeiten, so bemerkt Spies in seiner Rezension weiter, würden in Paris kaum derartige Verwunderung hervorrufen, „wüsste man nicht um ihren paradoxen geographischen Entstehungsort.“2

In der Tat war es nicht der Verband Bildender Künstler der DDR, der die Nominierung des seinerzeit 32-jährigen Brosch für die Biennale der Jungen Kunst initiierte. Auf Grund eines neuen Auswahlverfahrens durch ein Komitee von Kritikern und Museumsleuten erfolgte die Einladung von Brosch sogar gegen den Willen des Verbandsvorsitzenden Willi Sitte, der zuvor politischen Druck walten ließ, um die DDR in Paris durch eine dem Sozialistischen Realismus entsprechende Künstlerposition repräsentieren zu lassen. Wer den überraschenden Coup in Gang brachte, beleuchtet Spies im Bewusstsein, eine kulturpolitische Sensation offenzulegen, in seinem Ausstellungsbericht: „Die Initiative, Hans Brosch auf der Pariser Biennale zu zeigen, liegt bei einem Mitglied des Komitees, bei Raoul-Jean Moulin, Kunstkritiker der kommunistischen Tageszeitung L’Humanité. Er lernte Brosch vor einem Jahr während der Tagung der AICA, des Internationalen Verbandes der Kunstkritiker, in der DDR kennen. Die Einladung wurde von dem Kulturattaché an der DDR-Botschaft in Paris und seinem französischen Kollegen in Ost-Berlin befürwortet und gegen den Widerstand des Verbandes Bildender Künstler durchgesetzt.“3

In der DDR besitzt Hans Brosch zu dieser Zeit einige Reputation als Bühnenbildner. Denn der Meisterschüler des bekannten Bühnengestalters, Malers und Grafikers Karl von Appen ist freischaffend für so renommierte Häuser wie das Berliner Ensemble und das Deutsche Theater tätig. Doch die Malerei, die er ohne Auftrag betreibt und in der er anpassungsfrei einen ureigenen Bildraum formuliert, ist ihm wichtiger als die Theaterarbeit, mit der er seinen Lebensunterhalt bestreitet. Sein jäher Erfolg als Maler auf der Pariser Biennale findet jenseits der Mauer allerdings keinerlei Widerhall, vom offiziellen Kunstbetrieb bleiben Broschs Bilder ausgeschlossen. Mit Ressentiment begegnet man seiner bildästhetischen Strategie, die sich dem narrativen Abbild des sozialistischen Alltags verweigert, um stattdessen Matetrialanalysen und piktogrammhafte Zeichen eigenster Prägung in Farbräume einzubetten, die unmittelbar auf der Bildfläche erzeugt werden.

1979 nutzt Brosch einen Studienaufenthalt in Paris, um im Westen zu bleiben. Doch seine darauf folgende Übersiedlung nach West-Berlin erweist sich für den Künstler nur bedingt als Befreiung. Angekommen im Herrschaftsfeld des Kunstmarktes, wird Brosch einem Vermittlungssystem von Kunst ausgesetzt, dessen Mechanismen ihm fremd sind. Unter westdeutschen Feuilletonisten hat sein spektakulärer Biennale-Auftritt zwar Neugier auf jenen Künstler geweckt, der sich erfolgreich dem Sozialistischen Realismus und dessen seit 1971 erweiterten stilistischen Handschriften verweigerte. Auch hatten bereits renommierte Galeristen wie Karsten Greve in Köln, dann Meyer-Ellinger in Frankfurt am Main und schließlich Georg Nothelfer in West-Berlin das Werk des ostdeutschen Außenseiters von 1976 an vertreten, es auf den internationalen Kunstmessen gezeigt und ihm Einzelausstellungen in ihren Galerieräumen gewidmet, aber die an diese Aktivitäten geknüpften Erfolge bleiben hinter den Erwartungen zurück.

Im Sommer 1980 publiziert das Kunstmagazin art ein Feature über Hans Brosch mit dem Titel „Entdeckt. Endlos malen mit Kopf und Körper“ und betont darin seine Dissidenz von dem, „was als DDR-Kunst hierzulande bekannt ist“.4 Diese Würdigung approbiert Brosch als subversiven Vertreter einer ostdeutschen Gegenposition zum Sozialistischen Realismus, obwohl seine Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen allen bildnerischen Spektren aus der DDR – den offiziellen wie auch den subkulturellen – bereits seit den frühen 1970er Jahren entrückt sind und eigensinnigen malerischen Möglichkeitsformen des Bildes nachgehen.

Einer der Wenigen, die Broschs künstlerisches Schaffen als „Reflex auf die momentane Situation“ der in Westdeutschland allenthalben virulent gewordenen Malerei erkennen und zugleich sein Anderssein scharfsichtig diagnostizieren, ist der in West-Berlin lebende Kunstkritiker Wolfgang Max Faust. Wo die für den westdeutschen Kunstbetrieb wieder gefundene Malerei im Gefolge ihres spontanen Sprachgestus eine bildnerische Erzählfreude entwickelt, beschränkt sich Brosch auf Zeichen, die auf ihrem fragmentarischen Zustand beharren und in einem Zwischenbereich von Figuration und Abstraktion schweben: „Ihr Zeichenstatus vor der möglichen Figuration wirkt mit dem Blick auf die gegenwärtig beherrschende figurative Malerei zugleich wie ein nach der Figuration“, kommentiert Faust 1982 und fährt fort: „Die Bildgewissheit der neuen, erzählenden Bilder, die charakterisiert werden von einer Ästhetik der Verstreuung, wird von Brosch zurückgenommen und auf ihre Bedingungen überprüft.“5

In der Formulierung eines bildnerischen Zwischenraums, in dem sich Überschreitungen und Metamorphosen anbahnen, sieht Faust einen neuen Weg malerischer Selbstbehauptung. „Nicht mehr die Sujets entwerfen hier eine latente Bedeutung“; sondern die Bildwerdung, als „Sprache in statu nascendi“, radikalisiert die Frage nach den Möglichkeiten der Malerei in ihrem prozessualen Vollzug.

Durch freundschaftliche Nähen zu einigen Gruppierungen unter den heftigen Malern in West-Berlin, Köln und Hamburg sowie zu deren Galeristen motiviert, richtet Faust jedoch sein publizistisches Augenmerk schon von 1982 an, dem Hunger des Marktes nach lesbaren Bildern folgend, verstärkt auf figurative Positionen der neuen Malerei, während Broschs eigenwilliges Sondieren von Malerei jenseits des Motivs aus dem Blick dieses wichtigen Unterstützers zu schwinden scheint. Im weiteren Verlauf der 1980er Jahre gerät Hans Brosch darauf hin auch im Westen zunehmend in eine Nischenposition und seine Bilder, die, mit Fausts Worten, „eine thematische Ortlosigkeit“ zum Prinzip machen, werden nun von anderen Kritikern in totaler Fehleinschätzung lediglich als ein nachgeholtes, aus einer rein ostdeutschen Gegenkultur zur offiziellen DDR-Kunstdoktrin erwachsenes Informel  gelesen.

Spätestens hier stellt sich die Frage nach der Wirkmächtigkeit übergreifender kulturpolitischer Meinungsbildungen, durch die solcherlei Fehlwahrnehmungen verursacht werden. In der alten Bundesrepublik wusste man vor der Wende kaum etwas von einer informellen Malerei aus dem anderen Deutschland. Doch auch in der DDR selbst blieb die Existenz ungegenständlicher Kunst ein vage umschriebenes Phänomen, da ihre Präsentation unter drastischer Beschränkung nur in privaten Galerien und halbprivaten Veranstaltungen erfolgen konnte.

In den 1950er-Jahren ist der in Dresden lebende Hermann Glöckner noch im fortgeschrittenen Alter der einzige Künstler, der trotz heftigster Formalismus-Polemik seitens der Kulturadministration ein weit gefächertes Werk individueller Prägung hervorbringt. Im direkten Anschluss an das Erbe der konstruktivistischen Vorkriegsmoderne durchdringen sich Materialcollagen, Experimente mit Papierfaltungen und exakte Proportionsanalysen mit gestischen Farbsetzungen, wie sie der bis 1937 in Dresden ansässige Hans Hartung bereits in seinen frühen Aquarellen der 1920er-Jahre praktiziert hatte. Aus all diesen Anregungen formt Glöckner ein innovatives Tafelwerk, dessen  Originalität „aus dem beherrschten Widerspiel von Informel und strenger Konstruktion“ hervorgeht.6

Jüngere Kollegen und Interpreten nennen ihn daher voll Bewunderung den Dresdner „Patriarchen der Moderne“7, und es erstaunt nicht, dass Reflexe auf sein beeindruckend vielgestaltiges Oeuvre in jenen abgeschotteten Zirkeln und Ateliers auftauchen, wo man sich in aller Stille der Doktrin des Sozialistischen Realismus zu entziehen versteht. Dieser Mut zur Eigenständigkeit zeigt sich  bereits bei einer älteren Generation von Dresdner Malern, die wie Hans Christoph oder Herbert Kunze noch vor ihrer Isolation durch den Mauerbau in den Westen gereist waren, um dort auf den beiden ersten Documenta-Präsentationen in Kassel die „Weltsprache Abstraktion“ besichtigen zu können.

Anders als in den bundesrepublikanischen Künstlerkreisen orientiert sich ihr Nachvollzug der Moderne fortan keineswegs nur an einer postsurrealistischen Version des Informel oder an den sich selbst ritualisierenden Farbprozessen des Abstrakten Expressionismus. Mit den vielschichtigen Traditionen der Elbestadt verbunden, greifen sie auch die Dresdner Peinture auf und werten dieEntwicklungsgeschichte der analytischen Materialcollage von ihren kubistischen Anfängen bis zu den Bauhaus-Exerzitien von Itten und Albers aus.

Doch bis weit in die Nachwendezeit hinein werden den Arbeiten von abstrakt malenden Künstlern aus Ostdeutschland in der nachgeholten Rezeption von Kunst aus der DDR nur Randnotizen gewidmet. Erst die Marburger Ausstellung Gegenwelten. Informelle Malerei in der DDR hat im Jahr 2006 die subversive Kontinuität einer  informellen Bildgestaltung in ihren vielschichtigen Verzweigungen am Beispiel Dresdens nachvollziehbar gemacht.8

Während die Faszination der Pop Art mit ihrer wiedergewonnenen Gegenständlichkeit am Beginn der 1960er Jahre in der Bundesrepublik die bis dahin unangefochtene Hegemonie lyrischer und geometrischer Abstraktion unterlief, avancierte die in Ostdeutschland entstandene ungegenständliche Malerei mit ihren spezifischen Ressourcen zu einem identitätsstiftenden Potenzial, aus dem unangepasste Künstler – unter ihnen auch Hans Brosch – den Ansatz eigenständiger Wege schöpfen. Dabei vollzieht sich eine komplexe Differenzierung, die mit dem Stilbegriff „informell“ nicht mehr angemessen beschrieben ist, weil sich die Künstler der jüngeren Generation den vielschichtigen Nachlass der Abstraktion jeweils in individueller Weise aneignen und eigenständig auswerten.

So lässt Hans Brosch am Beginn der 1970er Jahre soziale und mediale Kontexte, die er aus Anregungen der Pop Art und der Fluxus-Bewegung bezieht, unterschwellig in seine Assemblage-Arbeiten einfließen. Ohne Anlehnung an konkrete Vorbilder entsteht nun ein Werkkomplex, in dem sich dunkle Farbigkeit und Materialerforschung mit der Reflexion über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verzahnen. In Arbeiten wie Mann und Gewehr (1971), Sektor (1973), Kein Westfernsehen (1973), Industrielandschaft (1974) oder Sonnensegel (1974) werden aus einer in gestischer Farbsetzung gewonnenen Tiefenräumlichkeit gegenständliche Assoziationen beschworen, die jedoch keine konkrete  Figuration nahelegen.

Hier vollzieht sich bei Brosch ein ähnlicher Prozess, wie er um die Mitte der 1960er Jahre durchaus auch bei Markus Lüpertz in Erscheinung tritt, als dieser mit der Dithyrambe Körperformen ohne eindeutige gegenständliche Benennbarkeit in seinen Formenfundus einführt. Doch im Vergleich zu diesen mit Pathos aufgeladenen Dithyramben bleibt Brosch in seinem malerischen Ansatz wesentlich offener und belässt seine körperhaften Gebilde auch in seinen Assemblagen in einem Schwebezustand zwischen Abstraktion und Figuration. Dieser hatte in Broschs früher künstlerischer Orientierungsphase seinen Ausgangspunkt in der Rezeption Picassos genommen.

Durch seinen Lehrer Karl von Appen, war Brosch ab 1966 in das Teamwork des Berliner Ensembles eingebunden worden, wo die Bildkunst in der Synthese mit dem Theater eine Enklave jenseits der Platitüden des Sozialistischen Realismus besaß. Hier schmückte seit 1953 Picassos Friedenstaube den Bühnenvorhang, und hier trafen sich die aus dem Exil in die DDR zurückgekehrten Künstler, für die der antifaschistische Maler des Guernica-Bildes als beharrlicher Ankläger der Kriegsgräuel in Korea und als Kämpfer für den Frieden ein unangefochtenes Idol blieb. Als Picasso 1973 starb, war mit ihm „eine Legende gestorben“, wie Jürgen Schweinebraden in seinen Erinnerungen konstatiert: „In ihm inkarnierte sich nicht nur faszinierende Malerei, sondern eine Lebensauffassung von individueller Freiheit, Erfolg (auch bei den Frauen) und damit Glück.“9 Unter den 30 Künstlern aus Berlin und Dresden, die sich in einer Ausstellung seiner privaten Galerie am Prenzlauer Berg im Mai 1974 mit dem großen Vorbild solidarisieren, nennt Schweinebraden auch Hans Brosch. Es sind die melancholisch expressiven Lyrismen der Rosa Periode sowie die primitivistischen Vereinfachungen im Anklang an das Porträt der Gertrude Stein und die Demoiselles d’Avignon, die sich beispielsweise in Broschs frühen Gemälden Sitzender weiblicher Akt von 1965 oder Bildhauer und Modell von1968/69 wiederfinden.

Auch bei A.R. Penck lassen sich Analogien zu diesen Picasso-Aneignungen entdecken. Penck erprobt 1963 nicht nur die maskenhafte Vereinfachung der Bildnisform, er verwendet darüber hinaus auch das Prinzip der Mehransichtigkeit in der Porträt-Gouache Sabine W.  Wo Penck an die Picasso-Rezeption seines Dresdner Lehrers Jürgen Böttcher (Strawalde) anschließt, folgt Brosch jedoch derjenigen seiner älteren Ostberliner Freunde Harald Metzkes und Manfred Böttcher aus den ausgehenden 1950er Jahren. Zu dem Zeitpunkt, da Schweinebraden seine Gedächtnisausstellung zum Tode Picassos veranstaltet, hat Brosch indessen schon jene neue Phase seiner experimentierenden Orientierung begonnen, die auf Pop Art und neodadaistisches Vokabular sowie auf die medialen Synthesen der Fluxus-Bewegung reagiert.

In seinen Pop Art-Adaptionen 1971 bis 1973 verbindet Brosch technoide mit organoiden Elementen; danach folgen Auseinandersetzungen mit Neo-Dada- und Fluxusanregungen. An diese Phase kurzzeitiger Stilaneignungen schließt sich eine Periode an, die in weit ausladenden, fast kartografisch anmutenden Vogelperspektivsichten auf Flugplätze, Sportstätten und Straßenkarrees, aber auch an diversen Interieurs die malerische und zeichnerische Vergegenwärtigung oszillierenden Raumempfindens erprobt. Arbeiten dieser Phase tragen Titel wie Berlin (1976/77), Sportplatz (1977), Brandschatz (1977), Aeroplane (1978).

Ironische Distanz zum Konsumfetischismus, politische Herausforderungen durch die Grausamkeiten im Vietnamkrieg und spontane Erfahrung aus freier Improvisation vermittelt die engagierte Beobachtung von Fluxus-Aktivitäten, die der Franzose Robert Filliou in Ostberlin initiiert. Jürgen Schweinebraden berichtet, dass er als fünfte Ausstellung seiner Zimmergalerie im Januar/Februar 1975 eine „Hommage à Robert Filliou“ veranstaltete, an der unter anderen auch Hans Brosch teilnahm.10 Filliou, der sich 1974 als Stipendiat des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Westberlin aufhielt, war in dieser Zeit auch häufiger Gast in Schweinebradens Ostberliner Galerie gewesen und hatte die Galerie-Freunde mit seiner 1974 entstandenen Fluxus-Installation Recherche sur l’origine bekannt gemacht. In ihr zieht Filliou eine Analogie zwischen der modernen Astrophysik und dem Dao-de-jing, dem von Laotsi verfassten Hauptwerk des chinesischen Taoismus. In Broschs eigener Werkphase um 1975 ist die Teilnahme an dieser Hommage mit einer bemalten Schranktür und einem von der Decke herabhängenden, zerstörten Regenschirm, der wie eine Fledermaus anmuten sollte, vorrangig eine Sympathiebekundung für den Fluxus-Künstler und dessen taoistische Lebensdevise von der permanenten Kreativität. Im freien Spiel des anschaulichen Denkens und der Unschuld – Filliou spricht von „imagination“ und „innocence“ – erlebt die Schöpfung einen durch jeden Menschen fortsetzbaren Prozess. Brosch bezieht aus dem kreativen Vagabundieren Fillious für sich die ermutigende Aufforderung, ureigene Wege einzuschlagen. Diese konkretisieren sich im offenen Konzept seines Malens, in dem sich grenzüberschreitend Poesie, Imagination, subtiler Humor und meditatives Sondieren amalgamieren.

In diesem Geist eines prozessualen Werkverständnisses entstehen 1974/75 auch jene Arbeiten, die Brosch bei seinem Pariser Debüt auf der Biennale der Jungen Kunst ausstellen kann. Nach seiner Übersiedlung nach Westdeutschland schlägt Brosch – den Anachronismen eines sich in der DDR gegenkulturell zum Sozialistischen Realismus verstehenden Informel vollends enthoben – eine Wegrichtung ein, mit der sich seine Malerei, wie man im Rückblick diagnostizieren kann, durchaus in der Nachbarschaft zu zeitgleichen Werkkonzepten befindet, wie sie bei Gerhard Richter oder Imi Knoebel in Erscheinung treten. Skripturale Notate und malerische Gesten, fragmentarische Zeichen und angedeutete figurative Assoziationen betten sich ein in Farbmeere von suggestiver Transparenz und erhalten in diesen Farbgründen ihre rätselhafte Vieldeutigkeit diesseits und jenseits des Realen.

Schon seit der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre haben Georg Baselitz und Markus Lüpertz die emphatische Vehemenz gestischen Malens und die sinnliche Wirkung der Farbe wieder in die bundesrepublikanische Kunst hinein geholt. Wenn diese Künstler sich selbst als abstrakte Maler titulierten, so bezogen sie sich angesichts ihrer figurativen Bildmotivik auf ihre malerische Auseinandersetzung mit Formen, Farben und Linien, was etwa Georg Baselitz dadurch apostrophierte, dass er seine Sujets auf den Kopf stellte, um sie gegenüber der Relevanz des Malvorgangs zu relativieren.

Gerhard Richter überrascht sein Publikum von 1977 an mit abstrakten Gemälden, die informell erscheinen, aber aus gänzlich anderer Intention hervorgehen. Denn Richter vermeidet in ihnen Komposition und konzentriert sich stattdessen auf die Selbstdarstellung unterschiedlicher malerischer Gesten. Erstaunt stellt der Künstler selbst fest, dass aus dem Miteinander von zufällig oder gelenkt geführten Rakel- und Pinselstrichstrukturen auf der Leinwand eine imaginäre Bühne entsteht, auf der sich Farbflächen, Linien und grafische Muster zu einem illusionären Bildraum ausweiten.11

Imi Knoebel beginnt – 1980 ebenso überraschend wie Richters Experiment der abstrakten Bilder – eine Probierphase mit farbigen Papiermustern und Plastikfolien und durchbricht mit spannungsreichen Farbkombinationen seine zuvor praktizierte Beschränkung auf die Primärfarben Gelb, Rot und Blau. Eine raffinierte Collagetechnik schichtet zerschnittene Kunststofffolien und bemalte Papierformen teils neben- und teils übereinander, während sich getropfte Farbschlieren und gestrichene Pinselschwünge mit den glatten Flächen der Kunststofffragmente berühren. Daraus entsteht in den sogenannten Drachenzeichnungen ein illusionärer Bildraum, in dem sich durch das Ineinanderschieben der Papiere und Folien „keine eindeutige räumliche Wirkung im Sinne eines optischen Vorder- und Hintergrundes einstellt“12, sondern ein vielschichtig facettiertes Perspektivengemisch aufscheint.

Mit diesen Experimenten vollziehen Richter und Knoebel gewiss keine Reanimation informeller Traditionen, wie sie von Kandinsky bis Pollock als Projektionen für psychische Gestimmtheiten evoziert wurden. Sie nutzen vielmehr die Verfügbarkeit des abstrakten Bildes, um an ihm die Möglichkeiten von Gestaltungsprozessen mit der autonomen Farbe zu exemplifizieren.

Diese Position nimmt nun, seit Beginn der 1980er Jahre, auch Hans Brosch ein, wenn er in vielfachen Feucht-in-Feucht-Überarbeitungen auf seinen Gemälden und Aquarellen die Verräumlichung der Farbe vollzieht. Der theatererfahrene Maler schafft sich einen imaginären Schauplatz für seine bildnerischen Aktivitäten aus den Potenzialen der Farbeigenschaften. Das Bild wird, wie der weitsichtige Interpret Wolfgang Max Faust bereits 1982 konstatiert hat, zur „Möglichkeitsform“, zur „proteischen Konfiguration“, die sich als „thematische Ortlosigkeit“ lesen lässt, aber auch das unerwartete Aufscheinen „kryptisch-fragmentarischer Figurationen“ provoziert.13 Die Leinwand mutiert zur Bühne, auf der in breiten Strichbahnen oder filigranen Lineamenten aufgetragene Farben Räume öffnen, die wieder mit neuen Farbflüssen durchtränkt werden. Als die Galerie Karsten Greve 1981 einige dieser unbetitelten Gemälde im Foyer des Kölner Opernhauses ausstellen kann, formuliert Lothar Romain in einem die Präsentation begleitenden Faltblatt den sprechenden Satz: „Die Bilder wurden mit Hilfe der Farbe nach innen aufgeschlüsselt.“ Was in diesen Bildern als mutmaßliche Reminiszenz an informelle Vorbilder auftaucht, ist nur noch Material für einen schöpferischen Prozess, der sich eine nach innen geöffnete Bildwelt erobert.

Im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre verdichten oder entflechten sich bei Brosch die übereinander geschichteten Farbgründe häufig zu plastischen Formen, zu figuralen Schemen wie Krieger (1986), der Harlekinade-Serie (1987) und Najaden (1999) oder zu filigranen Geweben. Bänderartige Linien durchziehen die Farbräume wie Gazeschleier, Sedimente von Akten und Gesichtern, etwa Kopf S (1987), sowie fleckenartig gesetzte Spuren, die Fußabdrücke suggerieren, tauchen aus den Farbverläufen hervor. Gelegentlich erinnern graffitiartige Zeichen an die Kalligrafien Cy Twomblys, und plastische Farbballungen erhalten eine fleischliche Anmutung, die Vergleiche mit der expressiven Breiigkeit der Körperfragmente von Chaim Soutine oder Frank Auerbach nahe legen (Das Fest, 1987). Doch nach wie vor konkretisieren sich diese Assoziationen in keinem festgelegten, lesbaren Bildinhalt. In den Weiten der aus der puren Malerei hervorgehenden Farbräume folgt Brosch geradezu lustvoll den anarchischen Regungen seiner spontan agierenden Hand und reagiert zugleich mit konstruktiven Eingriffen auf die figurativen Verdichtungen, die sich im Farbschlamm herausschälen, ohne dass er dabei einer Motivik Ausdruck verleiht.

Es ist bemerkenswert, dass sich ein Künstler wie Albert Oehlen in den ausgehenden 1980er Jahren in vergleichbaren Parametern einer puristischen „Malerei über Malerei“ ohne vorgefasste Thematik bewegt. Während Oehlens vorausgegangene Arbeiten der Bad-Painting-Phase mit provokanter Kritik, beißender Ironie und heftiger Geste auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik reagierten, folgt ab 1988 eine Periode, in der er eher die expressiv-abstrakte Malweise Willem de Koonings zitiert und figurative Elemente lemurenhaft aus einer diffusen Farbmasse hervordringen lässt. Wie für Brosch ist auch für Oehlen offenkundig das Informel dabei nur stilistisches Material einer Malerei, die das Potenzial bildnerischer Mittel spontan und konstruktiv zugleich auslotet. Hier ist zugleich die maßgebende Differenz zu verorten, durch die sich Hans Brosch von der zweiten Generation der informellen Maler aus der DDR unterscheidet und seine Zeitgenossenschaft innerhalb einer westdeutschen Avantgarde bekundet.

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Anmerkungen

1 Spies, Werner, Feen der Arbeitswelt und die Ausbeutung des Flohmarkts. Von China bis zur Selbstdarstellung der Avantgarde auf der Pariser Biennale junger Kunst, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 06. 10. 1975. Wieder abgedruckt in: Ders., Das Auge am Tatort. 80 Beggegnungen mit Kunst und Künstlern, München u. a. 1979, S. 32ff.

2  Schweinebraden, Jürgen, Hans Brosch, in: Gallwitz, Klaus (Hg.), Zeitgenössische Kunst in der Sammlung Deutsche Bank, Stuttgart 1990, S. 64.

3  Spies, Feen der Arbeitswelt (wie Anm. 1), ebd.

4  Bosetti, Petra, Entdeckt. Endlos malen mit Kopf und Körper, in: art, Heft 8/1980, 116f.

5  Faust, Wolfgang Max, Stichwörter, in: Galerie Georg Nothelfer (Hg.), Hans Brosch (Ausst.- Kat. Galerie Georg Nothelfer), Berlin 1982, o. S.

6  März, Roland, „Formalistisch“ Informel, in: Blume, Eugen/März, Roland (Hgg.), Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie (Ausst.-Kat.Neue Nationalgalerie Berlin u.a.), Berlin 2003, S. 135.

7  1983 gibt John Erpenbeck im Verlag Der Morgen (Berlin/DDR) eine Monografie heraus, die den Titel trägt: „Hermann Glöckner – Ein Patriarch der Moderne“.

8  Siehe dazu den Essay von Hofer, Sigrid, Wider die Kunstdoktrin. Dresdens Beitrag zur informellen Malerei nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein Streifzug, in: Hofer (Hg.), Gegenwelten (wie Anm. 8),  S. 9ff.

9 Schweinebraden, Jürgen, Reflexionen und Beschreibungen einer vergangenen Zeit. Erinnerungen 1956-1980, in: Feist, Günter/Gillen, Eckhart/Vierneisel, Beatrice (Hgg.) Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990. Aufsätze, Berichte, Materialien, Köln 1996,S. 699.

10 Schweinebraden, Reflexionen (wie Anm. 9), S. 703.

11  Siehe dazu Richter, Gerhard, Antworten auf Fragen von Marlies Grüterich, 2.9.1977, in:Ders., Text. Schriften und Interviews, hg. von Hans-Ulrich Obrist, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 81ff.

12 Siehe dazu Butin, Hubertus, Komplexität als Produktionsmodus. Zu den Papierarbeiten von Imi Knoebel, in: Ders. (Hg.), Imi Knoebel: Ich nicht – Neue Arbeiten/ENDUROS. (Ausst.-Kat. Deutsche Guggenheim Berlin), Ostfildern 2009,S. 77.

13 Faust, Stichwörter (wie Anm. 5).

In: Hans Brosch.  Ausst.-Kat. Sttiftung Galerie für Zeitgenössische Kunst in Leipzig 22. Januar bis 5. April 2010. Nürnberg: Verlag für Moderne Kunst 2010, S. 46-52.

© Karin Thomas

Eine ost-westdeutsche Freundschaft

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2009                                                                                              Eine ost-westdeutsche Freundschaft

Ein handgeschriebener Brief, den Klaus Werner über die Kulturabteilung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik an meine Verlagsadresse expedieren ließ, wurde Auslöser unserer Bekanntschaft, aus der sich im Verlauf von mehreren Jahren eine von wechselseitigem Respekt getragene stille, aber verlässliche Freundschaft entwickeln sollte. Der Brief erreichte mich im Herbst 1980. Ein halbes Jahr zuvor war mein Taschenbuch Die Malerei in der DDR 1949–1979 im Verlag DuMont erschienen. Mit dieser kleinen Publikation unternahm ich einen ersten Versuch, den vielen im Westen unbekannt gebliebenen Künstlern aus dem anderen Deutschland so etwas wie ein stilkritisches Profil vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Ost-West-Konfrontation zu geben, wurden doch im Westen bis zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen nur die von dem Sammler Ludwig exponierten Maler Heisig, Mattheuer, Sitte und Tübke wahrgenommen, die auch auf der documenta 6 vertreten waren.

In seinem Brief würdigte Klaus Werner meinen Versuch, Entwicklung und Erscheinungsbild der Kunst aus der DDR zu bilanzieren. Er war damit der einzige ostdeutsche Kollege, der sich dazu in schriftlicher Form geäußert hat. Zugleich machte mich Klaus Werner darauf aufmerksam, dass mir als neugierigem Besucher aus dem Westen der Blick hinter das offizielle Ausstellungsgeschehen in die regionalen Nischen einer unangepassten Individualkunst jenseits des Staatsauftrags verwehrt geblieben war. Um mir diesen im Abseits agierenden Bereich der Kunstproduktion zu öffnen, lud er mich zu einem Besuch der Ostberliner Galerie des Staatlichen Kunsthandels Arkade am Strausberger Platz ein, die er zu dieser Zeit leitete. Wir trafen uns dort wenig später an einem stillen Wintervormittag 1981. Rasch stellten wir ähnlich gelagerte Interessen und Vorlieben für bestimmte Künstler fest, und nach einem erstaunlich ungezwungenen Gedankenaustausch über die Situation der zeitgenössischen Kunst in den beiden Teilen Deutschlands schenkte mir Klaus Werner von fast allen Ausstellungen, die er in der Galerie Arkade veranstaltet und kommentiert hatte, ein Exemplar jener kleinen Begleitkataloge mit dem signifikanten Floralsignet, die unter den Kunstfreunden in der DDR sehr begehrt waren.

Wie kaum ein anderer Kunsthistoriker aus der DDR blickte er, von den Kulturfunktionären zumeist an Westreisen gehindert, zumindest durch ausgiebige Lektüre und Gesprächskontakte über die Mauer, interessierte sich für westdeutsche Künstler wie Beuys, Richter oder Baselitz und beschaffte sich unter erheblichen Risiken aktuelle Literatur aus der Westkunst. Was er gelesen hatte, vermittelte er weiter an seine Künstler-freunde. Als man ihn wegen solcher Kontakte als Galerieleiter entließ, verlegte er seinen Wohnsitz nach Leipzig und intensivierte dort seine Mitwirkung in der unangepassten Kunstszene. Er schrieb Texte, die man mit Vergnügen las, was in der Kunst-publizistik aus der DDR eher selten war.

Von nun an trafen wir uns jeweils zur Leipziger Buchmesse im März und fanden angesichts unwirtlicher Temperaturen und überfüllter Gaststätten im Haus Sommerlath der Mutter von Christoph Tannert einen diskreten und höchst gastfreundlichen Treffpunkt. Bei solchen Gelegenheiten erzählte mir Klaus Werner von Punkkonzerten, Pleinairs sowie performativen und filmischen Aktivitäten in den zahlreichen jungen Künstlerkreisen, in denen man den festgelegten Medienkanon der DDR-Kunst sprengte und dem kreativen Selbstfindungsdrang eigensinnigen Ausdruck gab. So verwies mich Klaus Werner 1985 auf die sich gerade formierende Produzentengalerie eigen+art, die Judy Lybke ideenreich und listig in der Fritz-Austel-Straße etablieren konnte. Sie sollte zum wichtigen Podium junger Experimentalkunst in der DDR werden und ähnliche Initiativen in anderen Städten nach sich ziehen. Zugleich profilierte sich Klaus Werner weit über den Leipziger Raum hinaus mit kunstkritischen Essays und Kommentierungen, die ihn nach der Wende zum kompetenten Berater bei den schwierigen Annäherungsprozessen zwischen den ost- und westdeutschen Kunstpositionen werden ließ. Wir sahen uns nun seltener, doch jedes Mal, wenn ich Klaus Werner begegnete, spürte ich den Geist einer Freundschaft, der die Grenze des Außergewöhnlichen tangiert.

(In:Klaus Werner: Für die Kunst. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2009, S. 295-296.)

© Karin Thomas

Die Rezeption der Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik bis 1989

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2009

Die Rezeption der Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik bis 1989

Als die Berliner Nationalgalerie im Jahr 2003 mit ihrer Ausstellung Kunst in der DDR. Eine Retrospektive nach eigenem Bekunden „eine seriöse Antwort auf die Frage nach dem künstlerischen Ertrag von 40 Jahren Kunst in der DDR“ zu geben versuchte, begann Werner Hofmann seinen Katalogbeitrag mit der lakonischen Feststellung: „Lange Zeit waren die Künstler der DDR dem Westen – sofern er sie überhaupt zur Kenntnis nahm – ein Ärgernis, eine Belanglosigkeit, ein Anachronismus. Heute, nach dem politischen Debakel vom November 1989, steht dieses ausgesparte Terrain erst recht im Abseits.“1

Wer die Ausstellung 60 Jahre 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2009 im Berliner Martin-Gropius-Bau gesehen und im begleitenden Katalog die Textauszüge aus dem Ideenaustausch des beratenden Kuratoriums gelesen hat, der dem kurzfristig initiierten Ausstellungsprojekt vorausging, muss mit Erstaunen feststellen, dass Hofmanns Aussage noch immer nicht überholt ist. So antwortet Walter Smerling, der Projektorganisator und Herausgeber des Katalogbuches, auf die Bemerkung von Laszlo Glozer, dass Kunst aus der DDR ab den 1970er-Jahren Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit war: „Wir zeigen die Kunst, die unter Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes möglich war, nämlich: freie Kunst. In der DDR war die Kunst nicht frei, also hat sie in der Ausstellung nichts zu suchen.“2 Unter den Teilnehmern des Kuratoriums blieb, wie der Diskussionsbeitrag von Ingrid Mössinger, Museumsdirektorin in Chemnitz, belegt, diese apodiktische Sichtweise nicht unwidersprochen.

Doch die in der Ausstellung präsentierte Exponatenauswahl hat für die Jahre 1949 bis 1989 die ostdeutsche Kunstszene ausgeblendet und damit auch international renommierte Künstler wie Hermann Glöckner, Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus ausgegrenzt. Gewiss, die Ausstellung zeigt interessante und für die bundesdeutsche Kunstszene signifikante Bilder und Objekte, aber es irritieren gravierende Lücken. So ist die gesellschaftskritische Kunst aus dem Westen weitgehend vernachlässigt, sieht man von Jörg Immendorffs Agitprop-Bildtafel Für wen? (1973) aus seiner LIDL-Periode ab, in der er dem Elfenbeinturm der zeitgenössischen Kunst-Ismen das arbeitende Volk als den Adressaten einer politische Einsichten vermittelnden Kunst entgegenhält. In der Ausstellung, die auf weiten Strecken dem Konzept einer reinen Ästhetik folgt, fehlen der kritische Realismus und die Gruppe SPUR, die sich dezidiert mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in der Bundesrepublik auseinandergesetzt haben. Erstaunlicherweise sind auch zwei Gemäldefolgen mit keinem einzigen Beispiel zu sehen, die in einer unmittelbaren Beziehung zum Ausstellungsort und zur deutschen Nachkriegsgeschichte stehen. Während Rainer Fetting in seiner Bilderserie von 1978 Van Gogh an der Mauer die Lage des Martin-Gropius-Baus direkt vor der Mauer zeigt, ist Immendorffs Bilderfolge Café Deutschland (ab 1977) der politische und private Reflex auf seine 1976 beginnende Freundschaft mit Penck, den der Düsseldorfer Maler mehrfach in Dresden besucht hat.

Erstaunlich ist auch, dass Wolfgang Mattheuers Gemälde Hinter den 7×7 Bergen, das für das Jahr 1993 ausgewählt wurde, nicht durch einen Bildvergleich in Beziehung zu seiner Ursprungsfassung Hinter den sieben Bergen von 1973 gesetzt wird. (Auch das sehr instruktive elektronische Informationssystem in der Ausstellung verzichtet auf eine entsprechende Abbildung.) Da das frühere Bild künstlerisch deutlich kraftvoller ist, drängt sich ein Verdacht auf: Der Bildvergleich unterbleibt, weil nach Auffassung der Kuratoren in der DDR keine freie qualitätvolle Kunst entstehen konnte. Wer allerdings die Daten der Exponate sorgfältig registriert, entdeckt zumindest eine Inkonsequenz. Denn das für das Jahr 1979 ausgewählte Gemälde von A. R. Penck Wahl in den Osten ist in Dresden entstanden – ein Jahr, bevor der Künstler die DDR verlassen hat.

So stieß die Jubiläumsschau, die von der Bundeskanzlerin am 30. April 2009 eröffnet, vom Bundesinnenministerium finanziell gefördert und von Bild mit einer täglich erscheinenden Serie begleitet wurde, in den Feuilletons ganz überwiegend auf vehemente Kritik. Doch bleibt  auch nach dem Ende der nur sechs Wochen gezeigten Jubiläumsschau eine Irritation zurück, die uns signalisiert, dass wir von einem gesamtdeutschen Kulturbewusstsein weiterhin weit entfernt zu sein scheinen.

I                                                                                                                                                                                                             Die Gründe für das vier Jahrzehnte lange Desinteresse des Westens an der Kunst aus der DDR sind in den Konfrontationen des Kalten Krieges verankert, für die das von den Siegermächten verwaltete Nachkriegsdeutschland zum zentralen Schauplatz avancierte. Als sich 1949 die beiden deutschen Teilstaaten konstituieren, sind sie in das Interessensystem ihrer jeweiligen Vormächte eingebunden. So setzt die Sowjetische Militäradministration in der DDR den Sozialistischen Realismus nach sowjetrussischer Maßgabe mit tatkräftiger Unterstützung der SED-Kulturfunktionäre durch und polemisiert in ihren Propagandakampagnen gegen Dekadenz und Formalismus aus dem Westen. Ein Zeitungsbeitrag, mit dem die Sowjetische Militäradministration am 20. Dezember 1950 in ihrem Presseorgan, der Täglichen Rundschau, eine neue Anti-Formalismus-Kampagne einleitet, trägt die bezeichnende Überschrift „Verfall der bildenden Kunst im Westen“. Seine Polemik richtet sich gegen die gesamte Moderne, vor allem aber gegen die in der westlichen Kunst virulenten abstrakten Stiltendenzen.

In der Bundesrepublik führt die anwachsende Konfrontation Realismus contra Abstraktion zu einer weitreichenden Ausblendung gegenständlicher Kunst aus den Re-Visionen der Moderne. In ihren Publikationen, die sich die Wiederanknüpfung der deutschen Kunstentwicklung an die Vorkriegsmoderne zur Aufgabe stellen, machen sich die führenden deutschen Kunstpublizisten Werner Haftmann und Will Grohmann die Argumentation amerikanischer Kollegen zu eigen. Alfred H. Barr, Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, konstruiert eine bruchlose Entwicklungslinie von Kandinsky zum Abstrakten Expressionismus und interpretiert den ausgeprägten Individualismus bei Jackson Pollock als dezidiertes Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit, das es in das Nachkriegsdeutschland zu implantieren gilt. Am 14. Dezember 1952 publiziert Barr den Beitrag >Is Modern Art Communistic?< im New York Times Sunday Magazine.3  Darin verteidigt er die Maler des Abstrakten Expressionismus gegen den von Mc Carthy erhobenen Vorwurf kommunistischer Unterwanderung, indem er den „Nonkonformismus und die Freiheitsliebe der modernen Künstler“ zum Bollwerk gegen die sowjetische Diktatur und deren Postulat des Sozialistischen Realismus erklärt.

Ganz in diesem Sinne konzipiert Arnold Bode zusammen mit Werner Haftmann 1955 die documenta als Demonstration der freien Westkunst gegen die kommunistische Diktatur im Osten mit finanzieller Unterstützung der Politik und wählt mit Kassel als Veranstaltungsort eine unmittelbar an der Zonengrenze gelegene, von Kriegsschäden gezeichnete Stadt. Angelehnt an Barr, zeichnet auch Haftmann in seinem Einleitungstext zum Katalog eine Entwicklung abstrakter Stilrichtungen ohne Brüche, indem er die Neue Sachlichkeit und den expressiven Sozialrealismus der ASSO ganz ausblendet. Die Zeit des Nationalsozialismus betrachtet Haftmann zehn Jahre nach Kriegsende als eine überwundene Episode politischer Desorientierung. Durch Sperrdruck besonders akzentuiert, vermerkt Haftmann dann nachfolgend, dass „nicht ein Einziger in den europäischen Blickkreis hat treten können, ja, daß dort, wo sogar ganze Nationen durch Befehl ihrer politischen Klasse  aus dieser geistigen Kontinuität heraustraten – Russland seit 1921, Deutschland seit 1933 – (…) nicht ein einziges erinnerungswürdiges Werk entstanden ist.“ Politische Denkstrukturen des Kalten Krieges werden hier unterschwellig eingesetzt, um die Bundesrepublik mit dieser Moderne-Re-Vision als Teil der freien Welt zu manifestieren, während alle Kunst aus Russland, einschließlich der gesamten konstruktivistischen Avantgarde-Bewegung, als ideologisch manipuliert aus dem Entwicklungsfluss der Moderne ausgegrenzt wird.

In seiner Einführung zum Katalog der documenta II (1959) exemplifiziert Haftmann seine Ablehnung gegenständlicher Kunst konkret, indem er den antifaschistisch orientierten Realismus des Italieners Renato Guttuso und die existenzialistische Malerei der Franzosen Francis Gruber und Bernard Buffet ebenso geringschätzig bewertet und der „Verfälschung der dem zeitgenössischen Menschen aufgetragenen Wirklichkeitsbewältigung“ bezichtigt wie die Propagandabilder des Sozialistischen Realismus.5

Solche Ausführungen stoßen damals auf keinen ernsthaften Widerspruch. Nimmt doch im Westen Deutschlands niemand zur Kenntnis, wie anregend die melancholischen Figurationen der Franzosen um 1956 auf die Ostberliner Maler der schwarzen Periode eingewirkt haben und wie richtungweisend für den Hallenser Maler Willi Sitte zu dieser Zeit der antifaschistische Aufschrei Picassos und die kubistisch sowie expressiv durchpulste Gegenständlichkeit Renato Guttusos gewesen sind. Ermutigt durch derartige Anregungen von außen, bilden diese Künstler eine eigene, ihre Befindlichkeit widerspiegelnde Ausdrucksform aus, die sich von der Plakativität des Sozialistischen Realismus sowjetrussischer Vorgabe ebenso fernhält wie von der ihnen verbotenen informellen Abstraktion. Wo das Parteidiktat den kollektiven Aufbauoptimismus einfordert, finden sie eine Bildsprache, in die sie ihre Kriegserlebnisse und ihre existenzielle Vereinsamung hineinschreiben können. Doch von diesen vorsichtigen Ausbrüchen ostdeutscher Künstler aus der sozialistisch-realistischen Agitationskunst dringt kaum eine Information über die Grenze in die Bundesrepublik. Dort wird mit der internationalen Resonanz der ersten beiden documenta-Ausstellungen und deren stilbildendem Einfluss auf die westdeutsche Kunst das Fundament für die jahrelange Westignoranz gegenüber aller Kunst aus der DDR gelegt. In der Öffentlichkeitsarbeit von d 1 und d 2 wird eine sorgfältig konzipierte meinungsbildende Strategie wirkmächtig, die darauf abzielt, die in Westeuropa dominant gewordene Abstraktion als kulturpolitisches Freiheitssignal gegen den Kommunismus in Stellung zu bringen.

II                                                                                                                                                                                                         Bereits 1954 prognostizierte Haftmann in seiner umfangreichen Publikation >Malerei des 20. Jahrhunderts<, die über Jahre hinweg das auflagenstärkste Kompendium zur Entwicklungsgeschichte der Moderne ist, die Verfestigung der Abstraktion zu einer „Kunstlehre“, auf die „in breitester Front die europäische Malerei“ einschwenken wird.1955 ist die Ausrichtung der Westkunst gegen die kulturpolitischen Feinde der Freiheit aus dem Lager des Ostblocks bereits voll im Gang. Mit diesem Einschwenken auf die Abstraktion als „Weltsprache der Kunst“ ist die rigorose Abschottung des Westens gegenüber der Kunst aus Ostdeutschland verbunden. Alle Publikationen, die in der Bundesrepublik bis in die ausgehenden 1960er-Jahre zu den Kunstrichtungen seit 1945 ediert  werden, schreiben in der Grundtendenz die von Haftmann vorgezeichnete Sichtweise fort. Das Spektrum reicht von der dreibändigen >Kunst des 20. Jahrhunderts<, die Carl Georg Heise 1957 im Piper-Verlag herausgibt, bis zu der 1970 erschienenen deutschen Übersetzung von >Movements in Art since 1945< (1969) des britischen Autors Edward Lucie-Smith, die der Verlag Fritz Molden in sein Programm aufnimmt. Auch Will Grohmann, der 1946 in Dresden die erste >Allgemeine Deutsche Kunstausstellung< mitinitiiert hatte und veranlasst durch die Kampagne gegen den Formalismus in der Kunst 1948 in den Westen übergesiedelt war, profiliert sich mit seiner 1958 herausgegebenen Publikation >Neue Kunst nach 1945< ganz im Sinne von Arnold Bode und Haftmann für seine Aufnahme in den Ausschuss der d 2. Das als Anthologie konzipierte Buch versammelt Aufsätze einflussreicher Kunstvermittler aus den westeuropäischen Staaten sowie aus den USA und stimmt den Leser auf das Erscheinungsbild der d 2 ein. Grohmann selbst verantwortet den Beitrag über die zeitgenössische Kunst aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. In der Formulierung >Deutschland< manifestiert sich der von der bundesrepublikanischen Politik erhobene gesamtdeutsche Alleinvertretungsanspruch. Doch Grohmann nutzt ihn nicht, um Künstler aus Ostdeutschland in seinen Interpretationen zu berücksichtigen. Obwohl er zu dieser Zeit in der Bundesrepublik der wohl kenntnisreichste Kunsthistoriker in Bezug auf eine qualitative Einschätzung einzelner Künstlerpersönlichkeiten aus dem anderen Deutschland gewesen sein dürfte, setzt er sich weder in seiner Funktion als documenta-Beirat noch in seinem Essay für die Berücksichtigung von Kunstwerken ostdeutscher Herkunft ein. Nicht einmal das mit abstrakten Papiercollagen und experimentellen Metallarbeiten höchst innovative Spätwerk Hermann Glöckners findet Grohmanns Fürsprache für eine Berücksichtigung in der d 2, obwohl sich der Kunsthistoriker und der Künstler aus den ersten Dresdner Nachkriegsjahren bestens kennen: Anders als Grohmann integriert dagegen Dietrich Mahlow Glöckners aktuelles Oeuvre mit 14 Exponaten in seine Baden-Badener Ausstellung Metalldrucke – Collagen – Materialbilder von 1958, nachdem  bereits 1956 und 1957 der Deutsche Künstlerbund Werke Glöckners in seinen Düsseldorfer und Berliner Leistungsschauen registriert hatte.6

Grohmanns Kunst vermittelnde Tätigkeit ist im Umfeld der d 2 offensichtlich von Strategien kulturpolitischer Opportunität geleitet. Sein Ziel ist seine Einbindung in das international vernetzte Team, das die Protagonisten der Weltsprache Abstraktion qualitativ bestimmt und im documenta-Ambiente inszenatorisch interpretiert.

III                                                                                                                                                                                                       Bei der d 3 (1964) unterläuft die in Amerika vehement in Erscheinung tretende Pop Art mit der Wiedergewinnung des Gegenstandes und der Annäherung an das Alltagsleben die bis dahin unangefochtene Hegemonie der abstrakten Kunst. Haftmanns Planung und Inszenierungsregie der d 3 ist zwar immer noch darauf ausgerichtet, das Modell „Weltsprache Abstraktion“ zu rechtfertigen. Doch die Kritik tritt dieser Intention nun deutlich entgegen, und der ehemals abstrakt-expressiv malende Künstler Hans Platschek, der sich nun dem Kritikerberuf zuwendet, wagt es, mit Ernst Wilhelm Nay den deutschen Exponenten der Abstraktion vom Sockel zu stoßen.

Als Will Grohmann in der folgenden Umbruchphase 1966 den Auftrag erhält, seine 1958 herausgegebene Publikation zu überarbeiten und zu aktualisieren, reagiert er auf diesen Wandel. Erneut schreibt er selbst den Beitrag über die Kunst in den  deutschsprachigen Ländern, benutzt – wie schon 1958 – in der Kapitelüberschrift das Wort >Deutschland< und entzieht sich mit dieser geografischen Raumbezeichnung einer den realen Verhältnissen entsprechenden Differenzierung zwischen ost- und westdeutscher Kunst sowie einer kulturpolitischen Situationsanalyse. Doch mit Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus werden nun – anders als 1958 – zwei in der DDR lebende Künstler kurz vorgestellt, ohne dass jedoch ihre Herkunft aus Ostdeutschland Erwähnung findet. Grohmann typisiert Altenbourg mit einem Satz als „versponnenen Sonderling“ mit „Jean Paulscher Poesie“, dessen „Schriftzüge einen Weg zwischen Gestern und Morgen“ suchen.7 Zu den skripturalen Kalligrafien von Carlfriedrich Claus vermerkt Grohmann ihre formalästhetische Synthese von „Dichten und Bilden“, interpretiert aber mit keinem Wort den Gehalt der Notate, die u. a. im Anschluss an Karl Marx und Ernst Bloch Gedanken über eine freie sozialistische Gesellschaft speichern.8 Da beide Künstler als Außenseiter der Kunstszene in der DDR zu dieser Zeit keine Unbekannten in westdeutschen Kunstvermittlerkreisen mehr sind, stellt sich die Frage, weshalb Grohmann derart zurückhaltend – und  betont unpolitisch – in seinen Werkdeutungen bleibt.

Es ist nicht anzunehmen, dass eine fortgesetzte Anpassung an den Haftmannschen Künstlerkanon den Blick Grohmanns über die Grenze so unverbindlich ausfallen lässt. Es dürften hier eher Rücksichtnahmen auf die Gefährdung der beiden Künstler durch eine allzu intensive Westwahrnehmung motivierend gewesen sein. Denn Grohmann stand seit 1951 mit Claus in kontinuierlichem Briefwechsel, darüber hinaus gab es Kontakte zwischen Claus und Bernard Schultze, und 1959 war ein Tonband mit Sprachexerzitien in die Hände von Franz Mon gelangt, woraus sich Kooperationen mit Vertretern der visuellen Poesie und der Fluxus-Bewegung anbahnten. Gerhard Altenbourg war schon in den ausgehenden 1950er-Jahren von der Westberliner Galerie Rudolf Springer in zwei Einzelausstellungen gewürdigt worden. Und 1964 widmete ihm die seinerzeit noch in Hannover ansässige Galerie Brusberg eine erste Einzelausstellung in der Bundesrepublik.9 Doch diese substanziellen Werkrezeptionen hatten für beide Künstler die verstärkte Observierung durch den Staatsicherheitsdienst der DDR zur Folge. Auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges – nach der Berlin-Krise und dem Mauerbau – hat Grohmann eine Vorstellung davon, wie rigoros die Kulturadministration der DDR ihre unangepassten Künstler observiert und ihre Westkontakte mit Sanktionen bedroht. Seine hier zitierten Interpretationen sind daher signifikante Beispiele für die Vorsicht, mit der verantwortungsbewusste Kunstkritiker und Kunstvermittler über Künstler wie Claus und Altenbourg berichten.

IV                                                                                                                                                                                                       In den 1960er-Jahren ist ein unzensiertes Sondieren der ostdeutschen Kunstlandschaft für westdeutsche Journalisten und Kritiker kaum möglich. Was die offiziellen Instanzen und Verbandsausstellungen propagieren, bekundet häufig die erzwungene Anpassung der Kunst an das kollektive Leben im Sinne des Bitterfelder Weges, wofür die Karriere und das Werk des Leipziger Malers Heinrich Witz ein signifikantes Beispiel bieten. Mitte der 1960er Jahre zeichnet sich, erkennbar auf der 7. Bezirkskunstausstellung in Leipzig, eine allmähliche Wende zu individuellen Ausdrucksformen und einem kritischen Realismus ab, die aber deutlich später als die Literatur aus der DDR im Westen Beachtung findet. 1972 kann die VII. Kunstausstellung der DDR in Dresden bei westdeutschen Kunstpublizisten ein vorsichtiges Interesse wecken, nachdem Willy Brandt 1969/70 erste Schritte einer deutsch-deutschen Entspannungspolitik eingeleitet hatte. In den Exponaten der Dresdner Ausstellung zeichnet sich vor allem bei den Werken der „Leipziger Schule“ eine Abkehr von plakativen Stilklischees ab, und ein Sondieren neuer Stiltendenzen innerhalb der Figuration wird sichtbar, die auf Vorbilder der Tradition wie Leger, Beckmann und Corinth zurückgreifen.

In der Bundesrepublik ist der Zeit-Journalist Peter Sager 1973 einer der ersten, der diesem gewandelten Realismus aus der DDR in seinem Buch >Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Illusion und Wirklichkeit< 1973 nachgeht. Mit der documenta 5 (1972) ist  der amerikanische und europäische Fotorealismus schlagartig in den Fokus der Kunstavantgarde getreten. Sager verbindet seine Darstellung zu diesen Abbildern einer kapitalistischen Konsumkultur mit einer Reflexion über die Frage, wie weit Realismus politisch sein kann, ohne zur agitatorischen Propaganda zu verflachen. Seine Beispiele entnimmt er nicht nur einem gesellschaftskritischen Realismus aus Frankreich, Italien und der Bundesrepublik, sondern thematisiert auch Gemälde von Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Willi Sitte, Heinz Zander und Gerhard Kurt Müller. Damit korrigiert und erweitert er das Bild vom Sozialistischen Realismus aus der DDR durch den Nachweis individueller stilistischer Handschriften.

1975 wagt Uwe M. Schneede die Organisation einer Einzelausstellung mit Werken Willi Sittes im Hamburger Kunstverein. Zehn Jahre zuvor hatte der Marxist Richard Hiepe in seiner kleinen Neuen Münchner Galerie bereits eine erste Ausstellung mit Gemälden und Zeichnungen Sittes „anlässlich des 20. Jahrstages der Zerschlagung des Hitlerfaschismus“ gezeigt und dazu in der von ihm herausgegebenen DKP-verbundenen Zeitschrift tendenzen ein umfangreiches Sonderheft über >Künstler in der DDR< publiziert. Der Katalog zu dieser Münchner Sitte-Ausstellung enthielt einen 1964 verfassten essayistischen Text von Christa und Gerhard Wolf mit dem Titel >Sittes Atelier<, der immerhin die Süddeutsche Zeitung (vom 4. Juni 1965) zu einer Rezension der Ausstellung veranlasste. Die Aktivitäten der Hiepe-Galerie und der 1960 von einer Projektgruppe der KP gegründeten Zeitschrift tendenzen wurden – wie der stellvertretende Leiter des Staatlichen Kunsthandels der DDR, Rüdiger Küttner, in einem Gespräch mit Andreas Karl Öhler am 19.1.1998 ausgeführt hat – von der Kulturadministration der DDR zwar jahrelang finanziell unterstützt, in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wurde aber die politisch-ideologische Wirkung als wenig effektiv eingeschätzt.10

Um so höher wird in der DDR der Stellenwert der Sitte-Ausstellung im renommierten Hamburger Kunstverein veranschlagt, zumal man auch für diese Ausstellung eine Kooperation mit der DKP durchsetzen kann, was in den Kommentaren der Westpresse heftige Diskussionen bis hin zur strikten Ablehnung solcher Zusammenarbeit auslöst. Unisono nimmt man die Malerei Sittes als Modell einer mit der SED-Politik konformen Kunst wahr. Auch bei einer weiteren Einzelausstellung von Wolfgang Mattheuer im Hamburger Kunstverein (1977) überschattet der erneute Kooperationszwang mit der DKP die vorurteilsfreie Rezeption durch die Presse. Nur wenige Kritiker – allen voran der FAZ-Redakteur Eduard Beaucamp – konzentrieren sich auf Stil und Themen der ausgestellten Werke, bei den meisten Kritikern überlagern politische Argumente die Werkwahrnehmung und -deutung. Bei Sittes Ausstellung wird die kulturpolitische Position des Künstlers als Präsident des Verbandes Bildender Künstler, der seit 1976 auch der Kulturkommission beim Politbüro der SED angehört, besonders apostrophiert. Daraus entwickelt sich – durchaus plausibel – das Etikett des „Staatskünstlers“. Diese Sichtweise wird in den folgenden Ausstellungen – undifferenziert – auf alle vom Staatlichen Kunsthandel der DDR vertretenen und an westdeutsche Kunstinstitutionen vermittelten Künstler generalisierend ausgedehnt.

Nur selten wird es auf informellen Wegen möglich, Ausstellungen von Außenseitern aus der DDR zu realisieren. Nachdem Wilhelm Rudolph, der Chronist der Zerstörung Dresdens, bereits 1965 im Stuttgarter Gewerkschaftshaus seine subtilen Grafiken und Zeichnungen präsentieren konnte, gelingt Jürgen Harten Ende 1975/76  in der Kunsthalle Düsseldorf eine Einzelschau mit Werken von Wilhelm Rudolph – in einer Phase des deutsch-deutschen politischen Goodwill. Vorsichtig konstatiert er im Katalog: „Es steht uns nicht zu, die Bedeutung Rudolphs für die Kunst der Deutschen Demokratischen Republik zu beurteilen. (…) Für eine eingehende kunsthistorische Erörterung seines Werkes fehlen uns die Voraussetzungen. (…) Wir haben uns deswegen, statt einer Einführung, mit einem Gespräch begnügen müssen, zu dem Gotthard Graubner, ein ehemaliger Schüler Rudolphs, wesentlich beigetragen hat.“11

V                                                                                                                                                                                                           Die Zwangausbürgerung von Wolf Biermann stört die ersten vorsichtigen Anzeichen einer kulturellen Annäherung nachhaltig. Nur wenige bildende Künstler, darunter Fritz Cremer als Erstunterzeichner einer von 12 namhaften Autoren verfassten Protesterklärung, sind unter den Künstlern, die sich gegen diese rigorose politische Maßnahme wenden (Charlotte Pauly, Peter Herrmann, Peter Graf, Horst Sagert, Lothar Reher, Nuria Quevedo, Christa Sammler und Bernd Wilde). Der kranke Fritz Cremer zieht seine Unterschrift unter dem Druck der Parteifunktionäre sogar wieder zurück. Dadurch werden Skepsis und Misstrauen gegenüber bildenden Künstlern aus der DDR erneut bestärkt. Auf der documenta 6(1977) entlädt sich das Ressentiment der westdeutschen Presse gegen das Staatskünstlertum. Die in Kassel als offizielle Premiere der DDR-Kunst vor internationalem Publikum geplante Präsentation von vier Malern (Heisig, Mattheuer, Sitte und Tübke) und zwei Bildhauern (Fritz Cremer und Jo Jastram) wird zum Stein des kulturpolitischen Anstoßes. Baselitz und Lüpertz legen Protest ein gegen die Entfernung von Pencks (im Katalog noch abgebildetem, aus der Sammlung Ludwig stammendem) Gemälde aus den Rauminszenierungen des Fridericianums. Lediglich in der Abteilung >Zeichnungen< ist Penck mit zwei kleinformatigen Arbeiten vertreten.12 Den documenta-Organisatoren, die der Ausgrenzung Pencks nachgegeben und die Auswahl der Künstler aus der DDR sowie der von ihnen gezeigten Werke den Kulturfunktionären aus der DDR überlassen haben, wirft man die Preisgabe der im Grundgesetz verankerten Unabhängigkeit der Kultur vor. Mit diesem berechtigten Vorwurf gegenüber den Organisatoren der d 6 wird zugleich die von Haftmann formulierte These reaktiviert, dass unter politischer Vormundschaft einer Diktatur, wie sie in der DDR herrsche, nur unfreie Kunst entstehen könne, die den Namen >Kunst< nicht verdiene.

Die Polarisierung der Ostpolitik in Befürworter und Gegner einer Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten überträgt sich auf die Beurteilung von Kunst aus der DDR, deren Vermittlung im Wesentlichen durch kulturpolitische Instanzen in beiden Staaten gemanagt wird. Motiviert durch die seit 1970 betriebene Entspannungspolitik und die von Erich Honecker seit dem VIII. Parteitag verkündete Parole von der „Breite und Vielfalt der persönlichen Handschriften“ in der Kunst erscheint 1977 im Umfeld der d 6 im Anabas-Verlag die von Hubertus Gassner und Eckhart Gillen herausgegebene Publikation >Kultur und Kunst in der DDR seit 1970<. Ihr Ziel ist es, einen Überblick zu den neuen Ansätzen in Theorie und Praxis des künstlerischen Schaffens in der DDR zu vermitteln. Zu den Autoren gehört mit Ullrich Kuhirt ein Kunstwissenschaftler, der als Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED die offizielle Lesart der von der SED gewünschten Kunstpolitik vertritt. Obwohl die Herausgeber Kuhirts Mitautorenschaft mit dem Argument kontroverser Diskussion begründen, stößt das Buch zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Gefolge der d 6-Kontroverse und der Biermann- Zwangsausbürgerung auf deutliche Vorbehalte.

Inzwischen ist offenkundig, dass die Signale der SED-Kulturpolitik keine Liberalisierung in den Künsten ankündigten, sondern die Künstler  nach dem Ende der Ulbricht-Ära lediglich motivieren und ermutigen sollten, sich an die Seite der neuen Parteiführung zu stellen. Wo Künstler wie Penck oder Roger Loewig in ihren Werken den eng gezogenen politischen Toleranzbereich der SED überschreiten, wird ihre Dissidenz mit massiven Restriktionen geahndet. Wie die SED in den Jahren 1945 bis 1965 die Unterdrückung unliebsamer Künstler betrieben hatte, ist das Thema des ebenfalls 1977 erscheinenden Buches von Edda und Sieghard Pohl >Die ungehorsamen Maler<. Doch so gering das westdeutsche Interesse an der offiziell geförderten Kunst aus der DDR bleibt, so wenig Resonanz findet auch das kritische Bildpotenzial der ungehorsamen Maler, die unter dem Zwang der kulturpolitischen Verhältnisse  im Anschluss an die d 6  aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind. Eine Ausnahme stellt allein Penck dar, der durch seine Einbindung in den westdeutschen Kunstmarkt seit 1968 einen besonderen Stellenwert als autonomer dissidenter Künstler aus der DDR erhält und 1980 in die Bundesrepublik ausreist.

Als der Exportverlag Edition Leipzig 1977 einen westdeutschen Verlagspartner für die Buchpublikation des Kunstwissenschaftlers Lothar Lang >Malerei und Graphik in der DDR< sucht, muss er feststellen, dass die Ausgrenzung von Pencks systemkritischem Denken in dessen >Standart<-Bildern zum unüberwindlichen Hindernis einer deutsch-deutschen Kooperation wird. Da alle bundesdeutschen Kunstbuchverlage eine Lizenzproduktion ablehnen, kann das Werk nur als kleine Auflage in einem Schweizer Verlag (Bucher) erscheinen. Die von Seiten der DDR intendierte publizistische Etablierung einer von ihr sanktionierten Sicht auf die Entwicklung und das Erscheinungsbild von Kunst aus der DDR gelingt somit allenfalls in einem stark eingeschränkten Umfang. In der westdeutschen Vorstellung von Kunst aus der DDR bleiben weiterhin die kraftstrotzenden Werktätigen von Willi Sitte als sozialistische Ikonen verankert, während die Phalanx der aus der DDR weggegangenen Künstler wie Baselitz, Uecker und Richter zu Symbolfiguren der Befreiung von politischer Unterdrückung avanciert.

Mein eigener Versuch, 1980 einen Überblick über die Malerei und Grafik in der DDR aus einer beschränkt informierten, unbefangenen westdeutschen Sicht zu vermitteln, der auf zahlreiche Informationsreisen in die DDR seit Anfang der 1970er-Jahre zurückgeht, wird zumal von den ostdeutschen Künstlern aufmerksam registriert, worauf häufige Erwähnungen in den Katalogbiografien der VIII. Kunstausstellung der DDR hindeuten – ohne dass es verständlicherweise offizielle Reaktionen oder Rezensionen in der DDR gegeben hätte.  Dem darauf zurückgehenden Kontakt mit Klaus Werner verdanke ich die Erkenntnis meines beschränkten Blicks, dem zwar nicht die prominenten Avantgardisten aus der DDR wie Glöckner, Altenbourg, Claus und Penck entgangen waren, wohl aber viele begabte jüngere Künstler, die sich in der anwachsenden inoffiziellen Cross-Culture der DDR eingerichtet hatten. Sie zu entdecken, sollte den 1980er-Jahren und mir selbst in meinem 1985 erschienenen Buch >Zweimal deutsche Kunst<  vorbehalten bleiben, und daran hatten Klaus Werner, Gabriele Muschter und Christoph Tannert, später auch Judy Lybke einen wesentlichen Anteil.

VI                                                                                                                                                                                                     Am Ende der 1970er-Jahre werden die beiden letzten Ausstellungen mit Kunst aus der DDR über den Kontakt mit politischen Organisationen ausgerichtet und vom Zentrum für Kunstausstellungen der DDR organisiert. In einer durch die DKP vermittelten Ausstellung präsentiert Katrin Sello im Kunstverein Hannover vom 2. Dezember 1979 bis 3. Februar 1980 Kunst aus dem Bezirk Halle, von Albert Ebert über Uwe Pfeifer bis zu Willi Sitte, in die das Werk von Karl Völker aus den 1920er-Jahren als Traditionshintergrund integriert ist.13 Die ein halbes Jahr später gezeigte Ausstellung Mensch und Umwelt – Malerei Grafik Plastik aus der DDR im Künstlerhaus Bethanien (Mai bis Juli 1980) wird zum Politikum eigener Art. Weil nach Lesart der DDR Westberlin eine „selbständige politische Einheit“ bildet, wird nicht die DKP zum politischen Partner, sondern über die Zusammenarbeit mit der Majakowski-Galerie die „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Westberlin“. In der Ausstellung, für deren Katalog Ullrich Kuhirt einen längeren Einleitungstext verfasst hat, sind vor allem Künstler der jüngeren Generationen vertreten: u. a. Manfred Butzmann, Sighard Gille, Michael Morgner, Wolfgang Peuker, Uwe Pfeifer, Arno Rink, Volker Stelzmann, Claus Weidensdorfer.

Mit der Verkaufsausstellung Künstler aus der DDR, die am 5. April 1981 mit Unterstützung des Industriellen Georg Schäfer von den Galerien Brusberg (Hannover) und Meyer-Ellinger (Frankfurt) in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Kunsthandel der DDR in der Jahrhunderthalle Hoechst veranstaltet wird, erfolgt die Wende von der vorrangig politischen zu einer dominant ökonomischen Zwecksetzung bei der Präsentation von Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik. Diese Neuorientierung wird dadurch nachhaltig unterstrichen, dass der Staatliche Kunsthandel nur zwei Monate später erstmals an der internationalen Kunstmesse ART Basel teilnimmt.

1982 versucht die mit großem Presseaufwand angekündigte und von der Kunstzeitschrift art  mit einem opulenten Katalog spektakulär inszenierte Ausstellung Zeitvergleich eingefahrene Wahrnehmungsklischees zu durchbrechen. Am 20. November eröffnet der Hamburger Kunstverein die Schau, die als „Verkaufsausstellung des Staatlichen Kunsthandels der DDR in Zusammenarbeit mit der Galerie Brusberg, Hannover“ annonciert wird. Sie zeigt Werke von 13 Malern, neben den d 6-Teilnehmern auch Altenbourg, Claus, Hartwig Ebersbach, Sighard Gille, Gerhard Kettner, Gregor Thorsten Kozik, Walter Libuda, Volker Stelzmann und Hans Vent, die Dieter Brusberg, Axel Hecht und Uwe Schneede ausgewählt haben, und macht anschließend in Stuttgart, Düsseldorf, München, Nürnberg und Hannover Station.

Eine Exponatenauswahl von durchweg hoher Qualität, die Beteiligung unangepasster Künstler und die von westdeutschen Autoren verfassten Künstlerporträts bringen eine neue Perspektive in die Präsentation von ostdeutscher Kunst auf westdeutschem Boden. Doch das als provokant empfundene Katalog-Vorwort  von Günter Grass, in dem er die Künstler in Deutschland als „Mauerspringer aus Passion“ und den kraftvollen Realismus in der ostdeutschen Kunst würdigt, lenkt die Aufmerksamkeit verstärkt auf die politischen Implikationen der Ausstellung. An Mauersprüngen, also an Begegnungen der Künstler, ist den Kulturinstanzen der DDR allerdings wenig gelegen, sie fürchten die Folgen eines künstlerischen Gedankenaustauschs. Ostdeutsche Künstler, die nicht zu den Teilnehmern gehören, können die Ausstellung nicht besuchen, und unter westdeutschen Künstlern findet sie wenig Widerhall.

Nur der in den USA lebende, sich mit politisch-konzeptioneller Kunst profilierende Hans Haacke reagiert 1984 auf die Zeitvergleich-Wanderausstellung mit der parodistischen Installation >Weite und Vielfalt der Brigade Ludwig<. Haacke ironisiert mit dieser Installation nicht nur die modernistische Handschrift, mit der ein Staatskünstler wie Walter Womacka auf westdeutschem Boden in Erscheinung tritt. Er entlarvt auch das Gemisch unterschiedlicher Interessen von Politik, Kunsthandel und Industrie, das sich hinter den nun vermehrt in Szene gesetzten Ausstellungen mit Kunst aus der DDR und den Sammlungsaktivitäten des Industriellen Peter Ludwig verbirgt. Ludwig, der seine Schokoladenexporte in die DDR mit Kunst kompensieren lässt, avanciert in kurzer Zeit zum Sammler umfangreicher Werkkonvolute von Kunst aus der DDR. Deren Nobilitierung durch eine Dauerpräsentation, Seite an Seite mit Werken westdeutscher Künstler, die Peter Ludwig am wichtigsten Standort seiner Sammlungsaktivitäten, dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum, angestrebt hat, ist ihm – vor allem wegen der hartnäckigen Weigerung des damaligen Museumsdirektors Siegfried Gohr – nicht gelungen. Auch die Kataloge zu seinen Beständen von Kunst aus der DDR, 1979 von der Neuen Galerie Aachen von der Ausstellung Kunst heute in der Deutschen Demokratischen Republik begleitet  und 1984 mit der Schau Durchblick im 1983 gegründeten Ludwig Institut für Kunst aus der DDR in Oberhausen verbunden, bleiben in weiten Kreisen der westdeutschen Kunstkritik mit dem Hautgout politisch-wirtschaftlicher Interessenüberlagerung behaftet. Besondere Kritik löst die Ausblendung Pencks aus eigenen Ausstellungsaktivitäten aus, die Ludwig mit der unzutreffenden Behauptung begründet, Penck habe sich einer Mitgliedschaft im Künstlerverband der DDR verweigert.

VII                                                                                                                                                                                                    Dass sich ab 1980 erweiterte Möglichkeiten für Ausstellungsprojekte mit Kunst aus der DDR abzeichnen, zeigen eine von Christoph Brockhaus im Dezember 1980 realisierte Ausstellung mit 50 Plastiken und 180 Zeichnungen von Fritz Cremer im Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg sowie Aktivitäten des Neuen Berliner Kunstvereins im Jahr 1982. Dort wird im April eine Ausstellung mit Werken von Hermann Glöckner eröffnet, im Dezember folgt eine Werkschau zu Dieter Tucholke. Der Oldenburger Kunstverein rückt die Kunst aus der DDR in den Kontext Aktuelle Kunst aus Osteuropa und präsentiert im September 1982 u. a. Werke von Erhard Monden, Michael Morgner und Robert Rehfeldt, die per Brief regen Gedankenaustausch mit west- und osteuropäischen Künstlerkollegen pflegen.

Eine interessante Entwicklung zeichnet sich 1985 ab, als zwei Ausstellungen vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Rückblicke auf die Entwicklung der Kunst in Deutschland vornehmen. Die vom Pharmaunternehmen Boehringer initiierte und finanzierte Ausstellung 100 Jahre Kunst in Deutschland 1885 – 1985, die vom 28. April bis 30. Juni 1985 in Ingelheim gezeigt wird, präsentiert unter der Rubrik „Künstler aus der DDR“ Werke von Altenbourg, Heisig und Tübke. Im Kontrast zu dieser gesamtdeutschen Sicht enthält die ein dreiviertel Jahr später eröffnete Schau der Stuttgarter Staatsgalerie Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1905 – 1985 (8. Februar bis 27. April 1986) für die Zeit nach 1945 ausschließlich Werke von Künstlern, die in der Bundesrepublik leben.

1985 ist es Gosbert Adler und Wilmar Koenig im Rahmen der Westberliner „Freunde der Werkstatt für Fotografie“ in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Kunsthandel der DDR gelungen, eine Ausstellung mit Katalog >DDR Foto< zu realisieren, die wichtige Fotografen der jungen Generation wie Christian Borchert, Thomas Florschuetz, Gundula Schulze, Rudolf Schäfer und Ulrich Wüst vorstellt. Drei Jahre später widmet sich die Zeitschrift Niemandsland unter dem Titel „Angehaltene Zeit“ ausführlich neuen Tendenzen in der Fotografie der DDR.

Einen publizistischen Sonderfall stellt der Katalog >Tiefe Blicke< dar, der zur Präsentation eines neuen Sammlungsbestandes im Hessischen Landesmuseum Darmstadt mit „Kunst der achtziger Jahre aus der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Österreich und der Schweiz“ 1985 im Kölner DuMont Buchverlag erscheint. Im Vorwort bemerkt der Direktor des Museums Johann-Karl Schmidt: „Zum ersten Mal in einem Museum der Bundesrepublik ist auch die junge Kunst der DDR zu sehen, und zwar nicht jene kunstpolitisch gebilligten Werke des gewöhnlichen Kulturaustausches, sondern Bilder, die ungeachtet aller Schwierigkeiten entstehen.“ Es sind nur wenige Beispiele, Reinhard Sandner aus Dresden, Wolfram Adalbert Scheffler aus Ostberlin und die von Hartwig Ebersbach betreute Leipziger experimentelle Künstlergruppe 37,2, die neben den kurz zuvor nach Westberlin übergesiedelten Malern Ralf Kerbach und Cornelia Schleime vorgestellt werden, doch eröffnet diese publizistische Konzeption einen erweiterten Wahrnehmungshorizont auf Kunst aus der DDR. Dies unterstreichen zwei Katalogbeiträge von Eckhart Gillen und – eine pikante Fußnote – von Sascha Anderson, der im Erscheinungsjahr des Katalogs noch in Ostberlin lebt. Sein Text enthält eine erstaunliche Polemik gegen drei „Staatsmaler“:

„HERR SITTE LÄSST FICKEN
HERR TÜBKE DELABORIERT
HERR HEISIG FLAGGT FAUSTKEILE
DER HALBMAST IST SCHON KONSTRUIERT.“14

Diese provokanten Verse ihres IM dürfte die Stasi vor deren Übermittlung an den Verlag wohl nicht gekannt und gebilligt haben.

VIII                                                                                                                                                                                                  Erst am 6. Mai 1986 gelingt es, ein bereits im Grundlagenvertrag von 1972 als eine Folgevereinbarung anvisiertes Kulturabkommen zwischen den beiden deutschen Staaten zu schließen, das jedoch von Skeptikern eher als kontrollierte Kanalisierung des künftigen Kulturaustausches empfunden wird, wie vor allem Günter Grass kritisch angemerkt hat. Immerhin ist im Umfeld des Kulturabkommens eine gewisse Belebung von Ausstellungsaktivitäten unverkennbar.

Seit Mitte der 1980er-Jahre finden verschiedene Projekte im Rahmen des deutsch-deutschen Kulturaustausches statt, von denen hier die von Salamander gesponserte Esslinger Exposition Kunst der DDR in den achtziger Jahren (17. Mai bis 19. Juni 1986) sowie die vom Land Nordrhein-Westfalen initiierte Ausstellung Menschenbilder hervorgehoben werden sollen. Letztere wurde am 12. November 1986 von Johannes Rau in der Bonner Landesvertretung eröffnet und gastierte anschließend in Münster und Saarbrücken. Im Gegenzug konnte übrigens gegen den Widerstand von Willi Sitte mit Unterstützung der Akademie der Künste und des stellvertretenden Kulturministers Dietmar Keller eine in der DDR viel beachtete Ausstellung mit frühen Zeichnungen von Beuys im Ostberliner Marstall und in der Galerie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (Jan.- April 1988) gezeigt werden.

Eine direkte Folge des Kulturabkommens ist die im September 1987 eröffnete Ausstellung Bildhauerkunst aus der DDR im Rheinischen Landesmuseum Bonn, die in einem umfassenden Überblick 50 Bildhauer aus der DDR vorstellt und anschließend in München und Mannheim zu sehen ist. Dass es sich hierbei auch um ein Politikum handelt, macht das Vorwort von Wolfgang Schäuble, seinerzeit Chef des Bundeskanzleramtes, deutlich. Sie folgt der Ende Oktober 1986 bis Januar 1987 im Ostberliner Alten Museum und in Dresden präsentierten Schau Positionen, die erstmals elf der wichtigsten Künstler aus der Bundesrepublik in der DDR bekannt gemacht hat.15

Solche kulturellen Kooperationsprojekte rufen gleichzeitig das Bemühen der DDR-Politik hervor, die politische Abgrenzung zu betonen. Zu dieser Abgrenzung gehört das Konzept der „sozialistischen Nationalkultur“ ebenso wie die Konstruktion einer sozialistischen Nationalgeschichte mit eigenen Traditionen. Als ich 1985 mit meiner Publikation >Zweimal deutsche Kunst<, die den Untertitel „40 Jahre Nähe und Ferne“ trägt, hinter der Realität zweier Staatsgründungen auch nach einem gemeinsamen Traditionsfundus suchte, der sich in der Kunst und Kultur der beiden Teilstaaten auf deutschem Boden wiederfindet, und außerdem eine Reihe unangepasster Künstler vorstellte, erregte ich den Unmut der Kulturinstanzen in der DDR.

Auch bei der zweiten Zeitvergleich-Unternehmung (die am 10. September 1988 durch den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und Dietmar Keller als Festspiel-Ausstellung prominent eröffnet wird) zeigt sich die kulturpolitische Brisanz gesamtdeutscher Kunstprojekte. Die DDR verhindert, dass Beiträge zum Katalog von Henry Schumann, Christoph Tannert, Klaus Werner und Diether Schmidt in Auftrag gegeben werden können. Die ursprünglich für den Katalog vorgesehene, von Günter Feist unter Mitarbeit von Eckhart Gillen verfasste Chronik zur Kunst und Kunstpolitik der DDR muss auf Druck der DDR entfallen und erscheint unter dem Titel >Stationen eines Weges< schließlich als eigenständige Publikation des Museumspädagogischen Dienstes Berlin.

Doch die Steuerungsversuche, die die SED für Präsentationen mit Kunst aus der DDR in den 1980er-Jahren unternimmt, werden  zunehmend von Kräften unterlaufen, die sich in den Zirkeln einer nonkonformistischen Kunst zusammenfinden. Mit ausgereisten oder ausgewiesenen Freunden vernetzt, schaffen sich die aus dem Staatsauftrag ausgestiegenen Künstler eigene Kommunikationswege, die auch die Grenze überwinden. Dazu gehören  intermediäre handgefertigte Künstlerbücher, aber seit Ende 1987 auch die Westberliner Zeitschrift Niemandsland, an der Autoren aus dem Osten und Westen gleichermaßen beteiligt sind.

Allerdings sind in den Werkpräsentationen ostdeutscher Kunst, die westdeutsche Wirtschaftsunternehmen wie Hoechst, Salamander und einzelne Landesregierungen, vor allem Nordrhein-Westfalen, in den achtziger Jahren organisieren, stets die Favoriten des Staatlichen Kunsthandels der DDR vertreten, wobei Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus als Vertragspartner der Galerie Brusberg wichtige, ökonomisch begründete Ausnahmen darstellen. Nur selten ergreifen die Ausrichter solcher Veranstaltungen Initiativen, die Künstlerbeteiligung nach eigenen Vorstellungen durchgreifend zu beeinflussen.

IX                                                                                                                                                                                                    Das Verdikt, dass der deutsch-deutsche Kunstdialog von der Politik instrumentalisiert worden sei, findet sich in der Westpresse vor und nach dem Ende der DDR. Werner Hofmann hat nicht übertrieben, wenn er noch 2003 bilanziert, dass die Kunst aus der DDR für den Westen ein Ärgernis geblieben ist. Sie blieb es nicht zuletzt auch deshalb, weil eine vorurteilsfreie, werkbezogene Rezeption von Kunst aus der DDR nur in Einzelfällen stattgefunden hat. Als Folge des Kalten Krieges konnte sich in der alten Bundesrepublik eine generelle Negativeinschätzung von Kunst aus der DDR festsetzen. Im Juni 1990 gipfelte sie in dem viel zitierten Interview, das Georg Baselitz der Zeitschrift art gegeben hat. Den Kollegen aus dem anderen Deutschland warf Baselitz seinerzeit „ohne Ausnahme“ vor, stets Propagandisten des Systems gewesen zu sein, womit sie „die Phantasie, die Liebe, die Verrücktheit verraten“ hätten. Alle Künstler von Relevanz seien frühzeitig weggegangen, die Verbliebenen hätten an Rekonstruktionen gearbeitet, aber nichts erfunden.16 In solchen Äußerungen reproduziert sich das Überlegenheitsgefühl, das von der Politik mit der als >Weltsprache der Freiheit< apostrophierten Abstraktion seit den frühen 1950er-Jahren gegen den Sozialistischen Realismus in Abwehrposition gebracht worden ist.

Es war ein konfliktreicher Prozess, eingeleitet durch einen Literatur- und Bilderstreit, in dem die Abwertung der Kunst und Literatur aus der DDR auch nach der deutschen Vereinigung zunächst fortgesetzt wurde17, bevor die Ausstellung Deutschlandbilder 1997 einen ersten ermutigenden Versuch unternommen hat, die deutsche Kunst nach 1945 in einem gesamtdeutschen Horizont wahrzunehmen. Doch erst die von amerikanischen und deutschen Kunsthistorikern zuerst in Los Angeles, seit dem 28. Mai in Nürnberg und ab 3. Oktober in Berlin präsentierte Ausstellung Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945 –8918 lässt auf einen Durchbruch hoffen, der endlich einen westdeutschen Kulturimperialismus überwinden könnte. Bis jetzt haben wir mit dem politischen Paradox gelebt, dass es die Bundesrepublik war, die bis 1989 zwar die Einheit der deutschen Kultur als die Klammer für die Einheit der Nation beschwor, diese aber, als das Ziel, die deutsche Vereinigung erreicht war, allzu schnell wieder vergessen hat.

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1 In: Ausst.-Kat. Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie, hrsg. von Eugen Blume und Roland März,  Berlin 2003, S. 33. Auf Hofmann selbst trifft diese kritische Beobachtung allerdings nicht zu. Er war einer der ersten Museumsdirektoren in der Bundesrepublik, die auch Werke von Künstlern aus der DDR für die Hamburger Kunsthalle angekauft haben.

2 Das Beratergremium (bestehend aus Kuratorium und Beirat) ist erstmals am 23. Oktober 2008 im Springer-Hochhaus zusammengetreten. Das Protokoll ist in Auszügen auf S. 16 – 23 wiedergegeben. Das Zitat von Walter Smerling findet sich auf S. 19.

3 Deutsche Übersetzung >Ist moderne Kunst kommunistisch?<, in: Charles Harrison und Paul Wood (Hrsg.), Kunstheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie. Manifeste, Statements, Interviews, Bd. II: 1940 – 1991, Ostfildern-Ruit 1998, S. 810ff.

4 In: Ausst.-Kat. documenta 1955, München 1955, Einleitung von Werner Haftmann, S.22.

5 Ausst.-Kat. II. documenta, Malerei, Köln 1959, Einführung von Werner Haftmann, S. 15.In den Abteilungen >Gemälde< und >Skulptur< der d2 war kein Künstler aus der DDR vertreten. Lediglich in der Abteilung >Druckgrafik< befanden sich zwei Zeichnungen von Gerhard Altenbourg aus einem Mappenwerk, das der  Westberliner Galerist Rudolf Springer herausgegeben hatte. Schon 1952 organisierte Springer im Westberliner Maison de France eine erste Einzelausstellung für Altenbourg.

6 Dietrich Mahlow hatte schon 1963 auch in der von ihm konzipierten, gemeinsam mit dem Amsterdamer Stedelijk Museum realisierten Ausstellung Schrift und Bild, die ab Juni in der Kunsthalle Baden-Baden gezeigt wurde, Werke von Carlfriedrich Claus einbezogen.

7 Will Grohmann (Hrsg.): Kunst unserer Zeit – Malerei und Plastik, Köln 1966, S. 257.

8 Ebd., S. 253.

9 Auf die Galerien, die sich für Kunst aus der DDR engagiert haben, kann hier nicht näher eingegangen werden. Eine der wichtigsten Initiativen: Michael Werner zeigt Ende 1968 in der Kölner Galerie Hake die erste Einzelausstellung von Ralf Winkler unter dem Titel deutsche avantgarde 3 a.r.penck, bilder. Seit den 1970er-Jahren erweitern sich diese Galerieaktivitäten zunehmend. Beispielhaft seien hier nur noch die Galerien Hertz (Bremen), Döbele (Ravensburg) und Tim Gierig (Frankfurt) erwähnt.

10 Andreas Karl Öhler, Vom Kalten Krieg zum warmen Händedruck, in: Hannelore Offner und Klaus Schroeder (Hrsg.), Entgrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961 – 1989, Berlin 2000, S. 466.

11 Ausst.-Kat.  Wilhelm Rudolph, Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Holzschnitte, Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1975, S. 5.

12 Außerhalb der von Lothar Lang verantworteten Auswahl der sechs politisch sanktionierten Künstler aus der DDR, die in einer geschlossenen Rauminszenierung gezeigt werden, ist neben Penck auch Gerhard Altenbourg – wie schon 1959 – in der Abteilung >Zeichnung< der d 6 vertreten.

13 Im November 1979 eröffnet die mit dem gleichnamigen Verlag verbundene Elefanten Press Galerie in Westberlin eine Ausstellung >DDR-Kunst heute<, die in einer größeren Überblicksschau neben Heisig, Sitte, Tübke und den Altmeistern Niemeyer-Holstein, Mohr, Kettner und Rudolph auch Harald Metzkes, Nuria Quevedo und Volker Stelzmann sowie die Plastiker Fritz Cremer, Jo Jastram und Werner Stötzer vorstellt.

14 Zitate in: Tiefe Blicke, Köln 1985, S. 13 (Schmidt) und S. 328 (Anderson). Im folgenden Jahr (Juni 1986) zeigt das Westberliner Haus am Waldsee eine Ausstellung von fünf jungen Künstlern, von denen drei in Dresden und Ostberlin leben und zwei wenige Jahre zuvor in den Westen übergesiedelt sind: Der von Thomas Kempas inszenierte >Malstrom< umfasst Bilder von Ralf Kerbach, Helge Leiberg, Cornelia Schleime, Reinhard Sandner und Skulpturen von Hans Scheib.

15 „Projektleiter“ Lothar Romain hatte Antes, Girke, Graubner, Kiefer, Klapheck, Nay, Polke, Richter, Schumacher und Uecker ausgewählt. Für die DDR-Seite ist dem Katalog ein Vorwort von Kurt Nier, Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, beigegeben. Auch in dieser protokollarischen Differenz zur Bonner Bildhauerkunst-Ausstellung zeigt sich der Gegensatz beider Staaten in der nationalen Frage.

16 „Ein Meister, der Talent verschmäht“. Interview von Axel Hecht  und Alfred Welti mit Georg Baselitz, in: art 6 (1990), S. 70. In diesem Zusammenhang soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass der westdeutsche Malerfürst Markus Lüpertz seine noch 1990 kategorisch formulierten Verdikte gegenüber ostdeutschen Kollegen revidiert und sich als Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie 2005 an einer Festschrift für Bernhard Heisig zum Achtzigsten (im Leipziger Verlag Faber&Faber) mit einem Gedicht beteiligt hat. Darin finden sich folgende Zeilen: „So schufen die Maler hinter der Mauer/eine große Trotzdem-Bildwelt/die man lesen können musste/Bernhard Heisig ist ein Gigant/ dieser vergangenen Bretterwelt gewesen.“

17 Siehe dazu Rüdiger Thomas: Wie sich die Bilder gleichen. Ein Rückblick auf den deutsch-deutschen Literatur- und Bilderstreit, in: DA 5 (2007), S. 872ff.

18 Siehe den vorzüglichen Ausst.-Kat. Stephanie Barron und Sabine Eckmann(Hrsg.): Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89, Köln 2009. Die Ausstellung wurde gemeinsam von Stephanie Barron und Eckhart Gillen kuratiert.

In: Deutschland Archiv, 42. Jg., H.4, 2009, S. 684-695.

© Karin Thomas

Ernst Brücher und die Neue Musikszene – Erinnerungssplitter

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2008

Ernst Brücher und die Neue Musikszene – Erinnerungssplitter

Seit ich Ernst Brücher kennengelernt habe, gehören sein fundiertes Wissen zur Kunst, sein geradezu enzyklopädisches Bilder-Gedächtnis und seine nie versiegende Neugier auf alle Tendenzen der Avantgarde wie selbstverständlich zu seiner verlegerischen Persönlichkeit. Dass ihn aber darüber hinaus schon frühzeitig in der Nachkriegsära die Neue Musik in ihren Bann gezogen hat – diese Facette seiner Interessen wurde mir erst im Verlauf meiner langjährigen Lektoratstätigkeit in seinem Buchverlag offenkundig. Das publizistische Engagement des Kunstbuchverlegers für Mauricio Kagel und Nam June Paik, zu denen Ernst Brücher eine mäzenatische Freundschaft pflegte, war mir einleuchtend. Verbanden doch beide Künstler ihr musikalisches Experimentieren mit den performativen Aktivitäten der Fluxus-Bewegung, die in der Köln-Düsseldorfer Kunstszene seit den 1950er Jahren eine lebhafte Präsenz entfaltete. Doch den elektronisch-synthetisierten Klangschichtungen von Karlheinz Stockhausen verweigerte mein ausschließlich auf klassische Harmonien gepoltes Ohr zunächst jede Rezeptionsbereitschaft. So hat es geraume Zeit gedauert, bis ich 1994 erste Blicke in Stockhausens nun schon in mehreren Bänden bei DuMont edierte Werkdokumentation warf. Anlass dazu gab mir das Begleitheft zu der Ausstellung >Neue Musik in Köln 1945 – 1971<, das Franz-Xaver Ohnesorg 1994 zur Ersten Musik Triennale in der Kölner Philharmonie herausgegeben hatte. Eingestreut zwischen den Rückblicken längst zu internationalem Ruhm aufgestiegener Protagonisten der Neuen Musik, stieß ich auf die „Erinnerungen“ von Ernst Brücher an eine Zeit, als das von Herbert Eimert schon 1951 im WDR eingerichtete >Studio für Elektronische Musik< vielen Komponisten der Avantgarde die Realisierung ihrer Werke an den technischen Mischpulten des Senders und deren Aufzeichnung in der Sendereihe >Musik der Zeit< ermöglichte. Mit der für ihn so signifikanten Mischung aus humorvoller, auf die Anekdotenpointe fokussierter Erzählung und bescheidenem Hintanstellen der eigenen Kennerschaft blickt Ernst Brücher auf seine Erlebnisse im Konzertsaal des WDR zurück: „Es zirpte, klöppelte, schabte, zischte, piepste, murkelte und scharmützelte nur so, daß es eine reine Freude war. Na, dachte ich, das kann ja heiter werden, denn ich war ursprünglich gewohnt, zum Beispiel bei Beethovens Neunter Symphonie heimlich mitsummen zu können oder bei Wagnerschem Gebrause geistig-sinnliche Stimmungen in der Gegend des Unterleibes zu verspüren. (…) Dessen ungeachtet und trotzdem: Aus mir fast unerfindlichen Gründen lernte ich dann offenbar langsam doch, die sinnlich-heiteren Passagen von Berio, die pathetische Schönheit von Boulez, die phantasiebewegten, streng gegliederten Musikstücke von Mauricio Kagel, die sphärisch-mystischen Klänge von Stockhausen, die wunderbaren Innovationen von Nono und Ligeti, die hoch intelligente, mehrschichtige Arbeit von Paik zu verstehen und zu genießen.“

Diese Worte weckten meine Neugier auf das, was in DuMonts frühem Verlagsprogramm zum Thema Neue Musik zu entdecken war. So konnte bereits der zweite Produktionszyklus nach der Verlagsgründung mit einer Trouvaille aus dem Studio für Elektronische Musik überraschen. Dort entsteht 1957 die Schallplattenaufzeichnung Fa:m’Ahniesgwow, eine Komposition in 43 Strukturen von Hans G. Helms. Laute, Silben, Worte, Phrasen der Umgangssprache und Slangausdrücke sind derart zu Begriffskomplexen verbunden, dass sie unversehens in eine scharfe Kritik an dem medialen Sprachverschleiß durch Reklame und Propaganda umschlagen. Brücher veröffentlicht die Strukturenfolge als Buch und als Schallplatte mit Synchronisationsplan und etabliert mit dieser ersten Künstleredition die Reihe studio dumont, die fortan außergewöhnlichen Einzelpublikationen und Künstlerbüchern vorbehalten ist. 1969 veröffentlicht Dieter Schnebel in dieser Reihe unter dem Titel Mo-No Musik zum Lesen, die den Benutzer des Buches für sich allein agierend – mono – zum Ausführenden von Musik im Kopf macht. Bereits 1960 hatte Ernst Brücher in den DuMont Dokumenten, die sich zur erfolgreichsten Reihe in der Verlagsgeschichte entwickeln werden, mit dem Titel Kommentare zur Neuen Musik I eine Auswahl der ursprünglich vom WDR-Studio für Elektronische Musik unter der Regie von Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen edierten Hefte 1 bis 7 Information über serielle Musik herausgebracht. Der Sammelband würdigt zunächst mit Texten u. a. von Pierre Boulez, Herbert Eimert, Heinz-Klaus Metzger, Ernst Krenek und Arnold Schönberg die Bedeutung Anton Weberns für die elektronische Musik, während Komponisten wie John Cage, Henri Pousseur, Gottfried Michael König, Boulez und Stockhausen Einblicke in ihre Konzeptionen elektronischer Klangerzeugung geben. Noch heute ist das Buch eine profunde Quelle zur Geschichte der Neuen Musik.

Zu Brüchers Freunden aus der Szene der Neuen Musik gehörte auch John Cage. Wir finden den Amerikaner  sowohl im WDR-nahen Eiscafé des Jazz-begeisterten Gigi Campi und unter den Gästen der späteren Ehefrau Stockhausens, Mary Bauermeister, die aus ihrem Kölner Atelier einen salonartigen Treffpunkt der Rheinischen Avantgarde macht, wie auch im Hahnwald-Anwesen der Familie Brücher. Daran erinnert sich Ernst Brücher geradezu lustvoll in seinem Essay für die Broschüre der Musik Triennale 1994: „Gemeinsam mit Kind und Kegel (…) reisten wir (…) zu den seinerzeit höchst aufregenden und produktiven Musiktagen in Darmstadt. Zur selben Zeit begannen wir, zu Hause unprätentiös-vergnügt sogenannte Hauskonzerte zu veranstalten. Neben manchen der schon erwähnten kühnen Meistern der Tonkunst erschien auch John Cage, dessen musikalischer Beitrag insofern angenehme Stille und gute Konzentration verbreitete, indem er sich zwischen uns auf den Boden hockte, ein Bettlaken über den Kopf zog und einen hölzernen Kochlöffel ab und zu unten aus dem weißen Linnenberg herausschauen ließ: >Listen, that’s a beautiful and intelligent mouse…<, rief er uns aus seinem Versteck zu.“ In den Erzählungen des Komponisten gibt es eine weitere Anekdote aus dem Haus in Hahnwald, die Ernst Brücher wohl stets geleugnet hat, die aber von Teilnehmern aus dem Brücherschen Freundeskreis ihre Bestätigung fand. Danach soll Cage im Hause Brücher eine Privatvorführung seines berühmten Stückes 4’33 vorgenommen haben, ohne dass dies vom Gros der Anwesenden bemerkt worden wäre. Als der Hausherr gegen Mitternacht den Künstler fragte, wann er denn seine Komposition spielen werde, soll der verwundert geantwortet haben, sie sei bereits vor dreieinhalb Stunden vorgeführt worden. In der Tat bestand das 1952 konzipierte Stück aus den Zufallsgeräuschen eines vom Künstler ausgewählten Zeitintervalls von 4 Minuten und 33 Sekunden.

Während der weitläufige Hahnwald-Neubau der Familie Brücher einen vielzähligen Freundeskreis aufnehmen konnte, befand sich Mary Bauermeisters Atelier in einer kleinen Dachbodenwohnung in der Lintgasse. Um die Gäste ihrer geschätzten Soireen unterbringen zu können, musste Frau Bauermeister jeweils Möbel rücken und Ernst Brücher um das Anmieten von Klappstühlen bitten. Das tat er bereitwillig, wie er mir erzählte, bis der Stuhlverleih ihn darauf hinwies, dass der Fußboden im Bauermeister-Atelier den außerordentlichen Belastungen nicht gewachsen sei und dass daraus im Ernstfall ein kostspieliges Versicherungsproblem entstehen könnte.

In der langjährigen Freundschaft zu Nam June Paik spiegelt sich das außerordentliche Engagement Brüchers für die Videokunst, die schon in ihren Anfängen bei DuMont eine breite publizistische Präsenz erhielt. 1971 verfasst Paik auf Veranlassung von Ernst Brücher für meine eigene Dokumentation aktueller Ästhetik Kunst Praxis heute (erschienen 1972) einen ersten Bericht über den gemeinsam mit Shuya Abe konstruierten Videosynthesizer, der es möglich macht, dass Töne Bilder werden. Aus der „elektronischen Musik“ entwickelt Paik seine elektronische Videokunst. Als der Kölner Kunstverein 1976 die erste deutsche Retrospektivausstellung zum Werk von Paik veranstaltet, erscheint der Ausstellungskatalog mit einer detaillierten Werkchronologie des Künstlers bei DuMont. Gerd de Vries, der das Lektorat des Katalogs betreut, stellt bei der Kontrolle der Werkabbildungen mit dem Kennerblick des Musikwissenschaftlers  fest, dass die Partitur einer frühen Symphonie – anders als vorgegeben – unvollständig ist. Im Unterschied zu den Ausstellungsorganisatoren nimmt Brücher den Hinweis seines Lektors auf die Unvollständigkeit der Dokumentation ernst und macht in vielen Telefonaten Paik ausfindig, der zu dieser Zeit seinen Aufenthaltsort ständig zwischen Tokio, New York und Köln wechselt. Dankbar für die Umsicht des Lektors und die Brüchersche Vermittlung schickt Paik umgehend das fehlende Partiturstück seiner symphonisch konzipierten Komposition.

In den frühen 1970er Jahren erweist sich Brücher als Fan der Pop-Kunst und der Beatles. Nach einem seiner vielen London-Aufenthalte schenkt er seinem Freund Mauricio Kagel – wie Achim Mantscheff berichtet – eine Platte der Beatles mit dem Kommentar: „Mauro, jetzt wird es ernst, mit diesen Burschen wird die Sache anders.“ Hatte Brücher doch erkannt, dass mit den Stücken der Pilzköpfe die Grenzen zwischen den Bereichen von E- und U-Musik endgültig durchbrochen wurden. Da er die Kontinuitäten und Wandlungen von künstlerischen Konzepten stets frühzeitig wahrnahm, erkannte er die durchkomponierte Struktur in den Stücken der Beatles, die dem Musikverständnis eines Stockhausen weit näher waren als jeder gängigen Schlagerproduktion. So wundert es nicht, dass der Einfluss Stockhausens auf die Beatles in der Literatur häufig apostrophiert wird. Michael Kurtz berichtet in seiner 1988 erschienenen Stockhausen-Biografie sogar von den Plänen eines gemeinsamen Konzerts. So manchem Mitglied der avantgardistischen Rock-Szene hatten Stockhausens elektronische Klänge den Einstieg in neue Sound-Texturen gewiesen. Als John Lennon im Dezember 1980 ermordet wurde, veröffentlichte die Welt am Sonntag Stockhausens Würdigung, in der es hieß: „Lennon hat mich früher oft angerufen. Er liebte besonders meine Hymnen und den Gesang der Jünglinge und hat manches übernommen, zum Beispiel für Strawberry Fields Forever.“ So tat Ernst Brücher recht daran, als er den alten Freunden der Neuen Musik auch weiterhin editorisch die Treue hielt. Er publizierte sorgfältig erarbeitete Werkdokumentationen zu John Cage und Mauricio Kagel, Kataloge und Schriften von Paik sowie über mehrere Jahrzehnte die Schriften von Karlheinz Stockhausen in einer Werkausgabe von insgesamt sechs Bänden.

© Karin Thomas

In: Ernst Brücher. Ein Erinnerungsbuch. Köln: DuMont Buchverlag 2008, S. 120-125.

Expeditionen eines „Bilderkämpfers“

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2008

Expeditionen eines „Bilderkämpfers“

Wer immer das Berliner Atelier des 1968 im  russischen Krasnodar geborenen Malers Igor Oleinikov betritt, wird unwillkürlich von der herausfordernden Melancholie der hier versammelten großformatigen Gemälde in Bann gezogen. Weit entfernt von der modischen Attitüde, mit der hierzulande gegenwärtig eine erzählfreudige Figuration Ironie mit Nostalgie und Pop-Voyeurismus mit Obsessionen vielfältiger Herkunft zu einer bunten Zitatenmalerei verschränkt, begegnet man in den asphalttonigen Bildern Oleinikovs einer malerisch ausgereiften Sublimation von Selbstanalyse und Realitätserfahrung.

Jedes Sujet verweigert eine direkt ablesbare Bildanekdote. Der Prozess des Malens erweist sich vielmehr als ein existenzielles Geschehen, in dessen Verlauf der Künstler seine Emotionen verortet und sich selbst reflektierend zu umgreifen sucht. Je intensiver man diese von starken Hell-Dunkel-Kontrasten durchsetzten Tableaus betrachtet, um so mehr bemerkt man ihre tonale Vernetzung: Man erlebt sie als eine sehr persönliche Positionsbestimmung, wie sie nur in einer wortfernen Sprache erfolgen kann, vergleichbar den zyklischen Melodien in Schuberts Winterreise, deren Texte ein Naturbild beschreiben, während sich auf einer Metaebene der reinen Musik ein Seelendrama offenbart.

Oleinikovs vereinzelte Gestalten befinden sich jeweils in einer extraordinären physisch-psychischen Herausforderung, die zwischen Resignation und Abschiedsqual, Aufbruch und banger Erwartung oszilliert. Die Begegnung mit einer fremd anmutenden Welt, die der Maler auf seinen Bildern inszeniert, wird zur Metapher für das Sondieren eigener Befindlichkeiten: Entkräftet kauert ein sich selbst überlassener Wanderer inmitten einer eisigen Ödnis, die sich fast endlos als riesige Leerstelle zwischen ihm und seinem Ziel, einer kleinen Ansiedlung am Fuße eines Berges, ausdehnt (Berg). Auf einem anderen Bild ist ein verzweifelter Fluchtversuch im giftgrünen Dschungel einer selbstquälerischen Ausweglosigkeit gescheitert. So wie sich in die rigorose Abstraktheit der weißen Ebene das melancholische Angstdunkel des Wanderers als apokalyptisches Stimmungsbild eingeschrieben hat, ist auch dieses Szenarium einer gefahrvollen Randlage Allegorie, in der sich ein psychischer Zustand Sinn-verbildlicht (Fluchtversuch). Auf dem Gemälde mit dem verrätselten Titel Jahre sucht ein wahrhaft Alleingelassener nach Orientierung inmitten eines Labyrinths. Die mit minutiöser Realistik figurierte Gestalt in Mantel und Hut, die wir nur in Rückenansicht sehen, verharrt vor einer schemenhaft gezeichneten Raumkulisse, deren Wände vom Sog dunkler Fensterhöhlen wie von schwarzen Löchern durchstoßen werden. Folgt man der Fährte, die der Bildtitel auslegt, so erschließt sich das hermetische Gehäuse als das eigene Leben, dem der Flaneur gegenübersteht. Sein Weg ist gleichermaßen Rückschau und Suche nach Aufbruch. Und doch ist diese sorgfältig konzipierte Komposition keine Episodenschilderung, sondern sie verdichtet mit beklemmender Aura ein traumartiges Verweilen, in dem sich Urszenen des Lebens zeit- und raumentrückt vergegenwärtigen.

Oleinikovs melancholische Wanderer durch unwirtliche Regionen wecken Assoziationen an die Figur des Stalker aus dem gleichnamigen Film, den der russische Regisseur Andrej Tarkowski 1978/79 drehte und der aufgrund seiner eigenwillligen Bildsprache sofort nach seiner westlichen Erstaufführung beim Festival in Cannes als Meisterwerk der Filmkunst gefeiert wurde. Was dort zunächst wie ein Science-fiction-Abenteuer angelegt ist, die Expedition des Stalker in postapokalyptische verbotene Zonen, entpuppt sich sehr bald als ein Geschehen mit verschlüsselter Symbolik in einer dichten Atmosphäre zwischen Traum und Poesie. Denn die Expedition, die der Stalker mit seinen Begleitern ausführt, wird letztlich für alle zur Reise in die Innenwelt – dorthin, wo sich Erinnerungen, Ängste und Wünsche begegnen. Der amorphe Vegetationsteppich, der auf Oleinikovs Gemälde Déjà-vu den Schlafenden und seine Traumgestalten wie in einer bizarren Naturhöhle umschließt, erinnert unmittelbar an Szenarien aus den verbotenen Arealen, die Stalker zu betreten wagt.

Oleinikov allegorisiert wie Tarkowski hinter der Protagonisten-gestalt seines nomadischen Sinnsuchers, der seit der Romantik unter vielfältigen Maskierungen in Kunst und Literatur in Erscheinung getreten ist, seine Existenz als Künstler und sondiert mit einer rigorosen Neugier deren Tiefenschichten. Aufschlussreich sind die wie Tagebücher anmutenden Skizzenblätter, auf denen er die Rhythmen seines Künstleralltags in allen Nuancen festhält und zugleich sein Werkprogramm in akribischen Bildplänen erprobt. Gedankensplitter und wie zufällig aneinander gereihte Wortakkumulationen sind durchwebt von Emotionsprotokollen, die mit ganzen Serien kastenartig gefasster Miniaturzeichnungen korrespondieren. Diese rasch mit dem Bleistift zu Papier gebrachten Skizzen erweisen sich bei eingehender Betrachtung als szenische Bozzetti, in denen der Maler die landschaftlichen oder architektonischen Bühnenprospekte seiner Gemälde entwirft, aber auch seinem Porträt in immer anderen Selbstbeobachtungen gegenübertritt. Worte wie „Schock, Begeisterung, Melancholie, Verlust, Trennung, Hoffnung, Warten“ mischen sich mit momenthaften Psychogrammen und allegorischen Zustandsbeschreibungen. So enthalten die Randspalten der Blätter neben Notaten, die an Alltagsverpflichtungen erinnern, tiefsinnige Satzfetzen, in denen sich eine schonungslose Fährtenlese an den Grenzzonen der eigenen Psyche artikuliert. Je genauer man den Spuren dieser verbalen Zustandsprotokolle und der szenischen Genese der Bildkonzeptionen folgt, umso mehr öffnet sich ein Zugang in den Sinnfundus, der sich in den Motiven verrätselt. Damit verbunden ist ein magischer Hermetismus, der den Betrachter in das Eigenleben dieser metaphorischen Bilder hineinzieht und seine eigenen Imaginationen in Gang setzt.

Oleinikovs Malerei verweigert sich jeder Berührung mit der auf Moskau zentrierten Soz-Art seiner gleichaltrigen Landsleute, die ihre postsowjetische Kunst mit einem staunenden Blick auf konträre Welten aufgeladen haben. Verbinden sie doch ihre Kritik an der gebeutelten heimatlichen Zivilisation mit einer plakativen Theatralik, die sich zwischen Banalität, Pathos und Ironie ansiedelt. Oleinikov hatte jedoch den Mut, sich einem radikalen Selbstfindungsprozess auszusetzen, als er vor zehn Jahren nach einer in Krasnodar abgeschlossenen Ausbildung, nach Militärdienst und anschließender Tätigkeit als „Agit-Prop-Maler“ in einer Lederwarenfabrik nach Deutschland kam und sich für ein weiteres Studium der Malerei an den Kunstakademien von Karlsruhe und Düsseldorf entschloss. Statt vorgegebene malerische Konzepte zu annektieren, suchte er nach einer angemessenen Bildform für die unabhängige künstlerische Existenz, die sich seiner Vorstellung eingeschrieben hatte und nach einer expressiven Gestaltung verlangte.

Während der Düsseldorfer Akademiezeit avanciert Oleinikov zum Meisterschüler von Markus Lüpertz, der die außer-ordentliche Begabung und Eigenständigkeit des seit 2005 freischaffend tätigen Malers treffend mit den Worten würdigt: „Es wäre zu einfach, bei den Bildern von Igor Oleinikov das Russische zu sehen und dennoch ist man verführt, der Bequemlichkeit halber daraus vieles zu erklären. Erwecken die Bilder von Igor Wehmut, Weite und Seele, Attribute, die sich nur thematisch gesehen mit dieser russischen Seele verbinden. Igor malt sicherlich aus vielen, aus anderen und aus diesen Gründen.“ In der Tat wird hier die Kultivierung eines individuellen Malkonzeptes deckungsgleich mit einer prozessualen Expressivität, die in ihrer kathartischen Selbstreinigung eine an Dostojewskis Seelenanalysen erinnernde Rigorosität entfaltet hat. Das eigentliche Faszinosum, das von diesen Bildern ausgeht, entspringt ihrem Wagnis, sich den dunklen Kehrseiten des Schönen dort zu nähern, wo aus dem Chaotischen die inspirierende Meditation über etwas Neues hervorgeht.

Zwei Gemälde aus dem Jahr 2006, Licht und Bilderkämpfer, zeigen in einem allegorischen Aktionismus die obsessive Vehemenz, mit der sich die künstlerische Selbstverortung vollzogen hat. Auf beiden Gemälden wehrt sich eine prometheische Gestalt, die sich in einem Kraftakt des erhellenden Feuers bemächtigt, gegen eine geballte Phalanx von bewaffneten Angreifern, die sie – aus gespenstischen Nebelschwaden auftauchend – mit ihren Aggressionen attackieren. Diese mythologisch chiffrierten Selbstgespräche des Malers über sein Künstler-Dasein beschwören eine kafkaeske Stimmung, die an die Schwarzen Bilder Goyas gemahnt. Dort begegnen wir erstmals der beklemmenden Atmosphäre von rigorosen Selbstgesprächen, der komplementären Spannung zwischen dem Dunkel und dem Licht, in deren unausweichlicher Zerrissenheit die Kreativität ihre Quellen findet. Auch Oleinikov versteht es meisterhaft, seinen Bildern eine dramatische Raumtiefe aus dem Wechsel-spiel zwischen dunklen Grau- und gleißenden Lichtzonen zu geben und in sie hinein seine Autoporträts zu projizieren. Ein subtil gemalter Schleier aus schwebenden Farbschlieren legt sich in dem Gemälde Licht über das Figurationsgeflecht aus einer in die Tiefe fluchtenden öden Industrielandschaft und den als geballte Masse auftretenden Angreifern. Im Fluchtpunkt ihrer Bajonette steht der aus ihren Reihen Herausgetretene. In diesem Traumbild erinnert der Künstler noch einmal den für seine Psyche geradezu gewaltsamen Akt der Selbstfindung.

In einer Reihe von Traumbildern tritt ein roter Farbfluss in Erscheinung und behauptet sich kraftvoll gegenüber dem Sog der dunklen Bildräume. Während die Gemälde Entscheidung und Pause  Wegetappen des Abschieds und des Aufbruchs in traumanalytischen Rückblicken rekapitulieren, verdrängen die Impulse der monochromen Farbe im puren Rot zunehmend das Figurenpersonal und die Landschaftsprospekte aus den Erinnerungsbildern. Stattdessen breitet sich ein Areal der Meditation aus, dem sich das Künstler-Ich anheimgibt. Dessen abstrakte Transparenz speichert die künstlerischen Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen an die Zukunft, transformiert aber auch im Prozess des Malens bittere Erfahrungsmomente in eine poetische Sphäre entrückter Wehmut.

Wie bereits anfangs konstatiert, porträtiert sich Oleinikov als Wanderer, dessen Sinnsuche nicht geradlinig verläuft. In Notaten auf den Skizzenblättern und in seinen Selbstbeobachtungen sondiert er stets aufs Neue, was es für ihn heißt, sich ganz „für die Kunst“ zu entscheiden. Das Gemälde Pause gibt Aufschluss darüber, dass die den Bilderkämpfer angreifende Phalanx keine Fremden sind, sondern – ausgestattet mit der signifikanten Physiognomie des Sinnsuchers – als dessen beunruhigende Wiedergänger aus anderen Lebensabschnitten auftauchen. Auf dem Gemälde Pause sind sie wie auch der Sinnsucher für einen Moment des Innehaltens in einen bleiernen Schlaf versunken.

Existenz für die Kunst, wie ein Bildtitel lautet, bedeutet Vereinsamung, Leiden an Verlusten und an Erinnerungen – Zustände, denen Oleinikov in allegorischen Parabeln viel-schichtigen Ausdruck gibt. Dem inneren Gedächtnis entsteigen rätselhafte Imaginationen, die in den Tiefen des Unter-bewussten ihre Ursachen lagern und im malerischen Akt ihr Ventil finden. So mag sich dem Betrachter beim Blick auf das Gemälde Mohnfeld die Frage aufdrängen, ob sich hinter dem roten Farbfluss jenseits seiner allegorischen Verweisfunktion auf die künstlerische Selbstentäußerung nicht auch ein historischer Assoziationsraum öffnet, eine im Verlust verklärte Reminiszenz an die Heimatstadt Krasnodar verbirgt. Krasnodar bedeutet – wörtlich übersetzt – „rotes Geschenk“. So wurde die Stadt 1920 von den Sowjetkommunisten benannt. Gegründet hatte sie 1794 unter dem Namen Jekaterinodar die in Deutsch-land als Prinzessin von Anhalt-Zerbst geborene Zarin Katharina die Große als Festung und Militärstandort der Schwarzmeerkosaken, die ihren Unabhängigkeitswillen und Freiheitsanspruch noch unter sowjetrussischer Herrschaft verteidigten. Wie nachhaltig – wenn auch in Malvorgängen verschlüsselt – sich Oleinikov in dieser Tradition sieht, lässt sich an dem Umstand ablesen, dass er sich selbst gelegentlich wie ein Kosak ins Bild setzt. Die Landschaft in der Region Krasnodar am Fuße des Kaukasus wird von weiten fruchtbaren Getreidefeldern geprägt, über die sich im Sommer ein Meer von Mohnblüten ergießt. Halb eingetaucht in dieses idyllische Erinnerungsbild schaut ein selbstbewusstes Künstler-Ich auf einer Variante von Mohnfeld, die den Titel August trägt, mit melancholischem Blick zurück auf sein in Verzweiflung verharrendes Alter Ego. Oleinikovs Metapher des Mohnfeldes legt mit ihren zwiespältigen Assoziationshorizonten von Verlusten und Sehnsüchten den Vergleich mit den emphatischen Bildern zwischen Tragödie und neu aufkeimender Hoffnung nahe, die der Lyriker Paul Celan in dem Gedichtband Mohn und Gedächtnis (erschienen 1952) beschworen hat. Wie bei Celan aus der ästhetischen Kraft des Natursymbols eine poetologische Selbstreflexion an den Rändern des Unsagbaren hervorgeht, so verankert auch Oleinikov traumatische Realitätserfahrungen und Erwartungen an seine künstlerische Selbstverwirklichung im sensiblen Gewebe seiner Metaphorik, um dort eine Begegnungsebene von Bewusstheit und Unbewusstheit auszuloten.

Das Atelier, ein einsamer Raum aus purem Rot, ist die Transformationsschleuse, in der sich die Imaginationen aus der Vergangenheit mit neuen Projektionen amalgamieren. Hier entstehen Bilder, in denen Oleinikov die Bruchstellen von gesellschaftlicher Entfremdung und einsamer Selbstfindung in neuen kulissenhaften Einkleidungen erforscht. Jedes Detail der szenischen und figuralen Bildkompositionen wird dabei in zeichnerischen Arbeitsgängen vorbereitet. So wie die Bleistiftnotationen der Skizzenblätter eine landschaftliche Motivik erproben, die auf suggestive Tiefenwirkung fokussiert ist, werden auch Materialphänomene, kühne Raumausschnitte und Körperhaltungen in der Zeichnung akribisch vorformuliert. Aus dem Mit- und Ineinander von hauchfeinen Strichlagen, die der Bleistift auf den Bildträger setzt, und kompakten Kompartimenten der Ölfarbe resultiert eine raffiniert inszenierte Wechselwirkung von Licht- und Schattenpartien, mit deren Effekten Oleinikov nicht nur Körperlagen in extremer Schrägsicht konstruiert, sondern auch Raumebenen differenziert und unterschiedliche Materialkonsistenzen mit fotografischer Präzision beleuchtet (siehe hierzu die Zeichnungen Tastend, Kälte, Glas oder Holz).

Als Betrachter ist man geneigt, eigene Vorstellungen in Oleinikovs mysteriöse Bildwelten und deren sinnliche Magie hinein zu interpretieren. Und doch schreckt man im gleichen Moment solcher Anwandlungen vor dem Ausdeuten zurück, weil sich in jedweder Konkretion das Wesentliche dieser Bilder, die Anziehungskraft ihrer geheimnisvollen Impression, verflüchtigen würde. Vor allem jene Gemälde, die einen intimen Dialog zwischen ihrer bildfüllenden Architekturkulisse und der psychischen Befindlichkeit der Person austragen, die sich in dieser Bildwelt bewegt, verweigern eine narrative Lektüre und erobern sich mit sanftem Zwang das ästhetische Wahrnehmen ihrer geheimnisvollen Aura.

Auf dem Bild Korridor sieht sich der Betrachter von den drei Treppenstufen im Vordergrund und dem Lichtschein am Ende des schmalen Ganges zum Einstieg in die Korridortiefe auf-gefordert. Doch gleichzeitig entströmt dem Bildgefüge eine Gegenbewegung. Diese geht von dem alten Mann aus, der sich – mühsamen Halt ertastend – an die linke Korridorwand klammert, um der kalten Helligkeit in der Fluchttiefe des Raumes zu entfliehen. Albtraum und Faszination vereinigen sich zu einer atmosphärischen Symbiose, die bildimmanent aus dem malerischen Procedere hervorgeht. Tritt man nahe an diese Gemälde heran, wird ihre subtile Bildkomposition im hand-werklichen Detail ablesbar. So formt sich aus amorphen, kurz gesetzten Pinselflecken die Weichzeichnung der Landschaftsareale, während Architekturkompartimente – gleichgültig, ob sie einen unscheinbaren Innenraum, ein Ruinenensemble oder den Portikus mit Treppenaufgang an einem verfallenen Herrschaftsgebäude ins Bild setzen (Garten) – eine sorgfältig austarierte Konstruktion aus unterschiedlichen Grautonlagen aufweisen. Wo diese malerischen Modalitäten der Farbnuancierung und des konzeptuellen Raumaufbaus zusammenfließen, schaffen Oleinikovs Bildfindungen eine eigene Welt, in deren melancholischer Poesie die hintergründige Stimmung aus den literarischen Werken Anton Tschechows oder die fotografischen Chamois-Ablichtungen auf alten Plattenkameras nachklingen. In diesen mit der Imaginationskraft seiner Kunst geschaffenen Resonanzraum bettet Oleinikov in Gestalt parabelhafter Figurationen die sich der Sprache entziehenden analytischen Expeditionen seiner Künstler-Existenz.

© Karin Thomas

In: Igor Oleinikov Sturm. Dresden: Sandstein Verlag 2008, S. 7-9.

Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack

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2006

„Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“

Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack

 

Von der Lichtkunst zur Gartenkunst im künstlerischen Schaffen von Heinz Mack ist die Wegspanne nicht weit. Mag die optische und atmosphärische Distanz zwischen den Lichtarealen der Zero-Jahre und den Skulpturengärten aus Kunstobjekten und Naturkompartimenten der jüngeren Werkphase auf den ersten Blick auch groß anmuten. Gartenkunst ist in ihrer jahrtausende-alten Geschichte stets gezähmte Natur, und ihre Ordnungs-instrumente sind den kompositorischen Strukturen der Mack-schen Lichtkunst durchaus vergleichbar.

 

Als Heinz Mack 1958 seine ersten Vibrierenden Lichtsäulen entwarf, betrachtete er selbst diese eleganten Stelengebilde keinesfalls als Skulpturen im traditionellen Sinne. Sie waren für ihn vielmehr materielle Mittel für visionäre Pläne, Filter für Verwandlungen, mit deren Hilfe er seine Vorstellungen von weiträumigen Gärten aus farbigem Licht zu realisieren hoffte. Mack dachte schon zu dieser Zeit über artifizielle Licht-inszenierungen in monumentalen Ausmaßen nach. Er plante Aktionen als Lichtballette, in deren Verlauf sich farbige Lichträume wie immaterielle Schleier über den Wüstensand der Sahara oder das endlose arktische Eis ausbreiten sollten. Sein Traum von vibrierenden Lichtgärten, die ganze Stadtregionen oder elementare Naturformationen in ihrer Erscheinungsweise durch Lichtmodulationen völlig verwandeln würden, war – so utopisch die ersten Ideennotate und Planskizzen etwa zum Sahara-Projekt zunächst noch erscheinen mochten – niemals bloße Schwärmerei eines künstlerischen Idealismus ohne Bodenhaftung. Macks Träume hatten ihre solide Verwurzelung in der Fähigkeit des Künstlers, seine Visionen mit der Disziplin des sorgfältigen Handwerkers und mit der Erprobung modernster Technik symbiotisch zu verbinden. Mit seinen Lichtgittern aus dem Aluminium der Flugzeugindustrie, mit völlig neuartigen Silbernetzen und Spiegelkuben sowie mit der Variation von elektrischem und natürlichem Licht durch seine Instrumente schuf sich Mack einen materiellen Fundus, mit dem er seine Träume von immateriellen Lichträumen in die Realität umsetzen konnte: ab 1962 die Lichtexperimente in der afrikanischen Wüste, 1963/64 die Lichtmauer in Antwerpen, 1966 der Lichtwald aus 20 Spiegelstelen in Manhattan, die vielen Licht- und Spiegelplantagen, die Mack seit den 1970er Jahren an diversen Orten der Welt realisiert hat. Alle diese inszenatorischen Werkkonzeptionen zielten darauf ab, mit der immateriellen Strukturenvielfalt der spektralen Lichtbrechung sphärische Räume topographisch in Relation zu realen Land-schaften zu markieren, um diese durch den temporären Eingriff der Kunst in ihrer natürlichen Erscheinungsweise zu verwandeln.

 

Damit sind wir auf einen zentralen Bezug des Mackschen Werkes zur Gartenkunst gestoßen. Schon der antike Schrift-steller Plinius der Jüngere, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert über das Wesentliche eines Gartens nachdachte, sieht die Gartenästhetik dadurch motiviert, ein Theatrum für Visionen zu schaffen, indem aus dem Miteinander von real erlebter Natur und kultivierter Ordnung durch Form der Genuß aller Sinne erwächst, so daß der Garten zum sichtbaren Sinnträger des Schönen avanciert. Es verwundert nicht, daß sich die Gartenkünstler der Renaissance und des Barock eben auf Plinius beriefen und für ihre Gartenanlagen die Villa des Römers in Tuscien zum Vorbild nahmen. 2 Doch erstaunlicherweise lassen sich Sätze wie der des berühmten Gartenarchitekten Jan van der Groen auch ohne weiteres auf die modernen Lichtgärten von Heinz Mack übertragen, wenn es dort heißt: „Durch das Mittel der Kunst kann man die Natur verschönern und ihr die Annehmlichkeit, die Schönheit und die Ordnung geben, die sie vorher (im Zustand der Wildheit) nicht hatte.“ 3

 

Sucht man mit einiger Systematik nach inneren Verbindungslinien zwischen der historischen Gartenkunst und dem Mackschen Œuvre, lassen sich nicht nur in vielen Werktiteln, sondern auch in ganzen Werkgruppen frappierende Nähen entdecken. So muten zahlreiche Pastellzeichnungen – ein Medium, das im Werk der 1990er Jahre verstärkt in Erschei-nung tritt – wie minutiöse Farbentwürfe für die Bepflanzung von Parterrebeeten an. Erhält die Imagination freien Lauf, vermag man in diese geometrischen Farbareale, die Mack sehr offen als Chromatische Konstellationen bezeichnet, die kunstvollen Beetmuster italienischer Renaissance- und französischer Barock-Gartenkünstler hineinzudenken, in denen sich die kultivierende Zügelung der Natur bildhaft verdichtet. Mack, der sich auch ganz real mit der Planung von Gärten in unter-schiedlichen Landschaften und klimatischen Regionen beschäftigt hat, wird beim Anblick der abstrakten Farbfelder auf seinen Pastellen nichts einzuwenden haben gegen die Assoziation von farbigen Blumenteppichen, wie sie auf den alten Parterreplänen so sorgfältig in Gestalt verschiedener Pflanzenarten verzeichnet sind, damit der Betrachter der Gärten zu jeder Jahreszeit einen anderen Eindruck erleben möge.

 

Die Gärten des Barock waren geprägt von einem verzweigten Achsensystem, das durch wechselnde Blickbezüge zwischen Wasserspielen, Skulpturenensembles, künstlichen Grotten und Boskettpflanzungen die Gartenanlage mit einem individuell zu gestaltenden Erlebnisangebot ausstattete. Auch für Mack ist die Arealisierung ein wichtiges Moment seiner artifiziellen Lichtgärten. Er schafft wie der Gartenkünstler – allerdings mit den Mitteln moderner Technologie – reale Erlebnisräume, auch wenn diese immateriell temporär sind. Ihre Dynamik wird durch die sorgfältige Plazierung der lichtbrechenden Reliefs, Spiegel-kuben, Stelen und Gitterflügel in Gang gesetzt und dadurch zugleich auch räumlich wie zeitlich begrenzt.

 

Heinz Mack ist ein Künstler, der sich bei allem Avantgarde-bewußtsein stets in Traditionen eingebunden sah, der sich in der Kunstgeschichte auskennt und sein Werk jenseits der Nutzung industrieller Werkstoffe in den Kontexten historisch gewachsener Symbolik und Metaphorik reflektiert. So weiß er sehr genau, daß die Vorstellung des Gartens im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung bis hin zum Landschaftsgarten des 19. Jahrhunderts stets auf das Urwunschbild aller geordneten Natur Bezug genommen hat, auf das Paradies. Das wird im Alten Testament (1. Mos. 2, 8-15) als der Garten Eden, als eine sinnlich erlebbare wunderschöne Parklandschaft des Friedens beschrieben. Dem Garten Eden und dem Paradiesgarten begegnen wir mehrfach in den Werktiteln bei Mack, wobei die von ihm bewußt gesuchte Assoziation weniger auf den theologischen Bedeutungshorizont der alttestamentarischen Vorstellung als auf deren ästhetische Utopie zurückgreift. Das Paradies bezeichnet einen Ort der Balance, in dem die schöne Ordnung einer sinnlich erlebbaren Natur zum Sinnbild des Idealen wird. Ein Wandrelief im Düsseldorfer Schauspielhaus – 1981 durch Vandalismus leider schwer beschädigt – trägt den Werktitel Der Garten Eden (Abb. 98). Eine von Mack für die Kirche St. Theresia in Kaiserslautern entworfene Glasmalerei ist als Paradies-Garten bezeichnet, Verbindung zwischen dem alttestamentarischen Garten Eden und dem durch Christus verheißenen Himmlischen Jerusalem. Auch hier – wie so oft im Schaffen von Heinz Mack zu beobachten – die Übertragung einer Idee von einem Medium in ein anderes. Das Kirchen-fenster weist direkte Bezüge zu den Chromatischen Konstellationen der Pastellzeichnungen auf, hier wie dort evozieren die abstrakten Formen aus leuchtendem Blau und Gelb die Assoziation eines Blumenbeetmusters wie auf persischen Teppichen. Mack hat mit dem dominierenden Azurblau und Gelb die Farben des Wassers und des Blüten-staubs gewählt, die Farben der lebenspendenden Grundelemente einer blühenden Gartenarchitektur. Ihre Mischung ergibt die Farbe Grün, die Grundfarbe aller Vegetation, eine chromatische Konstellation, die sehr häufig auf den Mackschen Pastellen zu finden ist.

 

In Macks leuchtenden Farben aus der Regenbogenskala erhalten die abstrakten Farbanalysen aus der Geschichte der modernen Kunst ihren Reflex und ihre Weiterführung. Schon Bilder aus der Vor-Zero-Phase bekunden die Auseinandersetzung des jungen Künstlers mit Paul Klees polyphonen Aquarellen aus der Bauhaus-Ära. Die nachhaltigen Eindrücke, die der Bauhauslehrer auf einer Ägyptenreise vom 17. Dezember 1928 bis zum 17. Januar 1929 sammeln konnte, haben ihren Niederschlag in einem aus der Wüstenlandschaft deduzierten Kompositionsgefüge gefunden. Das blendende Sonnenlicht und die linearen Formationen des Wüstensandes spiegeln sich auf den „ägyptischen Blättern“, die Licht streift durch die Ebene, Monument an der Grenze des Fruchtlandes oder B. e. H. (Oberägypten) betitelt sind, in Gestalt horizontal gelagerter Parallelogramme, Trapeze und streifig gelagerter Tonwerte aus hellem Ocker, Rosa, Gelb und Rosa – eine chromatische Konstellation, die auf den Mackschen Pastellen in neuen Formationen wiederkehrt. Interessant ist dabei die Tatsache, daß auch für Paul Klee wie 40 Jahre später für Heinz Mack mit dem Erlebnis der Wüste eine einschneidende Lichterfahrung verbunden ist. In Ägypten fand Klee, wie Christian Geelhaar konstatiert, „die Lösung des wichtigsten Problems, das seiner zu dieser Zeit noch harrte – das Phänomen des Lichtes“. 4

 

Neben Klee ist Henri Matisse mit seinen über die gesamte Bildfläche pulsierenden Farbflecken und Arabesken schon früh ein Anreger für die Findung puristischer Strukturen, mit denen Mack seinen Lichtmodulationen abstrakte Gestalt und ordnende Symmetrie verleiht. Intensive Beschäftigung mit der islamischen Kunst, die Matisse 1910 auf einer Reise durch das maurische Spanien und beim Besuch der großen Islam-Ausstellung in München vornahm, motivierte ihn zur Dezen-trierung der Bildfläche nach den Vorgaben orientalischer Teppiche, deren stilisierte Floralornamentik nicht zuletzt ein Abbild des Gartens Eden beinhaltet. Aus der Erfahrung des orientalischen Ornaments, dessen transzendierende Sinnbild-lichkeit dem islamischen Ikonoklasmus geschuldet ist, rehabilitiert Matisse das Dekorum. In den Arabesken des Orients, die er anhand von bildfüllenden Vorhängen und Stoffmustern zitiert, sieht Matisse eine mimetische Hinter-lassenschaft der mittelöstlichen Kunst, die zu reaktivieren und der abendländischen Kunst einzugliedern ihm ein zentrales Anliegen ist. 5

 

Das Allover der vegetabilen Muster, das den Gemälden des Franzosen ihre wie aus Tapetenstücken collagierte Flächigkeit und vitale Dynamik verleiht, findet bei Mack sein Pendant in der Endlosigkeit der Strukturen, aus deren lichtmodulierenden Energien die Raumzeichnung der Spiegelkuben, Stelen, Prismen und Gitterflügel hervorgeht. Eingepflanzt in den vegetationslosen Wüstenboden, konstruieren diese Objekte Areale aus Licht- und Farbkompartimenten, die wie ein orientalisches Teppichgeflecht einen gartenartigen Raum abgrenzen. Immer wieder zieht Mack auch thematisch Parallelen zwischen seinen künstlichen Lichtgärten und den eingefriedeten Vegetations-oasen, die eine jahrtausendealte Kultivierung in die Wüste eingeschrieben hat. Eines der ältesten Zeugnisse solcher Oasen, die schon die Ägypter anlegten, kennen wir aus den piktographischen Gartendarstellungen einer Grabanlage in Tell-el-Amarna, die auf 1355 v. Chr. datiert wird. War in diesen symmetrisch geordneten Anlagen schattenspendender Baumpflanzungen ein Wasserbecken die ‚Seele’ des ‚locus amoenus’, so übernimmt das Licht bei Mack diese energetische Funktion, aus der die Verwandlung der Wüstenödnis in einen Garten der Kunst hervorgeht.

 

Hat man sich auf die Suche nach historischen Parallelen zu den modernen Lichtgärten von Heinz Mack eingelassen, ist die Assoziationskette von einer erstaunlichen Breite. Schon die antiken Schriftsteller formulierten mit schöner Anschauungs-kraft das Faszinosum ungewöhnlicher Gärten, denken wir nur an die Berichte von den sagenhaften Hängenden Gärten Babylons. Heinz Mack, der sich unter der mediterranen Sonne Ibizas heute ebenso zu Hause fühlt wie im rheinischen Mönchengladbach, wird die utopische Vorstellung der Hängenden Gärten im Palast des Nebukadnezar mit Genuß nachvollziehen können: im sonnenversengten Mesopotamien eine zwischen hohen Palastmauern eingespannte Terrassenlandschaft, ein architektonischer Raumgarten, dessen fruchtbares Grün nicht nur die Bodenfläche des Areals bedeckte, sondern sich – wie Macks Lichtballette – zum kunstvollen Raumerlebnis zwischen Erde und Himmel ausdehnte. Märchenhaft ausschmückende Überlieferung hat die historisch verbürgte Realität des antiken Weltwunders zur utopischen Sensation verklärt, wobei es kein Zufall sein mag, daß dieses Schlaraffenland nicht weit entfernt war von dem Ort, wo christliche Deutung den alttestamentarischen Garten Eden geographisch lokalisierte: in der Region von Euphrat und Tigris. Was vor allem an den Hängenden Gärten Babylons stets fasziniert hat, war die unglaubliche Verwandlung eines Raumes – ein künstlerisches Prinzip, mit dem die Macksche Raumkunst seit ihren Anfängen bis heute operiert.

 

Neben die spektakulären Lichtexperimente in weiträumiger Natur- und Stadtlandschaft traten stillere, in ihrer Irritationskraft aber nicht weniger faszinierende Arbeiten wie die Verwandlung eines Museums, die für das Haus Esters in Krefeld konzipiert wurde (Abb. 85 B). Der Entwurf zeigt, wie Mack sein Konzept, das aus Kostengründen nicht zur Ausführung gelangen konnte, gedacht hatte. Alle Fenster des Museums sollten durch Spionspiegel ersetzt werden, so daß sich die Parkanlage rund um das Mies van der Rohe-Gebäude in den Fenstern widerspiegeln würde. Die erstaunlichen Metamorphosen des Außenraums lassen sich an den Simu-lationen des Künstlers ablesen. Viele Spiegelexperimente sind mit ihren faszinierenden Bildern auf Spiegelkuben in die Macksche Landschaftsarchitektur eingegangen, wobei sich die künstlichen Lichtgärten um Gartenskulpturen mit floralen Spiegelungen erweitert haben (Abb. 85 A).Vegetation und Skulptur inszenieren in dieser Nachbarschaft jeweils ihre eigenen Dynamik.

 

Die Kunst Macks ist stets wie die Gartenkunst ein ästhetisches Theatrum, ein Manifest der Schönheit, womit sich ein weiterer Bogen zum Garten Eden schlagen läßt. Denn die schönsten Panoramen vom Garten Eden stellt uns die islamische Kunst vor Augen, wenn sie die Verheißung des Korans ins Bild setzt. Während das Alte Testament den Garten Eden ex negativo aus dem Verlust beschreibt, den das Urmenschenpaar nach dem Sündenfall erleidet, schildert die Sure 65 des Korans die sinnlichen Wonnen und erotischen Genüsse des paradiesischen Daseins: „Und wer an Allah glaubt und das Rechte tut, den führt er ein in Gärten, durcheilt von Bächen, ewig darinnen zu verweilen für immerdar. Eine schöne Versorgung hat er für ihn bestimmt.“ Dieses arkadische Szenarium des Paradieses lebt fort in der reichen Gartentradition der islamischen Länder, vor allem in den stilisierten Darstellungen persischer Garten-teppiche und indischer Miniaturen, die Heinz Mack seinerseits als anregende Quellen für seine Bilder und Installationen heranzieht (Abb. 83 und 84). Ein System von Bächen gliedert den islamischen Garten in Zierbeete mit Blumen und Platanen, die von Gärtnern umhegt werden und deren Pflanzenreichtum ebenso grüne Wiesen wie Orangenbäume und Granatapfel-spaliere umfaßt. Solche betörende Sinnlichkeit hat die christliche Askese schon früh aus dem abendländischen Vorstellungshorizont des Paradieses verdrängt.

 

Das dunkle Mittelalter durfte diesen Garten ausschließlich als gemalte Vision wahrnehmen, eingebunden in die religiöse Ikonographie der Marienverkündigung. Solche Bilder imaginieren im Hintergrund der Verkündigungsszene eine kleine, oft durch Mauern geschützte Oase mit idyllischer Flora und Fauna, abgetrennt von der Außenwelt und damit Metapher für etwas real nicht Existierendes, Transzendentes. Der gläubige Betrachter verstand das winzige Stück verzauberter Natur als Verheißung, die der in Maria Mensch werdende Gottessohn nach dem Willen des göttlichen Vaters erfüllte – als Symbol für die Wiedererlangung des Paradieses, allerdings nicht im Leben, sondern erst nach dem Tod. Wenn Mack das Paradies mit Hilfe von Werktiteln zuweilen sehr direkt in seine Werke hineinimaginiert, so zielt er nicht auf solche religiöse Transzendenz. Er beschwört vor allem den sinnlichen Glanz dieser schönen Utopie, die Faszination der Idee und deren auratische Realitätsfähigkeit im sinnlich erlebbaren künstlerischen Szenarium. Mit der auratischen Wirkung greifen wir hier Walter Benjamins Begriffsverständnis von Aura auf. Nach Benjamin ist Kunst Mnemotechnik des Schönen, und die auratische Wirkungskraft eines Kunstwerks vollzieht dessen Einbettung in die erinnerungswürdige Erfahrung der menschlichen Gesellschaft. 6 Die Kunst bewahrt mit ihrer auratischen Wirkung die Wunschbilder der Gesellschaft, d. h. für Benjamin die Erinnerung an ein friedvolles Dasein, dessen utopisches Ideal in der Vorstellung des Paradieses gipfelt. 7

 

Den Rückgriff auf die faszinierende Diesseitigkeit der Garten-architektur wagten erstmals nach der Antike wieder die Gartenkünstler der Renaissance und des Barock. Doch ihre zierlichen Oasen einer gezügelten Natur, bereichert mit raffinierten Wasserspielen, wurden bei aller Pracht und allem Erfindungsreichtum vom höfischen Zwang der gestutzten Formen und von der Exklusivität ihrer Nutzung eingeengt – Gründe genug für die Aufklärung, den höfischen Ziergarten durch den Landschaftsgarten abzulösen. Und dieser Land-schaftsgarten wurde zum symbolischen Bild einer allseits versöhnten Gesellschaft stilisiert. In den zurechtgestutzten Bäumen, gezirkelten Hecken und geometrischen Parterre-anlagen sah Jean-Jacques Rousseau Metaphern einer falschen Erziehung. Aber von dem philantropischen Reformgeist eines Rousseau, wie er im Garten der Gesellschaft von Clarens zur utopischen Vision avanciert 8, ist Heinz Mack weit entfernt, ebensoweit wie von den Zierparks des Barock. Denn jede moralisierende Sinnhinterlegung des Gartens widerspricht seiner auf das Aufscheinen des Schönen, auf räumliche Dialoge durch Licht und Farbe fokussierten künstlerischen Haltung. Das Besondere seiner Kunst erwächst aus der Aura, die seine Werke besitzen und in die sich Ideen, aber keine Theorien einnisten. Was sie mit der Gartenkunst generell verbindet, ist ihr Ent-stehen aus dem „Ungenügen der vorhandenen Realität“, worin Mack – darin wiederum den Benjaminschen Kunstvorstellungen nahe – das „eigentliche Movens eines jeden utopischen Entwurfs“ sieht.

 

„Die Hoffnung aufs Paradies durchzieht als anthropologische Konstante das utopische transzendierende Denken des Menschen“, so resümiert Klaus Börner die lange Geschichte der Paradies-Vorstellungen: „In der Sehnsucht nach dem Glück verbindet sich die Erinnerung an verlorene Paradiese, wie sie am Anfang aller Zeiten existiert haben sollen, mit der Hoffnung auf dieses utopische Ziel in der Zukunft oder in der Ferne.“ 9 Als Heinz Mack einem Interview mit Yvonne Schwarzer das Motto voranstellt: „Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“ 10, begibt er sich – geradezu unzeitgemäß – in die Tradition der Paradiessucher, aber er tut es nicht mit den Rousseauschen Erwartungshaltungen der Weltumsegler aus dem 18. Jahrhundert, sondern formuliert seinen Anspruch im Sinne Gauguins, der seinen nicht erfüllten Lebenstraum vom Elysium der Seligen in seinen Bildern sublimiert.

 

Als Gauguin sein irdisches Paradies auf Tahiti suchte, gaben ihm die seinerzeit immer noch äußerst populären Reiseberichte des Seefahrers Louis-Antoine de Bougainville 11 aus dem Jahr 1771 den Anreiz für den eigenen Mut, die europäische Zivilisation gegen ein erhofftes Glück in den tropischen Idyllen der Südsee einzutauschen. Denn Bougainville schildert die tropischen Inseln als ein wahrhaft irdisches Paradies, in dem sich das antike Kythera, die Liebesinsel der Göttin Aphrodite, mit dem Garten Eden im harmonischen Dasein der Ein-geborenen vereint. Doch die Realität, die Gauguin 1891 bei seiner Ankunft vorfindet, entlarvt die Erwartungen als Illusion. Das ozeanische Arkadien, das seine Entdecker 100 Jahre zuvor vorgefunden haben, ist hinter der kolonialen Verelendung der Eingeborenen verschwunden. Gauguins real enttäuschte Hoffnung verlagert ihren utopischen Horizont in die Kompositionen der Tahiti-Bilder. In ihnen erfindet der Maler seinem ersehnten Paradies ein Gesicht, in dem sich christliche und pagane Topoi miteinander verbinden.

 

Auch Heinz Mack bezieht seinen Ausspruch, „das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“, auf den Stellenwert, den die Kunst als beflügelnder Impetus des Kreativen in seinem Leben einnimmt. Mit dem Licht und dem daraus deduzierten Farbspektrum  als Grundelementen seiner Kunst besitzt er ein energetisches Instrumentarium, mit dem er elysische Gärten als konstruierte Territorien vorzustellen vermag.

 

Werfen wir einen letzten vergleichenden Blick auf die Geschichte der Gartenkunst und suchen in ihr nach Berüh-rungspunkten mit dem Mackschen Werk, so finden wir sie bezeichnenderweise in Dessau, dort wo die Bauhaus-Kunst eine Überführung der Utopie in die Realität für kurze Zeit auch nur ansatzweise zu leisten imstande war. Dem Bauhaus gilt Macks große Hochschätzung seit den Studienjahren, das Bauhaus ist für ihn „eines der wenigen Beispiele, wo der Versuch der Realisierung von utopischen Entwürfen, wenn auch nur in ersten Schritten und Stufen, in der Tat unternommen worden ist“. Dem Bauhaus gingen in Dessau die reformerischen Aktivitäten des Fürsten Leopold Franz von Anhalt-Dessau voraus, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich eine Parklandschaft unter Einbezug landwirtschaftlicher Nutzung schuf. 12 Uns interessiert hier weniger die an sich durchaus bemerkenswerte ökono-mische Komponente des Konzepts als vielmehr die spezifische Fähigkeit des Fürsten, eine sinnliche Sensibilität für Orte und deren kultivierende Umgestaltung durch Verwandlung, Unterbrechung, Markierung auszubilden. Der für seine Zeit utopische Entwurf des Fürsten bestand in der Ortsverwandlung durch den erstaunlichen Zusammenklang von Naturkultivierung und Nutzungskultur – ein Phänomen, das Mack in seiner Terminologie als „dynamische Erweiterung“, als „Idee in progress“ bezeichnen würde. Was an der Schwelle zum 19. Jahrhundert in einer armen, ausschließlich agrarisch nutzbaren Region eine innovative Idee von kunstvoll „veredelter Natur“ darstellte, fand im Industrialisierungsschub des 20. Jahr-hunderts durch den Abbau und die Nutzung der Braunkohle-vorkommen sein Ende bis hin zur akuten Krise. Doch auf den ideellen Ressourcen des Fürsten aufbauend, arbeitet eine Projektgruppe im Bauhaus Dessau seit Mitte der 1990er Jahre am Konzeptentwurf eines industriellen Gartenreichs, in dem die Umwelt in ihren natürlichen, geschichtlichen und sozialen Verhältnissen gleichermaßen respektiert wird. Für diese Region, in der die Industriewüste Bitterfelds unmittelbar an das Weltkulturerbe Dessau-Wörlitzer Gartenreich angrenzt, ist dieses Projekt seit langer Zeit ein Novum, das nicht Politik und Wirtschaft, sondern ein künstlerischer Entwurf bereitgestellt hat. Sinnliche Sensibilität für den Ort manifestiert sich in diesem künstlerischen Programm ähnlich wie in den Mackschen Orientierungstopographien aus Licht und Farbe. Wie nötig wir die Wahrnehmung spezifischer Ortsbedingungen heute haben, machen wir uns immer dann bewußt, wenn wir den Natur-verlust und die Unwirtlichkeit unserer Stadträume sinnlich empfinden. Die Erfahrung solchen Ungenügens ist für Mack der Bewegungsimpuls eines jeden utopischen Entwurfs, sei es eine Rauminszenierung, eine Zeichnung oder eine Brunnenscheibe auf einem Platz: „Das Kunstwerk hat seinen eigenen Raum, seine eigene Zeit, sein eigenes Licht. Irrational ist seine Fremdheit und seine besondere Sichtbarkeit, wodurch es in Nachbarschaft zur Natur bestehen kann, selbst wenn diese außergewöhnlich reich ist an Formen, Farben, Größe, Rätsel.“

 

 

Der Essay erweitert Reflexionen, die 1998 von der Autorin für das Buch Heinz Mack: >Utopie und Wirklichkeit< formuliert worden sind.

1 Seit den frühen 1990er Jahren hat sich Heinz Mack der Skulptur zugewandt, wobei er unter Skulptur im klassischen Begriffssinn das bearbeitete raumplastische Bildzeichen aus Holz, Stein oder Metall versteht. Diese Skulpturen stehen immer in Korrespondenz zu ihrem Umraum, und „sie finden eine natürliche Nachbarschaft zur Natur“.

2 Nach Adrian von Buttlar geht die Nachbildung des Vestatempels in der römischen Villa d’Este auf den Villengarten des Plinius zurück. Siehe dazu das Einleitungskapitel zu Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989, S. 7ff.

3 Jan van der Groen:Le jardinier du Pays-Bas etc., Bruxelles 1672, S.3.

4 Christian Geelhaar: Paul Klee und das Bauhaus, Köln 1972, S.120.

5 Siehe dazu Philippe Büttner: Ornament und Erinnerung – Matisse, Kandinsky und Mondrian, in: Markus Brüderlin, Fondation Beyeler (Hrsg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen. Moderne und Gegenwart im Dialog, Fondation Beyeler, Riehen/Basel 2001, S.46.

6 Siehe Walter Benjamins >Zentralpark< -Fragmente von 1938/39, wo es heißt: „Ableitung der Aura als Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert“ (I, 670) und den Aufsatz >Einige Motive bei Baudelaire< von 1939: „Dem Blick“, so Benjamin, „wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (…), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. >Die Wahrnehmbarkeit<, so urteilt Novalis, ist >eine Aufmerksamkeit<. Die Wahrnehmbarkeit, von der er spricht, ist keine andere als die der Aura. Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen“ (I, 646).

7  Siehe Walter Benjamin, erstes Exposé zum >Passagen<-Werk, 1935: „Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären“ (V, 46f.).

8 Siehe hierzu Birgit Wagner: Gärten und Utopien. Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung. Reihe Junge Wiener Romanistik, Wien-Köln-Graz 1985, bes. das Kapitel >Utopische Gärten<,  S. 126ff.

9 Klaus Börner: Prélude – Paradies-Vorstellungen, in: Georg-W. Költzsch (Hrsg.): Paul Gauguin – Das verlorene Paradies, Ausst.-Kat. Museum Folkwang Essen und Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie 1998, S. 12.

10 Yvonne Schwarzer: Kunst Porträt. Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten. Ein Gespräch mit dem Maler und Bildhauer Heinz Mack, ars momentum 2004.

11 Louis-Antoine de Bougainville: Voyage autour du monde par la frégate la Bondeuse et la flute l’Etoile, Paris 1771.

12 Siehe Norbert Eisold: Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Der Traum von der Vernunft, Köln 1993.  

 

 

© Karin Thomas 

 

(In: „Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“. Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack. In: Mack. Transit zwischen Okzident und Orient. Faszination und Inspiration der islamischen Kultur. Ein Werk-Aspekt 1950-2006. Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag 2006, S. 43-49.)

Die architektonische Komposition des Raumes als Abbild des Himmlischen Kosmos

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2005

Die architektonische Komposition des Raumes als Abbild des Himmlischen Kosmos

 

Noch heute bewundern wir  die gewaltigen Anstrengungen, die das mittelalterliche Abendland mit der Errichtung der romanischen und gotischen Kathedralen vollbracht hat. Staunend stellen wir uns die Frage, wie die Menschen, die damals zumeist auf engstem Raum in dunklen Behausungen lebten, zu solchen ehrgeizigen Leistungen und finanziellen Opfern fähig waren. Aus den Quellen zum Bau der heute zerstörten Kirche von Saint-Trond bei Lüttich erhalten wir ausführliche Auskunft darüber, wie die Gläubigen „in großer Frömmigkeit freiwillig Steine und Säulen aus Köln auf ihren Wagen zur Baustelle fuhren“, und aus anderen Berichten erfahren wir auch, daß Bauern Nahrungsmittel zu billigen Preisen in die Werkstätten der Kathedralen lieferten. Und doch ist die verbreitete Vorstellung, die großartigen Kirchenbauten des Mittelalters seien Denkmäler überbordender christlicher Frömmigkeit der jeweils ortsansässigen Bevölkerung eine romantisierende Legende. Tatsächlich waren Bischöfe mit fürstlichem Status und Äbte reicher Klöster Bauherren der großen Kathedralen und Abtei-kirchen, und der Klerus bediente sich zur Ausführung seiner Bauvorhaben geschulter Baumeister und ambulanter Werk-gemeinschaften, die von Baustelle zu Baustelle zogen.

 

Der sakrale Raum bot den Priestern und Mönchen den geweihten Ort für den Vollzug der liturgischen Gebete und Gesänge sowie für die Verkündigung der christlichen Lehre an die weithin leseunkundigen Gemeinden. Wesentlicher Gehalt der Heilshandlungen ist die Leidensgeschichte Christi zur Erlösung der Menschheit, und eine der großen Errungenschaften der romanischen sakralen Kunst bestand darin, in ihren plastischen und malerischen Bild-werken dieser Heilserzählung sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Wie die Triumphbögen Roms die Siege der römischen Kaiser über den barbarischen Feind in ihrer steinernen Monumentalität verherrlichten, verkünden die Skulpturen und reliefartigen Szenarien an den Portalen und Säulenkapitellen der romanischen Kirchen den Triumph des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Den antiken Basiliken vergleichbar, schaffen die von mächtigen Pfeilern gestützten und von anspruchsvollen Gewölbe-konstruktionen überdachten Gotteshäuser den auratischen Raum für die Feier des Dialoges mit dem Himmlischen Kosmos und der Vergegenwärtigung der Heilstat Christi in der Eucharistie.

 

Raum war in der mittelalterlichen Vorstellung weit entfernt von der abstrakten Begrifflichkeit, die wir in der Moderne ausgebildet haben. Raum war sichtbare Ausdehnung, meßbares Intervall, und seine überwältigende Wirkung in der erhabenen Weite und Höhe der Kathedralen verlebendigte die Worte der apokalyptischen Vision des Johannes aus der Offenbarung 21: „Ich sah, wie die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkam. Sie war festlich geschmückt wie eine Braut, die auf den Bräutigam wartet (…), und der Engel trug mich auf die Spitze eines sehr hohen Berges. Er zeigte mir die Heilige Stadt Jeru-salem, die von Gott aus dem Himmel herabgekommen war. Sie strahlte die Herrlichkeit Gottes aus und glänzte wie kostbarer Stein, wie ein kristallklarer Jaspis. Sie war von einer sehr hohen Mauer mit zwölf Toren umgeben.“  Die strahlenden Kaskaden regenbogenfarbigen Lichts, die durch die kunstvoll verglasten Fensterrosetten in die Kathedralen einströmten und die homophone Meditationsmelodik Gregorianischer Choral- und Antiphongesänge gaben dieser Vision des neuen Jerusalem kristallinen Glanz und akustischen Widerhall in einem Raum, dessen Dimensionen die Empfindung der menschlichen Körper-größe auf Zwergenmaß reduziert haben mag.

 

Romanische und gotische Kunst sind Amalgamgebilde aus viel-schichtigen Einflüssen. Der Terminus >Romanik<, den die Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts prägten, betont die seit Karl dem Großen vollzogene Wiederbelebung der römischen Antike unter christlichen Vorzeichen. Doch darüber lagern sich auch die labyrinthische Flechtornamentik der insularen Kunst sowie Einflüsse aus Byzanz in der Darstellung des Himmlischen Kosmos mit der Majestas Domini, der Muttergottes, den Aposteln und Heiligen sowie den himmlischen Heerscharen. Obwohl die große Kathedralarchitektur auf englischem Boden mit der Herrschaft der normannischen Invasion begann, ist die angelsächsische Spätromanik kein kolonialer Baustil nach nordfranzösischem Vorbild. Wenn auch die englischen Kirchenräume in ihrer Raumatmosphäre französischen Vorbildern folgen, konnte sich eine insulare Eigenständigkeit in den Wandaufbauten und Gewölbekonstruktionen entwickeln, die erst unter Heinrich VIII. mit dem Ende der katholischen Kirche in England verebbt.

 

Die Kreuzzüge brachten die kriegerische Auseinandersetzung der Kreuzritter mit den Osmanen, aber auch das Eindringen islamischer Motive und bordenartigen Dekors in das christliche Baukunstprogramm von Südwestfrankreich, Nordspanien und Sizilien. Die akute Gefährdung des Oströmischen Reiches durch türkische Eroberungen löste die das gesamte christliche Europa erfassende Bewegung der Kreuzzüge aus. 1095 erbat eine byzantinische Gesandtschaft den Beistand des Papstes. Am 18. November 1095 berief Papst Urban II. ein Konzil ein, das zur Befreiung der im Orient lebenden Christen und der Heiligen Stadt Jerusalem aufforderte und den Teilnehmern des Kreuzzuges den Sündenablaß versprach. Als heiligste Stätten der Christen waren die Orte des Leidens und das Grab Christi wesentliche Motivation für die Eroberung Jerusalems. Im Herbst 1096 brach das erste Kreuzfahrerheer auf und eroberte am 14./15. Juli 1099 Jerusalem. Auf dem beschwerlichen Weg nach Osten mußte der Kampfesmut durch wundersame Reliquienfunde wie die der Heiligen Lanze immer wieder neu entfacht werden, und weitere fünf Kreuzzüge waren notwendig, um die Eroberung Jerusalems zu sichern, bis die letzten Kreuzfahrer unter französischer Führung der muslimischen Übermacht unterlagen und Jerusalem 1244 endgültig verloren ging. Kulturell getragen wurde der Impuls der Kreuzzüge von einer burgundisch-provenzalischen Ober-schicht, in der die Gesellschaftskunst der Troubadore herangereift war und sich geistliche Musik in der Gestalt der Gregorianischen Choräle und lateinischer Hymnen in den Abteien und Domen entfalten konnte.

 

Als multinationale Organisation war die Kirche im Mittelalter wichtigste Instanz für die Verbreitung künstlerischer Kenntnisse in Anbindung an die Verkündung der christlichen Heilsbotschaft, da sie mit dem Lateinischen eine einheitliche Sprache besaß. Große Förderung erlebten Architektur, Skulptur, Buch- und Glasmalerei durch das Klosterleben, das Mönchen und Nonnen neben dem Gebet auch  künstlerische Betätigung und Ideenaustausch im Kontext der Ordensniederlassungen ermöglichte. Eng mit den Klöstern verbunden waren Wallfahrten und Pilgerreisen zu den Reliquien  von besonders verehrten Heiligen. Die drei populärsten Pilgerwege führten nach Jerusalem, nach Rom mit den Reliquien von Petrus und Paulus sowie nach Santiago di Compostela, wo angeblich der Leichnam des Apostels Jakobus des Älteren mit einer von der göttlichen Vorsehung gelenkten Schiffsbarke angelandet war. Auf den Reiserouten boten die Klöster den Pilgern Herberge und geistliche Erbauung. Um den Reliquien einen feierlichen Rahmen zu verleihen, entstanden prächtige Kirchen-bauten wie die der hl. Magdalena geweihte Kirche von Vézelay, die sich auf einem der festgelegten südfranzösischen Reisewege nach Santiago di Compostela befand.

 

In den hochgotischen Kathedralen Frankreichs wird die reich verzierte Westfassade zum sichtbaren Anklang an die „Wohnungen des Himmlischen Jerusalem“ (Joh. 14,2). Die Weihenamen vieler französischer Kathedralen wie die von Chartres, Reims, Amiens und L’Epine bekunden die Gestalt Mariens als Bindeglied zwischen Gott und den Menschen.  Die filigranen Kirchenbauten der Gotik verwandeln sich mit ihrer durch Strebebögen, Maßwerkfenster und schwerelos aufragende Bündelpfeiler erzeugten ätherischen Vertikalität zum Abbild des himmlischen Raumes, in dem sich das Licht des Göttlichen materielos niederschlägt. König Ludwig IX. von Frankreich, der den Beinamen >der Heilige< erhielt,  ließ inmitten seines Königspalastes auf der Pariser Ile de la Cité ein gigantisches Reliquiar, die Sainte-Chapelle, zur Aufbewahrung der Leidenswerkzeuge – u.a. der Dornenkrone, die er von Byzanz erworben hatte – errichten. Der vom kaleidoskopischen Licht der Buntglasfenster entmaterialisierte Raum machte die Sainte-Chapelle zum locus sanctus, von dem sich auch das kapetingische Königshaus mit weihevoller Glorie überhöhen ließ.

 

Italien nahm an der gotischen Baukunst keinen wesentlichen Anteil, und schon in der frühen Renaissance betrachtete man in Florenz und Rom den Stil der Strebebögen als >barbarische< Abkehr von den Errungenschaften der auf ausgewogenen Proportionen fundierten antiken Baukultur.  Orientiert an den 27 v. Chr. geschriebenen Zehn Lehrbüchern über Architektur und Bautechnik des römischen Bauingenieurs Vitruv verfaßte der Florentiner Künstler und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti eine Proportionslehre, die er an den Intervallverhältnissen antiker Gebäude exemplifizierte. Besondere Würdigung widmete Alberti 1435 der kurz zuvor von Filippo Brunelleschi vollendeten Kuppel des Florentiner Domes, die er überschwenglich als derart groß beschrieb,  daß „die gesamte Bevölkerung der Toskana in ihrem Schatten Platz finden könnte“. Was Alberti als kühne Neuerung bewunderte, war die technische Großtat eines riesigen Kuppelbaus, der zum Symbol eines neuen Stils, der Renaissance, werden sollte.

 

Schönheit ist für Alberti Übereinstimmung der Teile zum Ganzen, und gemäß dieser auf ausgewogenenen Proportionen gegründeten Harmonievorstellung sieht er eine Analogie zwischen der Architektur und der Musik. Ein Zeitgenosse Albertis, Guillaume Dufay, komponierte in diesem Geist anläßlich der Florentiner Domeinweihung am 25. März 1436 die Motette >Nuper rosarum flores<, die in ihrem Aufbau vielfachen Bezug auf die Architektur nimmt. David Fallows erläutert diese Intervallkongruenz zwischen der Raumkomposition der Architektur und den Zeitproportionen der Motette sehr konkret: Dufay „baut sein Nuper rosarum flores auf zwei tieferen Stimmen auf, die viermal mit verschiedener Geschwindigkeit in einem Längenverhältnis von 6:4:2:3 auftreten – das entspricht dem Verhältnis von Schiff, Vierung, Apsis und Höhe der Kuppel im Dom“. Mit ihrer eleganten Außenhülle prägte die Kuppel Brunelleschis die Kulisse der Stadt Florenz und wurde – anders als der in die himmlischen Sphären weisende Turm der Gotik – zum Symbol städtischen Reichtums und mäzenatischen Selbstbewußtseins, das vor allem die kunstsinnigen Medici zu demonstrieren verstanden.

 

Die von der Antike inspirierten Zehn Bücher über die Architektur von Alberti beeinflußten auch die päpstliche Baukunst in Rom, wo in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Peterskirche nach dem Vorbild der antiken Maxentius-Basilika und des Pantheon umgestaltet wurde. Am 18. April 1506 legte Papst Julius II. den Grundstein für die neue Peterskirche, deren Bau in der Folgezeit ein Jahrhundert beanspruchen wird. Nach den Entwürfen Bramantes sollte ein kolossaler Zentralbau über dem Grundriß eines griechischen Kreuzes innerhalb eines quadratischen Außenbaus entstehen. Die Kuppel nach dem Modell des Pantheons sollte die triumphierende Kirche als Vermittlerin zwischen Geist und Materie, zwischen den himmlischen und irdischen Sphären versinnbildlichen, letztere repräsentiert durch die Päpste in der Nachfolge von Christus und Petrus.

 

Im Bauentwurf für den Tempietto auf dem römischen Monte Gianicolo, wo frühen Chroniken zufolge Petrus mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sein soll, griff Bramante die Zentralität der Peterskirche wieder auf und gestaltete den Rundtempel ganz nach den antiken Lehren Vitruvs. Den Durchmesser von 16 altrömischen Säulen, die er für den Bau zur Verfügung hatte, benutzte Bramante als Proportionsgrundmaß. So beträgt der Abstand zwischen den Säulen das Vierfache, ihr Abstand zur Raumwand das Zweifache ihres Durchmessers. In dieser Dehnung und Öffnung des Raumes nach außen manifestiert sich der von Petrus ausgehende Missionsauftrag der römischen Kirche in der geometrischen Perfektion der Architektur. Eine vergleichbare harmonische Proportionalordnung wie die des Tempietto sah auch Bramantes Entwurf für den Außenbau des Petersdoms vor, Michelangelos spätere Ausführungen brachen jedoch mit den antiken Regeln zugunsten eines dynamischen Aufwärtsdrangs in Gestalt von Doppelpilastern.

 

In Venedig, wo der Byzantinismus bis in die Renaissance hinein den Kirchenbau prototypisch bestimmte, war es Andrea Palladio, der mit San Giorgio Maggiore und Il Redentore die Neudefinition des sakralen Raumes nach antikem Muster einführte.  Als der Senat der Serenissima nach einer verheerenden Pestseuche 1576 den Beschluß faßte, eine Votivkirche zu Ehren des Erlösers zu errichten und Palladio mit dem Bauauftrag betraute, hatte der Baumeister eine dreifache Aufgabe zu erfüllen. Il Redentore sollte Votivkirche, Prozessionskirche – für die alljährliche Stadtprozession am 21. Juli – und Klosterkirche der Kapuzinermöche sein. Allen diesen unterschiedlichen Funktionen trug Palladios Raumkonzept Rechnung. Der zum Wasser hin gelagerte, weithin sichtbare Portikus bildet wie eine antike Tempelfront den einladenden Introitus zum Langhaus, in dem sich das letzte Stück des feierlichen Prozessionsweges vollzieht. Hat der Gläubige das von Langpfeilern rhythmisierte Langhaus durchschritten, öffnet sich ihm der von einer mächtigen Tambourkuppel überwölbte ovale Zentralraum des Presbyteriums, in dessen Rundung sich die Unendlichkeit Gottes versinnbildlicht. Abgetrennt von den vorderen Raumkompartimenten dient die Exedra hinter der Rotunda ausschließlich der mönchischen Andacht. Sinnfälliger kann der Kontrast zwischen den byzantisierenden Figurationen von San Marco und der antikischen Klarheit von Il Redentore nicht sein: Statt irisierender Farbigkeit vor schwerem Gold strahlt ein puristisches Weiß symbolhaft für die Reinheit des göttlichen Geistes.

 

In den Kirchen des süddeutschen Hochbarock, die den ekstatischen Geist katholischer Glaubenserneuerung nach den Herausforderungen durch die Reformation und den Greueln des Dreißigjährigen Krieges atmen, dient eine übersprudelnde Prachtentfaltung dazu, die Herrlichkeit des Göttlichen als raumgreifendes Andachtsbild den Sinnen erfaßbar werden zu lassen. Bestimmten in der Renaissance die mathematischen Regeln einer harmonischen Proportionalität die Baukunst, intendiert barocke Architektur die Überwältigung des Auges. So gleitet der Blick des Gläubigen über das strahlende Weiß der Freipfeiler, Wandaufbauten und Putti zu den jubelnden Farbrhythmen von Stuckmarmor, Kartuschen und Draperien, um in den illusionären Malereien riesiger Gewölbeovale paradiesische Seligkeit im Angesicht Gottes, Marias sowie der Heiligen und Märtyrer als bildliche Vision zu erleben. Ähnlich wie in der Gotik schafft die barocke Sakralarchitektur den Rahmen für ein spirituelles Gesamtkunstwerk, das sich im feierlichen Vollzug der Liturgie und der kirchlichen Gesänge, begleitet vom Duft des Weihrauchs, meditativ konstituiert. Zu den zentralen Ausstattungen der Barockkirche treten neben Altar und Kanzel die Orgel und die Empore für den Chor. Messe-Kompositionen zu den Texten der Liturgie, Oratorien und Kantaten bringen mit Chorgesängen, Da-capo-Arien und instrumentalen Zwischenspielen eine polyphone Rhetorik in die Kirchenmusik ein, deren drama-tischer Gestus seinen Widerhall im konzertierten Theatrum sacrum von Architektur, Dekor und Malerei erfährt.

 

Idyllisch in die Landschaft eingebettete Wallfahrtskirchen, denen sich die Gläubigen häufig auf mehrtägigen Fußmärschen näherten, um Gnade oder Gesundung von körperlichen und seelischen Gebrechen zu erflehen, reagieren in ihrer Baustruktur auf die Kulisse ihrer Umgebung und holen die Schönheiten der Natur in Gestalt floralen Dekors in ihre Innenräume hinein. So erhebt sich die Birnau mit ihrem haubenbekrönten Turm als Schauseite weithin sichtbar auf einer Weinbergterrasse über dem Bodenseeufer, während die Dachlinie der oberbayerischen Wieskirche in Steingaden die gestufte Silhouette der hinter den Wiesen sich aufbauenden Tauchberge nachzeichnet.

 

Mit der 1754 geweihten Wies, die das wundertätige Gnadenbild des >Gegeißelten Heiland< beherbergt, schuf Dominikus Zimmermann die vollendete Raumform einer Wallfahrtskirche. Der Gedanke der Erlösung von allem Übel durch das Leiden Christi bestimmt das Bildprogramm des Altars und gipfelt im Deckengemälde von Johann Baptist Zimmermann.  Das Kreuz schwebt als Zeichen ewiger Versöhnung mit der Menschheit im strahlenden Zentrum des Bildes. Hell in das Kirchenschiff einfallendes Tageslicht verbindet den realen Raum, in dem sich die Pilger in andächtiger Meditation aufhalten, mit dem illusionistischen Raum der gemalten Himmelsanschauung, die vorwegnimmt, was die Pilger für das Ende ihres Lebensweges ersehnen: den Eintritt in die Herrlichkeit Ewigen Lebens.

 

Eine besondere Vorliebe für die Rotunde verbindet die Barock-architektur mit der Renaissance. Balthasar Neumann wählt den von vier Freisäulen flankierten Rundtempel als Mittelpunkt der Benediktinerabteikirche Neresheim und läßt in ihn Langhaus und Chorraum einmünden. Auch Johann Bernhard Fischer von Erlach konzipiert das Kernstück der Wiener Karlskirche als Oval, um das sich Chor und Kapellen reihen. Markante Akzentuierung erhält diese Raumkonzeption durch die mächtige Tambourkuppel, die sich über dem Kernoval wölbt. Ihre Innenrundung schmückte der kaiserliche Hofmaler Johann Michael Rottmayr 1725 bis 1730 mit einem in leuchtenden Farben gehaltenen Deckenfresko, das den hl. Karl Borromäus in der Glorie zeigt. Der Renaissancegeist des päpstlichen Rom und die Herrschaftsattitüde der deutschen Kaiseridee spricht aus dem von zwei mächtigen Triumphsäulen gerahmten antikisierenden Tempelportikus. Anders als die auf Andacht ausgerichteten Wallfahrtskirchen ist die Karlskirche nicht nur sakraler Ort, sondern auch Machtmonument unter dem Habsburger Kaiser Karl VI., regierte dieser doch über ein Reich, in dem – wie ein geflügelter Spruch stolz verkündete – „die Sonne nicht unterging“.

 

In Österreich verarbeiteten die Baumeister unter der Habsburger Dynastie das schöpferische Potential der vorausgegangenen Renaissance, ließen sich aber nicht vom strengen Regelkanon der auf Vitruv basierenden Traktatliteratur einengen. Sie verbanden die Wiedergeburt der antiken Baukunst mit einer phantasiereichen Theatralik, in der die Pracht des schönen Scheins und zeremonielle Frömmigkeit gleichermaßen Ausdruck finden. Jacob Burckhardt sah daher in der Baukunst des 18. Jahrhunderts das „eigentliche Ende“ und das „glanzvolle Hauptresultat“ der epochalen Architekturgeschichte im christlich geprägten Abendland.

 

 

© Karin Thomas

 

In: Himmlische Harmonien. Heilige Räume und geistliche Musik.(Architekturfotografien von Achim Bednorz).Mit 2 CDs.Köln: DuMont 2005, S. 7-13.)

Laudatio auf Cornelia Schleime

Text als Word-Dokument downloaden: Laudatio_auf_Cornelia_Schleime.doc

2004

Laudatio auf Cornelia Schleime

Es gibt heute nur wenige Künstler und Künstlerinnen, die subjektive Authentizität, d.h. die unklischierte Realität ihres Ego in eine ästhetische Sprachform transformieren. Zumeist wird das fiktionale Bild eines individuellen Lebensstils als Identitätsaussage inszenatorisch aufbereitet. Bei Cornelia Schleime ist das anders. Ihrer nie versiegenden Malleidenschaft folgend, setzt sich die Künstlerin immer wieder von neuem den Spannungen kontroverser Erfahrungen und daraus aufkeimender Empfindungen aus. Der Vollzug des Zeichnens und Malens reagiert auf Wahrnehmungen der Gegenwart, reaktiviert ins Unbewusste abgesunkene Eindrücke, die oft bis in die Kindheit zurückreichen, und konstruiert das künstlerische Bild als Metapher für die Amalgamierung der erinnerten Erfahrung mit dem Jetzt- Empfinden.

Die jüngst entstandene Bilderserie, die sich dem seit 1978 amtierenden Papst Johannes Paul II. in komplexen Umkreisungen zu nähern sucht, ist signifikantes Beispiel der bildnerischen Strategie. Offensichtlich der Presse entnommene Vorlagen werden in einer malerischen Anverwandlung ihrer glatten Medienästhetik entzogen und auf Widersprüche der Person und der Institution Kirche zentriert. In dem Maße, in dem Cornelia Schleime mit dem Sog eines aus brüchiger Farbigkeit entwickelten Zooms das Gesicht des von Krankheit gezeichneten Papstes aus den Verpuppungen der Amtstheatralik herausholt, projiziert sie ihre Erinnerungen an die katholischen Rituale ihrer kindlichen Erziehung und daraus resultierende Reflexe ihrer Psyche in die Porträtserie hinein. Was sie an Johannes Paul II. anzieht, ist die Auswirkung biografischer Erfahrungen während der nationalsozialistischen deutschen Okkupation und der kommunistischen Diktatur auf die Art und Weise, wie der Pole Karol Wojtyla seine Amtspflichten ausübt. Wie kein anderer Papst vor ihm nimmt er die sozialen und weltpolitischen Probleme der Zeit  in den Blick und lässt sich dennoch in seinen konservativen Moral-vorstellungen nicht am Zeitgeist messen. Die Antizipation paradiesischer Erlösung in den Transzendenzgebärden der Liturgie hat seine mahnende Sicht auf die apokalyptischen Dimensionen menschlichen Unrechts in unserer Zeit nicht verunklaren können. Mit ihrem ausgeprägten Gespür für Rollen- und Selbstdarstellungsgesten registriert Cornelia Schleime die Brüche zwischen dem medienwirksam ausstrahlenden Charisma und der Unangepasstheit dieses Menschen, die ihr Rückbezüge auf eigenen Befindlichkeiten erschließen. Es ist dieses besondere Persönlichkeitsprofil, durch das Johannes Paul II. in der malerischen Anäherung für Cornelia Schleime ein Teil ihrer Selbstbezogenheit wird.[1]

Dabei besitzen Zeichnen und Malen unterschiedliche Dis-positionen. Zeichnungen sind keineswegs Vorstudien oder Entwürfe für Gemälde, sondern eigenständige spontane Notate, in denen sich wie in einem Zettelkasten Eindrücke aus flüchtigen Momenten und Eingebungen der Phantasie sammeln. Dagegen ist die Malerei konstruktive Annäherung an ein Nicht-Gewusstes; in ihr „gerinnt die Zeit“[2], lösen sich die Fesseln des Wissens, hebt sich die Grenze zwischen der äußeren Welt und dem eigenen Innern auf. In einem Gespräch mit Christiane Bühling beschreibt Cornelia Schleime den Malprozess als Spurensuche ihrer „inneren Sehnsucht“ nach etwas, von dem sie „selbst nicht weiß, wie es aussieht, das in der Arbeit aber Gestalt annimmt“.[3] Ihre Bilder visualisieren somit das Exerzitium eines in Werkserien sich vollziehenden und immer wieder neu einsetzenden existenziellen Fragens – ein Prozess, durch den die Künstlerin zu sich selbst findet. In einem Statement bekennt sie: „Ich kann mich nur aushalten, wenn ich male, sonst bin ich unerträglich.“[4]

Auf einem Erinnerungsfoto von 1993 gibt uns die Künstlerin Einblick in ihre Strategie der Entgrenzung von Zeit und Raum, mit der sie ihre Subjektivität im Kunstprozess durchleuchtet. Auf dem gestellten, mit Selbstauslöser belichteten Foto sehen wir sie als Mädchen im kurzen Trägerkleid. An überlangen Zöpfen, die fortan das Leitmotiv einer größeren Werkgruppe sein werden, zieht die kindliche Person einen Kinderwagen rückwärts. Doch festen Schritts setzt sich das Mädchen, das die Zukunft seines Erwachsenseins bereits hinter sich herschleppt, der Vergangenheit aus. Diese biografische Erinnerung, die Erlebnisse aus der eigenen Kindheit ebenso wie Erfahrungen als junge Mutter mit dem Sohn Moritz einschließt, entfaltet in Zeichnungen langbezopfter, in ihrer unbewußten erotischen Ausstrahlung aufreizender Mädchen ein vielgesichtiges Eigen-leben. Die aus dem Aquarellkasten fließenden Zopfkapriolen changieren zwischen den Zwangsritualen srangulierender Haar-bändigung und fühlerhaft sich verselbständigenden Wuche-rungen. In ihnen verschlüsseln sich gleichermaßen erotische Phantasien und psychische Albträume der Pubertät mit der Doppelbödigkeit der Parodie.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang noch eine weitere Fotografie, die Cornelia Scleime mit einer signifikanten Übermalung bis heute als Selbstporträt auf ihrer Visitenkarte verwendet. Das Foto entstand 1992 in Afrika während ihrer Studienreise durch Kenia und zeigt die Künstlerin an der Delta-Mündung des Tana-Flusses in den Indischen Ozean. Ihren Körper hat sie mit weitgreifenden fühlerhaften Schwingen ausgestattet. Diese Sehnsuchtsmetapher für einen Ego-Zustand, der die Überwindung der Koordinaten von Raum und Zeit ermöglicht, taucht als Motiv schon ein Dutzend Jahre zuvor, in einer Radierung von 1980, auf, als die Künstlerin – noch an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studierend – vieles erprobte, um den normierten Vorstellungen einer Kunst im gesellschaftlichen Auftrag zu entfliehen. Eckhart Gillen, der diese Radierung in seinem Beitrag zum Katalog Tiefe Blicke 1985 abgebildet hat, beschreibt aus eigener Beobachtung das Lebensgefühl, das Cornelia Schleime in dieser Zeit für sich kultivierte, als Rückzug in ihre Träume mit Hilfe von „virtuellen Reisen“, die sich in übermalten Kunst-reproduktionen niederschlagen. In der Sächsischen Landes-bibliothek Dresden findet sie bei Francis Bacon, Arnulf Rainer, Cy Twombly parallele Bildgesten zu ihrer eigenen Innenwelt.[5] Großformatige Horizontbilder formulieren – durchglüht von einer gelbbraunen Patina – ein romantisches Panorama der Innerlichkeit als Gegenbild zu den ideologiegesättigten Gesellschaftsentwürfen des offiziellen DDR-Sozialismus. Mit dem Blow-up einer Filmbildprojektion konzentrieren sie sich gänzlich auf den Mikrokosmos der Psyche. Fragile Gestalten, die Selbstbildnishaftes in sich bergen, balancieren auf einer Scheidelinie zwischen Nähe und Ferne oder versuchen den Kokon ihrer Einschnürung abzustreifen. Piktogrammhafte Zeichensetzungen auf Transparentpapier, das von Licht durch-leuchtet wird, performative Malaktionen und partiturhafte Bilderskripten, deren poetischer Fluss aus der Choreografie des Unterbewussten aufsteigt, erproben ein agogisches Aufschreiben von Imaginationen, das der surrealistischen écriture automatique verwandt ist.

Solcher Eigen-Sinn wird 1981 von den DDR-Behörden mit Ausstellungsverbot geahndet. Die Künstlerin antwortet darauf mit der Beantragung ihrer Ausreise. 1984 verlässt sie die DDR, ihr Œuvre muss sie in Ostberlin zurücklassen, es wird für immer verschwunden bleiben. In der westdeutschen Kunstszene erfährt sie – wie auch andere ihrer Ostberliner und Dresdner Freunde, die ebenfalls von Ost nach West wechseln – „eine Ernüchterung ihrer Sicht auf die Dinge und die Welt.“[6]

Dünne Farb- und Tuscheflüsse, die sich zunächst sanft über Japanpapier ausbreiten, erhalten plötzlich im spontanen Einfall von Härte und Schwere eine mit Sand, Leim und Kaffeesatz erzeugte rauhe Tektonik ihrer Oberfläche. Über den leicht-füßigen Tanz anmutiger Körpergebärden lagern sich spröde Elemente des Alltäglichen. Figurationen graben sich als Ritzungen in die Farbhaut ein. In den narrativen Momenten des Malprozesses spiegeln sich die kontroversen Erfahrungen des Lebensablaufs. Schon bald wird sich diese Spannung auf den Gemälden farbmateriell in einem abrupten Nebeneinander von hellen transparenten Tonflüssen vor krustig dunklen Asphaltlackhinterlegungen verfestigen.

Selbstbildnisse, die sich hinter Werktiteln wie Beinahe selbst, Windsbraut, Wanderdüne oder Explosion verschlüsseln, durchleuchten die Reaktionen der Sinne und der Psyche auf eine Zeitgenossenschaft in einem veränderten Gesellschafts-kontext. Das im Osten kultivierte sentimentale Lebensgefühl einer subjektiven Autarkie, die sich in der Kunst gegen eine reglementierte Masse Mensch zur Wehr setzt, relativiert sich nun an den lockenden Klischeebildern des kapitalistischen Konsums. Die traumverlorene Innenwelt der früheren Jahre hat an Boden verloren, eine vitale Neugier sucht nach dem Fremden, um eine innovative Einkreisung der eigenen Identität zu leisten. Dieser rigorose Anspruch schlägt sich in Tage-büchern nieder, deren Oszillogramme sowohl die Grundmuster des urbanen Lebensgefühls in einer westlichen Großstadt wie auch die veränderte Selbstwahrnehmung in Gestalt von Wort- und Zeichnungsniederschriften erfassen. In dieser intuitiven Interaktion fluoreszierender Bilder und Texte friert der Kunstvollzug zentrale Augenblicke des täglichen Erlebens ein, verlängert sie in die Zukunft und ermöglicht zugleich ein diskursives Feedback zu den gespeicherten Erinnerungen, die bereits früher malerischen Niederschlag gefunden haben.

Als die Mauer Ende 1989 fällt, lässt Cornelia Schleime die ostdeutsche Vergangenheit hinter sich, in die sie die Begegnungen mit den alten Freunden aus dem Osten noch einmal zurückholen könnten. Ausgestattet mit einem Jahresstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, das ihr den Aufenthalt im legendären Atelierhaus P.S.1 ermöglicht, setzt sie sich den überbordenden Oberflächenreizen vo New York aus. In Bann gezogen von dem Bilderecycling des Trivialen in der Werbung und den Inszenierungen des Starkults imitiert sie in eigenen Kostümierungen die Posen und Gebärden, die sie in der Reklame- und Glamourwelt verortet. Mit dem Malpinsel erprobt sie Methoden der Übertreibung, wobei der Effekt des Theatralischen von Ironie hinterfangen wird. Mäuse verknäueln einander mit endlosen Schwänzen, und Bilderserien von Bananen, Porree- und Spargelstangen haben ein maßlos übertriebenes Längenformat. Neben derartig parodistischen Anverwandlungen von Pop-Art-Strategien lassen sich persiflierende Übernahmen konzeptueller Serieneffekte beob-achten, die sich zu Wiederholungen und rituellen Variationen eines Themas verselbständigen und 1996 in den Tuscheblättern langbezopfter Mädchen kulminieren werden. Auffallend an Schleimes New York-Aufenthalt ist die Brechung der Glamour-Faszination in einer Distanz, die sich je nach Befindlichkeit zwischen Ironie und Melancholie bewegt.

Um 1994 bündelt sich der bildnerische Zugriff auf die Erfahrungen der Realität ausschließlich in Malerei und Zeichnung. Eine breit gefächerte Palette von Gemäldeserien, die allesamt spezifische Aspekte des klassischen Porträtgenres in sich tragen und sich dieser Zuweisung dennoch entziehen, thematisiert Differenzen zwischen Pose und Individualität.

Den Gemälden ging zwischen 1992 und 1993 eine Folge von fotografischen Selbstinszenierungen voraus, in denen Cornelia Schleime nach Akteneinsicht den Observierungen ihrer Person durch die Zuträger der Stasi einen bildnerischen Reflex gab. Besonders getroffen fühlte sie sich von jenen Berichten, die inoffizielle Mitarbeiter über ihre Intimsphäre angefertigt hatten. Als sie diese las, hatte sie das Gefühl, man hätte ihr die Vergangenheit gestohlen. Mit hyperbolischer Ironie kommen-tierte sie ihrerseits die denunziatorischen Kommentare ihrer Person und holte sich mit künstlerischen Dynamisierungen der Vergangenheit ein verlorenes Stück ihrer Individualität zurück.

An Porträts von Schauspielerinnen wie Marylin Monroe oder Liz Taylor, deren Starkult zu diesem Zeitpunkt bereits längst Teil der Mediengeschichte geworden war, exemplifiziert Schleime ihre Einsichten in die Konstruktions- und Dekonstruktionsmethoden der Idolisierung, wobei es ihr darauf ankommt herauszufinden, wie weit das Repertoire von Kostümstaffage, Schminke und Mimik variierbar ist. Derartige inszenatorische Erprobungen werden nachfolgend auf die Bildnisse erfundener oder aus Kunst und Literatur entlehnter Gestalten übertragen. Bildtitel wie Nora (1999), Die Herrin (2002), Die Kommissarin (2002), Princess Kaiulani (1999) weisen auf den malerischen Vorgang einer abgewandelten  Nachinszenierung hin, die den Regieeinfällen bei der Schaffung eines Charaktertypus auf die Schliche kommen will. Delikat ist an diesen scheinbar mime-tischen Bildern die konzeptuelle Öffnung überkommener Rollenmodelle für die Vortäuschung von Individualität. In diese Phalanx fiktiver Gestalten und personaler Simulationen reiht die Künstlerin gelegentlich Selbstbildnisse ein, die auch das eigene Konterfei dem Vexierspiel von Anschein und Wahrheit aus-setzen. Je offenkundiger physiognomische Ähnlichkeit wie in den Gemälden Flieger (2995) und Anwärterin (1997) sichtbar ist, um so intensiver wird der Betrachter verunsichert, ob diese Bilder in der Tat als Selbstbildnisse gelesen sein wollen. Die Vorliebe der Künstlerin für Verwandlungen und Kostümierungen schafft sich hier mit einer ordentlichen Portion Selbstironie Abbilder ihrer Maskeraden, während sich das eigentliche Selbst in seiner subkutanen Authentizität nur in Stellvertreterbildnissen Schicht für Schicht enthüllt.

Diese Funktion übernehmen die vielen Kinder- und Mädchenporträts, in denen Cornelia Schleime ihrer malerischen Zeitmaschine komplizierte Projektionen abfordert. Erinnerungen an Erlebnisse aus der eigenen Kindheit verbinden sich mit den Sehnsüchten und Wunschidentitäten, die Erwachsene in eine idealisierte zwangfreie Kindheit hineinblenden. In ihren Zeichnungen holt sich Cornelia Schleime die Widersprüche ihrer Kinderzeit als anekdotische oder ein Sprichwort überzeichnende Parabel in die Gegenwart hinein. Wie in den Collageromanen von Max Ernst metaphorisieren allerlei Gerätschaften aus dem Illustrationsfundus alter Nachschlagewerke das Changieren der Vorstellung zwichen Neugier und Angst, Qual und Lust. Doch was bei Max Ernst rätselhafte Komplizenschaft mit aus dem Unterbewussten auftauchenden Bildern ist, verwandelt sich in Schleimes Animationen und Mutationen zum Trick der Parodie, der die verborgenen Widersprüche stellvertretend für das eigene Ich in den erfundenen kindlichen Subjekten aufspürt. In den fiktiven Posen der Kinder-Porträts gibt es die Schwestern  von Lolita und Alice, die einem somnambulen Exhibitionismus frönen und ihre erotischen Träume selbstverloren nach außen kehren. Und es gibt Unsere Besten (2002) oder den Kleinen Tiroler (2001), die sich den Dressuren der Erwachsenen zu fügen scheinen, aber hinter dem anerzogenen Gehorsam ihre kindliche Sehnsucht nach Ausbruch nur mühsam verbergen. In alle diese Kinder- und Mädchenposen, deren aufreizende Zeichnung zuweilen an Balthus und Klimt heranrückt, malt die Künstlerin spezifische Augenblicke ihres Ich-Bewusstseins hinein. Das illusionistische Bild liefert auf diese unaufdringliche Weise die Figuration einer unsichtbaren Realität.

Nur auf den ersten Blick ist die thematische Kluft groß, die sich zwischen den rasch nacheinander folgenden Porträtserien der verschiedenen Fimdiven und den Nonnenbildern auftut. Denn in ihrem malerischen Arrangement formulieren beide Serien mit Hilfe eines starken Close-up und surrealen Attributen einen verfremdenden Kommentar. Das Porträt von Doris Day auf dem Bild Mitternachsspitzen (1998) synthetisiert beinahe unmerklich mehrere Zeitebenen. Der gespannte Blick der Schauspielerin auf ein unerwartetes Geschehen deckt sich nicht mit unserer Rückerinnerung an den komödiantischen Film von 1960. Denn die scheinbare Filmstill-Einstellung erhält duch das Repoussoir eines nur in schemenhaften Details sichtbaren schwarzen Voile-schleiers eine gespenstische Anmutung, in die sich das Verblassen des Filmruhms hineinschiebt. Aus den irrlichternden Kontrasten der Farben und Schlagschatten schafft der Malprozess ein doppelbödiges Illusionsbild, das in die Hautoberfläche des inszenierten Rollenporträts auch dessen subkutane Ansicht hineinmischt. Hinter diesem malerischen Fake verbirgt sich die innere Wahrheit, dass der Glamour von der ramponierenden Patina des Alterns aufgezehrt wird.

Die gleiche Dekonstruktionsmethode einer delikaten Malerei wird in den Nonnenbildern – wenn auch mit umgekehrt gepolten Vorzeichen – angewendet. Anregungen bezieht die Künstlerin hier nicht aus den Medien, sondern aus Eindrücken, die sie während einer Reise durch Brasilien sammelt. Dort ist es jedoch weniger die exotische Folklore als die Theatralik südamerikanischer Religiosität, durch die Cornelia Schleime veranlasst wird, Rückblicke auf die familiären und kirchlichen Rituale der eigenen Erstkommunion in die inszenierten Nonnen-porträts einzuschleusen.

Auslöser der Verfremdungen sind kompositorisch eingesetzte Irritationen. Cornelia Schleime verleiht den Nonnengesichtern eine laszive Sinnlichkeit und drapiert sie mit ornamentalen Beigaben, die den Gelübden einer Ordensfrau offensichtlich nicht angemessen sind. Dadurch entsteht eine ironische Brechung zwischen dem spirituellen Anspruch der Bild-bezeichnung und ihrer Darstellung. In dem Nonnenbildnis, das den Namen Hoc est corpus meus trägt, stehen die lateinischen Worte aus dem eucharistischen Hochgebet der katholischen Kirche in provokanter Spannung zum erotisch angehauchten Porträtprofil einer jungen Nonne unter ornamental gemus-tertem Schleier, das die Formel der Transsubstantiation ihrer auratischen Aufladung beraubt und auf ihre lapidare Wört-lichkeit zurückführt: Das ist mein Körper.  Cornelia Schleime implementiert in diese sinnlich aufgeladenen Darstellungen der Bräute Christi den biografischen Kontext ihrer eigenen Erstkommunion: Erinnerung an die Ängste von damals, für den Eintritt des Herrn in den eigenen sündigen Leib nicht würdig zu sein und doch die Feierlicheit des Rituals in seiner ästhetischen Dimension so sehr zu genießen. „Von Angesicht zu Angesicht“[7] wird das Ich der Künstlerin deckungsgleich mit ihrem Gegen-über in den psychoanalytischen Verdichtungsprozessen ihrer Malerei, die sich Schritt für Schritt ein Bild des Sublimen im Realen schafft. 1999 porträtiert sich die Künstlerin als Erstkommunikantin mit Kranz und Schleier auf einem Gemälde, das mit dem gemalten Oval eines Passepartouts ein foto-grafisches Konterfei simuliert. Doch das Kind hat die Naivität des unmittelbaren Erlebens verloren, es trägt unverkennbar die Gesichtszüge und den melancholischen Ausdruck einer Erwachsenen. In einem Statement bekennt Cornelia Schleime: „Malerei ist wie ein Schwamm, der Aggressivität und Melancholie aufsaugt.“[8]

 

© Karin Thomas

 

(In: Cornelia Schleime. Fred Thieler Preis für Malerei 2004. Berlinische Galerie, S. 7-14.)

 


Anmerkungen

[1] Siehe Cornelia Schleime, „Ich wollte meinen eigenen Papst malen…“ Im Gespräch mit Christiane Bühling, in: Ausst.-Kat. Cornelia Schleime: „Das Paradies kann warten“, Galerie Michael Schultz, Berlin 2003, S. 35ff.

[2] Statement der Künstlerin, veröffentlicht auf ihrer Homepage www.cornelia-schleime.de

[3] ebd.

[4] ebd.

[5] Eckhart Gillen, Cornelia Schleime: Ich male, also bin ich, in: Ausst.-Kat. Cornelia Schleime, Von Angesicht zu Angesicht, Galerie Michael Schultz, Berlin 2002, S. 5

[6] ebd.

[7] siehe Anm. 5

[8] Statement der Künstlerin (wie Anm. 2)