Eine ost-westdeutsche Freundschaft

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2009                                                                                              Eine ost-westdeutsche Freundschaft

Ein handgeschriebener Brief, den Klaus Werner über die Kulturabteilung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik an meine Verlagsadresse expedieren ließ, wurde Auslöser unserer Bekanntschaft, aus der sich im Verlauf von mehreren Jahren eine von wechselseitigem Respekt getragene stille, aber verlässliche Freundschaft entwickeln sollte. Der Brief erreichte mich im Herbst 1980. Ein halbes Jahr zuvor war mein Taschenbuch Die Malerei in der DDR 1949–1979 im Verlag DuMont erschienen. Mit dieser kleinen Publikation unternahm ich einen ersten Versuch, den vielen im Westen unbekannt gebliebenen Künstlern aus dem anderen Deutschland so etwas wie ein stilkritisches Profil vor dem Hintergrund der Auswirkungen der Ost-West-Konfrontation zu geben, wurden doch im Westen bis zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen nur die von dem Sammler Ludwig exponierten Maler Heisig, Mattheuer, Sitte und Tübke wahrgenommen, die auch auf der documenta 6 vertreten waren.

In seinem Brief würdigte Klaus Werner meinen Versuch, Entwicklung und Erscheinungsbild der Kunst aus der DDR zu bilanzieren. Er war damit der einzige ostdeutsche Kollege, der sich dazu in schriftlicher Form geäußert hat. Zugleich machte mich Klaus Werner darauf aufmerksam, dass mir als neugierigem Besucher aus dem Westen der Blick hinter das offizielle Ausstellungsgeschehen in die regionalen Nischen einer unangepassten Individualkunst jenseits des Staatsauftrags verwehrt geblieben war. Um mir diesen im Abseits agierenden Bereich der Kunstproduktion zu öffnen, lud er mich zu einem Besuch der Ostberliner Galerie des Staatlichen Kunsthandels Arkade am Strausberger Platz ein, die er zu dieser Zeit leitete. Wir trafen uns dort wenig später an einem stillen Wintervormittag 1981. Rasch stellten wir ähnlich gelagerte Interessen und Vorlieben für bestimmte Künstler fest, und nach einem erstaunlich ungezwungenen Gedankenaustausch über die Situation der zeitgenössischen Kunst in den beiden Teilen Deutschlands schenkte mir Klaus Werner von fast allen Ausstellungen, die er in der Galerie Arkade veranstaltet und kommentiert hatte, ein Exemplar jener kleinen Begleitkataloge mit dem signifikanten Floralsignet, die unter den Kunstfreunden in der DDR sehr begehrt waren.

Wie kaum ein anderer Kunsthistoriker aus der DDR blickte er, von den Kulturfunktionären zumeist an Westreisen gehindert, zumindest durch ausgiebige Lektüre und Gesprächskontakte über die Mauer, interessierte sich für westdeutsche Künstler wie Beuys, Richter oder Baselitz und beschaffte sich unter erheblichen Risiken aktuelle Literatur aus der Westkunst. Was er gelesen hatte, vermittelte er weiter an seine Künstler-freunde. Als man ihn wegen solcher Kontakte als Galerieleiter entließ, verlegte er seinen Wohnsitz nach Leipzig und intensivierte dort seine Mitwirkung in der unangepassten Kunstszene. Er schrieb Texte, die man mit Vergnügen las, was in der Kunst-publizistik aus der DDR eher selten war.

Von nun an trafen wir uns jeweils zur Leipziger Buchmesse im März und fanden angesichts unwirtlicher Temperaturen und überfüllter Gaststätten im Haus Sommerlath der Mutter von Christoph Tannert einen diskreten und höchst gastfreundlichen Treffpunkt. Bei solchen Gelegenheiten erzählte mir Klaus Werner von Punkkonzerten, Pleinairs sowie performativen und filmischen Aktivitäten in den zahlreichen jungen Künstlerkreisen, in denen man den festgelegten Medienkanon der DDR-Kunst sprengte und dem kreativen Selbstfindungsdrang eigensinnigen Ausdruck gab. So verwies mich Klaus Werner 1985 auf die sich gerade formierende Produzentengalerie eigen+art, die Judy Lybke ideenreich und listig in der Fritz-Austel-Straße etablieren konnte. Sie sollte zum wichtigen Podium junger Experimentalkunst in der DDR werden und ähnliche Initiativen in anderen Städten nach sich ziehen. Zugleich profilierte sich Klaus Werner weit über den Leipziger Raum hinaus mit kunstkritischen Essays und Kommentierungen, die ihn nach der Wende zum kompetenten Berater bei den schwierigen Annäherungsprozessen zwischen den ost- und westdeutschen Kunstpositionen werden ließ. Wir sahen uns nun seltener, doch jedes Mal, wenn ich Klaus Werner begegnete, spürte ich den Geist einer Freundschaft, der die Grenze des Außergewöhnlichen tangiert.

(In:Klaus Werner: Für die Kunst. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König 2009, S. 295-296.)

© Karin Thomas

Die Rezeption der Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik bis 1989

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2009

Die Rezeption der Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik bis 1989

Als die Berliner Nationalgalerie im Jahr 2003 mit ihrer Ausstellung Kunst in der DDR. Eine Retrospektive nach eigenem Bekunden „eine seriöse Antwort auf die Frage nach dem künstlerischen Ertrag von 40 Jahren Kunst in der DDR“ zu geben versuchte, begann Werner Hofmann seinen Katalogbeitrag mit der lakonischen Feststellung: „Lange Zeit waren die Künstler der DDR dem Westen – sofern er sie überhaupt zur Kenntnis nahm – ein Ärgernis, eine Belanglosigkeit, ein Anachronismus. Heute, nach dem politischen Debakel vom November 1989, steht dieses ausgesparte Terrain erst recht im Abseits.“1

Wer die Ausstellung 60 Jahre 60 Werke – Kunst aus der Bundesrepublik Deutschland 1949 bis 2009 im Berliner Martin-Gropius-Bau gesehen und im begleitenden Katalog die Textauszüge aus dem Ideenaustausch des beratenden Kuratoriums gelesen hat, der dem kurzfristig initiierten Ausstellungsprojekt vorausging, muss mit Erstaunen feststellen, dass Hofmanns Aussage noch immer nicht überholt ist. So antwortet Walter Smerling, der Projektorganisator und Herausgeber des Katalogbuches, auf die Bemerkung von Laszlo Glozer, dass Kunst aus der DDR ab den 1970er-Jahren Teil der bundesrepublikanischen Wirklichkeit war: „Wir zeigen die Kunst, die unter Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes möglich war, nämlich: freie Kunst. In der DDR war die Kunst nicht frei, also hat sie in der Ausstellung nichts zu suchen.“2 Unter den Teilnehmern des Kuratoriums blieb, wie der Diskussionsbeitrag von Ingrid Mössinger, Museumsdirektorin in Chemnitz, belegt, diese apodiktische Sichtweise nicht unwidersprochen.

Doch die in der Ausstellung präsentierte Exponatenauswahl hat für die Jahre 1949 bis 1989 die ostdeutsche Kunstszene ausgeblendet und damit auch international renommierte Künstler wie Hermann Glöckner, Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus ausgegrenzt. Gewiss, die Ausstellung zeigt interessante und für die bundesdeutsche Kunstszene signifikante Bilder und Objekte, aber es irritieren gravierende Lücken. So ist die gesellschaftskritische Kunst aus dem Westen weitgehend vernachlässigt, sieht man von Jörg Immendorffs Agitprop-Bildtafel Für wen? (1973) aus seiner LIDL-Periode ab, in der er dem Elfenbeinturm der zeitgenössischen Kunst-Ismen das arbeitende Volk als den Adressaten einer politische Einsichten vermittelnden Kunst entgegenhält. In der Ausstellung, die auf weiten Strecken dem Konzept einer reinen Ästhetik folgt, fehlen der kritische Realismus und die Gruppe SPUR, die sich dezidiert mit den gesellschaftspolitischen Verhältnissen in der Bundesrepublik auseinandergesetzt haben. Erstaunlicherweise sind auch zwei Gemäldefolgen mit keinem einzigen Beispiel zu sehen, die in einer unmittelbaren Beziehung zum Ausstellungsort und zur deutschen Nachkriegsgeschichte stehen. Während Rainer Fetting in seiner Bilderserie von 1978 Van Gogh an der Mauer die Lage des Martin-Gropius-Baus direkt vor der Mauer zeigt, ist Immendorffs Bilderfolge Café Deutschland (ab 1977) der politische und private Reflex auf seine 1976 beginnende Freundschaft mit Penck, den der Düsseldorfer Maler mehrfach in Dresden besucht hat.

Erstaunlich ist auch, dass Wolfgang Mattheuers Gemälde Hinter den 7×7 Bergen, das für das Jahr 1993 ausgewählt wurde, nicht durch einen Bildvergleich in Beziehung zu seiner Ursprungsfassung Hinter den sieben Bergen von 1973 gesetzt wird. (Auch das sehr instruktive elektronische Informationssystem in der Ausstellung verzichtet auf eine entsprechende Abbildung.) Da das frühere Bild künstlerisch deutlich kraftvoller ist, drängt sich ein Verdacht auf: Der Bildvergleich unterbleibt, weil nach Auffassung der Kuratoren in der DDR keine freie qualitätvolle Kunst entstehen konnte. Wer allerdings die Daten der Exponate sorgfältig registriert, entdeckt zumindest eine Inkonsequenz. Denn das für das Jahr 1979 ausgewählte Gemälde von A. R. Penck Wahl in den Osten ist in Dresden entstanden – ein Jahr, bevor der Künstler die DDR verlassen hat.

So stieß die Jubiläumsschau, die von der Bundeskanzlerin am 30. April 2009 eröffnet, vom Bundesinnenministerium finanziell gefördert und von Bild mit einer täglich erscheinenden Serie begleitet wurde, in den Feuilletons ganz überwiegend auf vehemente Kritik. Doch bleibt  auch nach dem Ende der nur sechs Wochen gezeigten Jubiläumsschau eine Irritation zurück, die uns signalisiert, dass wir von einem gesamtdeutschen Kulturbewusstsein weiterhin weit entfernt zu sein scheinen.

I                                                                                                                                                                                                             Die Gründe für das vier Jahrzehnte lange Desinteresse des Westens an der Kunst aus der DDR sind in den Konfrontationen des Kalten Krieges verankert, für die das von den Siegermächten verwaltete Nachkriegsdeutschland zum zentralen Schauplatz avancierte. Als sich 1949 die beiden deutschen Teilstaaten konstituieren, sind sie in das Interessensystem ihrer jeweiligen Vormächte eingebunden. So setzt die Sowjetische Militäradministration in der DDR den Sozialistischen Realismus nach sowjetrussischer Maßgabe mit tatkräftiger Unterstützung der SED-Kulturfunktionäre durch und polemisiert in ihren Propagandakampagnen gegen Dekadenz und Formalismus aus dem Westen. Ein Zeitungsbeitrag, mit dem die Sowjetische Militäradministration am 20. Dezember 1950 in ihrem Presseorgan, der Täglichen Rundschau, eine neue Anti-Formalismus-Kampagne einleitet, trägt die bezeichnende Überschrift „Verfall der bildenden Kunst im Westen“. Seine Polemik richtet sich gegen die gesamte Moderne, vor allem aber gegen die in der westlichen Kunst virulenten abstrakten Stiltendenzen.

In der Bundesrepublik führt die anwachsende Konfrontation Realismus contra Abstraktion zu einer weitreichenden Ausblendung gegenständlicher Kunst aus den Re-Visionen der Moderne. In ihren Publikationen, die sich die Wiederanknüpfung der deutschen Kunstentwicklung an die Vorkriegsmoderne zur Aufgabe stellen, machen sich die führenden deutschen Kunstpublizisten Werner Haftmann und Will Grohmann die Argumentation amerikanischer Kollegen zu eigen. Alfred H. Barr, Direktor des New Yorker Museum of Modern Art, konstruiert eine bruchlose Entwicklungslinie von Kandinsky zum Abstrakten Expressionismus und interpretiert den ausgeprägten Individualismus bei Jackson Pollock als dezidiertes Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit, das es in das Nachkriegsdeutschland zu implantieren gilt. Am 14. Dezember 1952 publiziert Barr den Beitrag >Is Modern Art Communistic?< im New York Times Sunday Magazine.3  Darin verteidigt er die Maler des Abstrakten Expressionismus gegen den von Mc Carthy erhobenen Vorwurf kommunistischer Unterwanderung, indem er den „Nonkonformismus und die Freiheitsliebe der modernen Künstler“ zum Bollwerk gegen die sowjetische Diktatur und deren Postulat des Sozialistischen Realismus erklärt.

Ganz in diesem Sinne konzipiert Arnold Bode zusammen mit Werner Haftmann 1955 die documenta als Demonstration der freien Westkunst gegen die kommunistische Diktatur im Osten mit finanzieller Unterstützung der Politik und wählt mit Kassel als Veranstaltungsort eine unmittelbar an der Zonengrenze gelegene, von Kriegsschäden gezeichnete Stadt. Angelehnt an Barr, zeichnet auch Haftmann in seinem Einleitungstext zum Katalog eine Entwicklung abstrakter Stilrichtungen ohne Brüche, indem er die Neue Sachlichkeit und den expressiven Sozialrealismus der ASSO ganz ausblendet. Die Zeit des Nationalsozialismus betrachtet Haftmann zehn Jahre nach Kriegsende als eine überwundene Episode politischer Desorientierung. Durch Sperrdruck besonders akzentuiert, vermerkt Haftmann dann nachfolgend, dass „nicht ein Einziger in den europäischen Blickkreis hat treten können, ja, daß dort, wo sogar ganze Nationen durch Befehl ihrer politischen Klasse  aus dieser geistigen Kontinuität heraustraten – Russland seit 1921, Deutschland seit 1933 – (…) nicht ein einziges erinnerungswürdiges Werk entstanden ist.“ Politische Denkstrukturen des Kalten Krieges werden hier unterschwellig eingesetzt, um die Bundesrepublik mit dieser Moderne-Re-Vision als Teil der freien Welt zu manifestieren, während alle Kunst aus Russland, einschließlich der gesamten konstruktivistischen Avantgarde-Bewegung, als ideologisch manipuliert aus dem Entwicklungsfluss der Moderne ausgegrenzt wird.

In seiner Einführung zum Katalog der documenta II (1959) exemplifiziert Haftmann seine Ablehnung gegenständlicher Kunst konkret, indem er den antifaschistisch orientierten Realismus des Italieners Renato Guttuso und die existenzialistische Malerei der Franzosen Francis Gruber und Bernard Buffet ebenso geringschätzig bewertet und der „Verfälschung der dem zeitgenössischen Menschen aufgetragenen Wirklichkeitsbewältigung“ bezichtigt wie die Propagandabilder des Sozialistischen Realismus.5

Solche Ausführungen stoßen damals auf keinen ernsthaften Widerspruch. Nimmt doch im Westen Deutschlands niemand zur Kenntnis, wie anregend die melancholischen Figurationen der Franzosen um 1956 auf die Ostberliner Maler der schwarzen Periode eingewirkt haben und wie richtungweisend für den Hallenser Maler Willi Sitte zu dieser Zeit der antifaschistische Aufschrei Picassos und die kubistisch sowie expressiv durchpulste Gegenständlichkeit Renato Guttusos gewesen sind. Ermutigt durch derartige Anregungen von außen, bilden diese Künstler eine eigene, ihre Befindlichkeit widerspiegelnde Ausdrucksform aus, die sich von der Plakativität des Sozialistischen Realismus sowjetrussischer Vorgabe ebenso fernhält wie von der ihnen verbotenen informellen Abstraktion. Wo das Parteidiktat den kollektiven Aufbauoptimismus einfordert, finden sie eine Bildsprache, in die sie ihre Kriegserlebnisse und ihre existenzielle Vereinsamung hineinschreiben können. Doch von diesen vorsichtigen Ausbrüchen ostdeutscher Künstler aus der sozialistisch-realistischen Agitationskunst dringt kaum eine Information über die Grenze in die Bundesrepublik. Dort wird mit der internationalen Resonanz der ersten beiden documenta-Ausstellungen und deren stilbildendem Einfluss auf die westdeutsche Kunst das Fundament für die jahrelange Westignoranz gegenüber aller Kunst aus der DDR gelegt. In der Öffentlichkeitsarbeit von d 1 und d 2 wird eine sorgfältig konzipierte meinungsbildende Strategie wirkmächtig, die darauf abzielt, die in Westeuropa dominant gewordene Abstraktion als kulturpolitisches Freiheitssignal gegen den Kommunismus in Stellung zu bringen.

II                                                                                                                                                                                                         Bereits 1954 prognostizierte Haftmann in seiner umfangreichen Publikation >Malerei des 20. Jahrhunderts<, die über Jahre hinweg das auflagenstärkste Kompendium zur Entwicklungsgeschichte der Moderne ist, die Verfestigung der Abstraktion zu einer „Kunstlehre“, auf die „in breitester Front die europäische Malerei“ einschwenken wird.1955 ist die Ausrichtung der Westkunst gegen die kulturpolitischen Feinde der Freiheit aus dem Lager des Ostblocks bereits voll im Gang. Mit diesem Einschwenken auf die Abstraktion als „Weltsprache der Kunst“ ist die rigorose Abschottung des Westens gegenüber der Kunst aus Ostdeutschland verbunden. Alle Publikationen, die in der Bundesrepublik bis in die ausgehenden 1960er-Jahre zu den Kunstrichtungen seit 1945 ediert  werden, schreiben in der Grundtendenz die von Haftmann vorgezeichnete Sichtweise fort. Das Spektrum reicht von der dreibändigen >Kunst des 20. Jahrhunderts<, die Carl Georg Heise 1957 im Piper-Verlag herausgibt, bis zu der 1970 erschienenen deutschen Übersetzung von >Movements in Art since 1945< (1969) des britischen Autors Edward Lucie-Smith, die der Verlag Fritz Molden in sein Programm aufnimmt. Auch Will Grohmann, der 1946 in Dresden die erste >Allgemeine Deutsche Kunstausstellung< mitinitiiert hatte und veranlasst durch die Kampagne gegen den Formalismus in der Kunst 1948 in den Westen übergesiedelt war, profiliert sich mit seiner 1958 herausgegebenen Publikation >Neue Kunst nach 1945< ganz im Sinne von Arnold Bode und Haftmann für seine Aufnahme in den Ausschuss der d 2. Das als Anthologie konzipierte Buch versammelt Aufsätze einflussreicher Kunstvermittler aus den westeuropäischen Staaten sowie aus den USA und stimmt den Leser auf das Erscheinungsbild der d 2 ein. Grohmann selbst verantwortet den Beitrag über die zeitgenössische Kunst aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. In der Formulierung >Deutschland< manifestiert sich der von der bundesrepublikanischen Politik erhobene gesamtdeutsche Alleinvertretungsanspruch. Doch Grohmann nutzt ihn nicht, um Künstler aus Ostdeutschland in seinen Interpretationen zu berücksichtigen. Obwohl er zu dieser Zeit in der Bundesrepublik der wohl kenntnisreichste Kunsthistoriker in Bezug auf eine qualitative Einschätzung einzelner Künstlerpersönlichkeiten aus dem anderen Deutschland gewesen sein dürfte, setzt er sich weder in seiner Funktion als documenta-Beirat noch in seinem Essay für die Berücksichtigung von Kunstwerken ostdeutscher Herkunft ein. Nicht einmal das mit abstrakten Papiercollagen und experimentellen Metallarbeiten höchst innovative Spätwerk Hermann Glöckners findet Grohmanns Fürsprache für eine Berücksichtigung in der d 2, obwohl sich der Kunsthistoriker und der Künstler aus den ersten Dresdner Nachkriegsjahren bestens kennen: Anders als Grohmann integriert dagegen Dietrich Mahlow Glöckners aktuelles Oeuvre mit 14 Exponaten in seine Baden-Badener Ausstellung Metalldrucke – Collagen – Materialbilder von 1958, nachdem  bereits 1956 und 1957 der Deutsche Künstlerbund Werke Glöckners in seinen Düsseldorfer und Berliner Leistungsschauen registriert hatte.6

Grohmanns Kunst vermittelnde Tätigkeit ist im Umfeld der d 2 offensichtlich von Strategien kulturpolitischer Opportunität geleitet. Sein Ziel ist seine Einbindung in das international vernetzte Team, das die Protagonisten der Weltsprache Abstraktion qualitativ bestimmt und im documenta-Ambiente inszenatorisch interpretiert.

III                                                                                                                                                                                                       Bei der d 3 (1964) unterläuft die in Amerika vehement in Erscheinung tretende Pop Art mit der Wiedergewinnung des Gegenstandes und der Annäherung an das Alltagsleben die bis dahin unangefochtene Hegemonie der abstrakten Kunst. Haftmanns Planung und Inszenierungsregie der d 3 ist zwar immer noch darauf ausgerichtet, das Modell „Weltsprache Abstraktion“ zu rechtfertigen. Doch die Kritik tritt dieser Intention nun deutlich entgegen, und der ehemals abstrakt-expressiv malende Künstler Hans Platschek, der sich nun dem Kritikerberuf zuwendet, wagt es, mit Ernst Wilhelm Nay den deutschen Exponenten der Abstraktion vom Sockel zu stoßen.

Als Will Grohmann in der folgenden Umbruchphase 1966 den Auftrag erhält, seine 1958 herausgegebene Publikation zu überarbeiten und zu aktualisieren, reagiert er auf diesen Wandel. Erneut schreibt er selbst den Beitrag über die Kunst in den  deutschsprachigen Ländern, benutzt – wie schon 1958 – in der Kapitelüberschrift das Wort >Deutschland< und entzieht sich mit dieser geografischen Raumbezeichnung einer den realen Verhältnissen entsprechenden Differenzierung zwischen ost- und westdeutscher Kunst sowie einer kulturpolitischen Situationsanalyse. Doch mit Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus werden nun – anders als 1958 – zwei in der DDR lebende Künstler kurz vorgestellt, ohne dass jedoch ihre Herkunft aus Ostdeutschland Erwähnung findet. Grohmann typisiert Altenbourg mit einem Satz als „versponnenen Sonderling“ mit „Jean Paulscher Poesie“, dessen „Schriftzüge einen Weg zwischen Gestern und Morgen“ suchen.7 Zu den skripturalen Kalligrafien von Carlfriedrich Claus vermerkt Grohmann ihre formalästhetische Synthese von „Dichten und Bilden“, interpretiert aber mit keinem Wort den Gehalt der Notate, die u. a. im Anschluss an Karl Marx und Ernst Bloch Gedanken über eine freie sozialistische Gesellschaft speichern.8 Da beide Künstler als Außenseiter der Kunstszene in der DDR zu dieser Zeit keine Unbekannten in westdeutschen Kunstvermittlerkreisen mehr sind, stellt sich die Frage, weshalb Grohmann derart zurückhaltend – und  betont unpolitisch – in seinen Werkdeutungen bleibt.

Es ist nicht anzunehmen, dass eine fortgesetzte Anpassung an den Haftmannschen Künstlerkanon den Blick Grohmanns über die Grenze so unverbindlich ausfallen lässt. Es dürften hier eher Rücksichtnahmen auf die Gefährdung der beiden Künstler durch eine allzu intensive Westwahrnehmung motivierend gewesen sein. Denn Grohmann stand seit 1951 mit Claus in kontinuierlichem Briefwechsel, darüber hinaus gab es Kontakte zwischen Claus und Bernard Schultze, und 1959 war ein Tonband mit Sprachexerzitien in die Hände von Franz Mon gelangt, woraus sich Kooperationen mit Vertretern der visuellen Poesie und der Fluxus-Bewegung anbahnten. Gerhard Altenbourg war schon in den ausgehenden 1950er-Jahren von der Westberliner Galerie Rudolf Springer in zwei Einzelausstellungen gewürdigt worden. Und 1964 widmete ihm die seinerzeit noch in Hannover ansässige Galerie Brusberg eine erste Einzelausstellung in der Bundesrepublik.9 Doch diese substanziellen Werkrezeptionen hatten für beide Künstler die verstärkte Observierung durch den Staatsicherheitsdienst der DDR zur Folge. Auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges – nach der Berlin-Krise und dem Mauerbau – hat Grohmann eine Vorstellung davon, wie rigoros die Kulturadministration der DDR ihre unangepassten Künstler observiert und ihre Westkontakte mit Sanktionen bedroht. Seine hier zitierten Interpretationen sind daher signifikante Beispiele für die Vorsicht, mit der verantwortungsbewusste Kunstkritiker und Kunstvermittler über Künstler wie Claus und Altenbourg berichten.

IV                                                                                                                                                                                                       In den 1960er-Jahren ist ein unzensiertes Sondieren der ostdeutschen Kunstlandschaft für westdeutsche Journalisten und Kritiker kaum möglich. Was die offiziellen Instanzen und Verbandsausstellungen propagieren, bekundet häufig die erzwungene Anpassung der Kunst an das kollektive Leben im Sinne des Bitterfelder Weges, wofür die Karriere und das Werk des Leipziger Malers Heinrich Witz ein signifikantes Beispiel bieten. Mitte der 1960er Jahre zeichnet sich, erkennbar auf der 7. Bezirkskunstausstellung in Leipzig, eine allmähliche Wende zu individuellen Ausdrucksformen und einem kritischen Realismus ab, die aber deutlich später als die Literatur aus der DDR im Westen Beachtung findet. 1972 kann die VII. Kunstausstellung der DDR in Dresden bei westdeutschen Kunstpublizisten ein vorsichtiges Interesse wecken, nachdem Willy Brandt 1969/70 erste Schritte einer deutsch-deutschen Entspannungspolitik eingeleitet hatte. In den Exponaten der Dresdner Ausstellung zeichnet sich vor allem bei den Werken der „Leipziger Schule“ eine Abkehr von plakativen Stilklischees ab, und ein Sondieren neuer Stiltendenzen innerhalb der Figuration wird sichtbar, die auf Vorbilder der Tradition wie Leger, Beckmann und Corinth zurückgreifen.

In der Bundesrepublik ist der Zeit-Journalist Peter Sager 1973 einer der ersten, der diesem gewandelten Realismus aus der DDR in seinem Buch >Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Illusion und Wirklichkeit< 1973 nachgeht. Mit der documenta 5 (1972) ist  der amerikanische und europäische Fotorealismus schlagartig in den Fokus der Kunstavantgarde getreten. Sager verbindet seine Darstellung zu diesen Abbildern einer kapitalistischen Konsumkultur mit einer Reflexion über die Frage, wie weit Realismus politisch sein kann, ohne zur agitatorischen Propaganda zu verflachen. Seine Beispiele entnimmt er nicht nur einem gesellschaftskritischen Realismus aus Frankreich, Italien und der Bundesrepublik, sondern thematisiert auch Gemälde von Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Willi Sitte, Heinz Zander und Gerhard Kurt Müller. Damit korrigiert und erweitert er das Bild vom Sozialistischen Realismus aus der DDR durch den Nachweis individueller stilistischer Handschriften.

1975 wagt Uwe M. Schneede die Organisation einer Einzelausstellung mit Werken Willi Sittes im Hamburger Kunstverein. Zehn Jahre zuvor hatte der Marxist Richard Hiepe in seiner kleinen Neuen Münchner Galerie bereits eine erste Ausstellung mit Gemälden und Zeichnungen Sittes „anlässlich des 20. Jahrstages der Zerschlagung des Hitlerfaschismus“ gezeigt und dazu in der von ihm herausgegebenen DKP-verbundenen Zeitschrift tendenzen ein umfangreiches Sonderheft über >Künstler in der DDR< publiziert. Der Katalog zu dieser Münchner Sitte-Ausstellung enthielt einen 1964 verfassten essayistischen Text von Christa und Gerhard Wolf mit dem Titel >Sittes Atelier<, der immerhin die Süddeutsche Zeitung (vom 4. Juni 1965) zu einer Rezension der Ausstellung veranlasste. Die Aktivitäten der Hiepe-Galerie und der 1960 von einer Projektgruppe der KP gegründeten Zeitschrift tendenzen wurden – wie der stellvertretende Leiter des Staatlichen Kunsthandels der DDR, Rüdiger Küttner, in einem Gespräch mit Andreas Karl Öhler am 19.1.1998 ausgeführt hat – von der Kulturadministration der DDR zwar jahrelang finanziell unterstützt, in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre wurde aber die politisch-ideologische Wirkung als wenig effektiv eingeschätzt.10

Um so höher wird in der DDR der Stellenwert der Sitte-Ausstellung im renommierten Hamburger Kunstverein veranschlagt, zumal man auch für diese Ausstellung eine Kooperation mit der DKP durchsetzen kann, was in den Kommentaren der Westpresse heftige Diskussionen bis hin zur strikten Ablehnung solcher Zusammenarbeit auslöst. Unisono nimmt man die Malerei Sittes als Modell einer mit der SED-Politik konformen Kunst wahr. Auch bei einer weiteren Einzelausstellung von Wolfgang Mattheuer im Hamburger Kunstverein (1977) überschattet der erneute Kooperationszwang mit der DKP die vorurteilsfreie Rezeption durch die Presse. Nur wenige Kritiker – allen voran der FAZ-Redakteur Eduard Beaucamp – konzentrieren sich auf Stil und Themen der ausgestellten Werke, bei den meisten Kritikern überlagern politische Argumente die Werkwahrnehmung und -deutung. Bei Sittes Ausstellung wird die kulturpolitische Position des Künstlers als Präsident des Verbandes Bildender Künstler, der seit 1976 auch der Kulturkommission beim Politbüro der SED angehört, besonders apostrophiert. Daraus entwickelt sich – durchaus plausibel – das Etikett des „Staatskünstlers“. Diese Sichtweise wird in den folgenden Ausstellungen – undifferenziert – auf alle vom Staatlichen Kunsthandel der DDR vertretenen und an westdeutsche Kunstinstitutionen vermittelten Künstler generalisierend ausgedehnt.

Nur selten wird es auf informellen Wegen möglich, Ausstellungen von Außenseitern aus der DDR zu realisieren. Nachdem Wilhelm Rudolph, der Chronist der Zerstörung Dresdens, bereits 1965 im Stuttgarter Gewerkschaftshaus seine subtilen Grafiken und Zeichnungen präsentieren konnte, gelingt Jürgen Harten Ende 1975/76  in der Kunsthalle Düsseldorf eine Einzelschau mit Werken von Wilhelm Rudolph – in einer Phase des deutsch-deutschen politischen Goodwill. Vorsichtig konstatiert er im Katalog: „Es steht uns nicht zu, die Bedeutung Rudolphs für die Kunst der Deutschen Demokratischen Republik zu beurteilen. (…) Für eine eingehende kunsthistorische Erörterung seines Werkes fehlen uns die Voraussetzungen. (…) Wir haben uns deswegen, statt einer Einführung, mit einem Gespräch begnügen müssen, zu dem Gotthard Graubner, ein ehemaliger Schüler Rudolphs, wesentlich beigetragen hat.“11

V                                                                                                                                                                                                           Die Zwangausbürgerung von Wolf Biermann stört die ersten vorsichtigen Anzeichen einer kulturellen Annäherung nachhaltig. Nur wenige bildende Künstler, darunter Fritz Cremer als Erstunterzeichner einer von 12 namhaften Autoren verfassten Protesterklärung, sind unter den Künstlern, die sich gegen diese rigorose politische Maßnahme wenden (Charlotte Pauly, Peter Herrmann, Peter Graf, Horst Sagert, Lothar Reher, Nuria Quevedo, Christa Sammler und Bernd Wilde). Der kranke Fritz Cremer zieht seine Unterschrift unter dem Druck der Parteifunktionäre sogar wieder zurück. Dadurch werden Skepsis und Misstrauen gegenüber bildenden Künstlern aus der DDR erneut bestärkt. Auf der documenta 6(1977) entlädt sich das Ressentiment der westdeutschen Presse gegen das Staatskünstlertum. Die in Kassel als offizielle Premiere der DDR-Kunst vor internationalem Publikum geplante Präsentation von vier Malern (Heisig, Mattheuer, Sitte und Tübke) und zwei Bildhauern (Fritz Cremer und Jo Jastram) wird zum Stein des kulturpolitischen Anstoßes. Baselitz und Lüpertz legen Protest ein gegen die Entfernung von Pencks (im Katalog noch abgebildetem, aus der Sammlung Ludwig stammendem) Gemälde aus den Rauminszenierungen des Fridericianums. Lediglich in der Abteilung >Zeichnungen< ist Penck mit zwei kleinformatigen Arbeiten vertreten.12 Den documenta-Organisatoren, die der Ausgrenzung Pencks nachgegeben und die Auswahl der Künstler aus der DDR sowie der von ihnen gezeigten Werke den Kulturfunktionären aus der DDR überlassen haben, wirft man die Preisgabe der im Grundgesetz verankerten Unabhängigkeit der Kultur vor. Mit diesem berechtigten Vorwurf gegenüber den Organisatoren der d 6 wird zugleich die von Haftmann formulierte These reaktiviert, dass unter politischer Vormundschaft einer Diktatur, wie sie in der DDR herrsche, nur unfreie Kunst entstehen könne, die den Namen >Kunst< nicht verdiene.

Die Polarisierung der Ostpolitik in Befürworter und Gegner einer Annäherung zwischen den beiden deutschen Staaten überträgt sich auf die Beurteilung von Kunst aus der DDR, deren Vermittlung im Wesentlichen durch kulturpolitische Instanzen in beiden Staaten gemanagt wird. Motiviert durch die seit 1970 betriebene Entspannungspolitik und die von Erich Honecker seit dem VIII. Parteitag verkündete Parole von der „Breite und Vielfalt der persönlichen Handschriften“ in der Kunst erscheint 1977 im Umfeld der d 6 im Anabas-Verlag die von Hubertus Gassner und Eckhart Gillen herausgegebene Publikation >Kultur und Kunst in der DDR seit 1970<. Ihr Ziel ist es, einen Überblick zu den neuen Ansätzen in Theorie und Praxis des künstlerischen Schaffens in der DDR zu vermitteln. Zu den Autoren gehört mit Ullrich Kuhirt ein Kunstwissenschaftler, der als Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED die offizielle Lesart der von der SED gewünschten Kunstpolitik vertritt. Obwohl die Herausgeber Kuhirts Mitautorenschaft mit dem Argument kontroverser Diskussion begründen, stößt das Buch zum Zeitpunkt seines Erscheinens im Gefolge der d 6-Kontroverse und der Biermann- Zwangsausbürgerung auf deutliche Vorbehalte.

Inzwischen ist offenkundig, dass die Signale der SED-Kulturpolitik keine Liberalisierung in den Künsten ankündigten, sondern die Künstler  nach dem Ende der Ulbricht-Ära lediglich motivieren und ermutigen sollten, sich an die Seite der neuen Parteiführung zu stellen. Wo Künstler wie Penck oder Roger Loewig in ihren Werken den eng gezogenen politischen Toleranzbereich der SED überschreiten, wird ihre Dissidenz mit massiven Restriktionen geahndet. Wie die SED in den Jahren 1945 bis 1965 die Unterdrückung unliebsamer Künstler betrieben hatte, ist das Thema des ebenfalls 1977 erscheinenden Buches von Edda und Sieghard Pohl >Die ungehorsamen Maler<. Doch so gering das westdeutsche Interesse an der offiziell geförderten Kunst aus der DDR bleibt, so wenig Resonanz findet auch das kritische Bildpotenzial der ungehorsamen Maler, die unter dem Zwang der kulturpolitischen Verhältnisse  im Anschluss an die d 6  aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind. Eine Ausnahme stellt allein Penck dar, der durch seine Einbindung in den westdeutschen Kunstmarkt seit 1968 einen besonderen Stellenwert als autonomer dissidenter Künstler aus der DDR erhält und 1980 in die Bundesrepublik ausreist.

Als der Exportverlag Edition Leipzig 1977 einen westdeutschen Verlagspartner für die Buchpublikation des Kunstwissenschaftlers Lothar Lang >Malerei und Graphik in der DDR< sucht, muss er feststellen, dass die Ausgrenzung von Pencks systemkritischem Denken in dessen >Standart<-Bildern zum unüberwindlichen Hindernis einer deutsch-deutschen Kooperation wird. Da alle bundesdeutschen Kunstbuchverlage eine Lizenzproduktion ablehnen, kann das Werk nur als kleine Auflage in einem Schweizer Verlag (Bucher) erscheinen. Die von Seiten der DDR intendierte publizistische Etablierung einer von ihr sanktionierten Sicht auf die Entwicklung und das Erscheinungsbild von Kunst aus der DDR gelingt somit allenfalls in einem stark eingeschränkten Umfang. In der westdeutschen Vorstellung von Kunst aus der DDR bleiben weiterhin die kraftstrotzenden Werktätigen von Willi Sitte als sozialistische Ikonen verankert, während die Phalanx der aus der DDR weggegangenen Künstler wie Baselitz, Uecker und Richter zu Symbolfiguren der Befreiung von politischer Unterdrückung avanciert.

Mein eigener Versuch, 1980 einen Überblick über die Malerei und Grafik in der DDR aus einer beschränkt informierten, unbefangenen westdeutschen Sicht zu vermitteln, der auf zahlreiche Informationsreisen in die DDR seit Anfang der 1970er-Jahre zurückgeht, wird zumal von den ostdeutschen Künstlern aufmerksam registriert, worauf häufige Erwähnungen in den Katalogbiografien der VIII. Kunstausstellung der DDR hindeuten – ohne dass es verständlicherweise offizielle Reaktionen oder Rezensionen in der DDR gegeben hätte.  Dem darauf zurückgehenden Kontakt mit Klaus Werner verdanke ich die Erkenntnis meines beschränkten Blicks, dem zwar nicht die prominenten Avantgardisten aus der DDR wie Glöckner, Altenbourg, Claus und Penck entgangen waren, wohl aber viele begabte jüngere Künstler, die sich in der anwachsenden inoffiziellen Cross-Culture der DDR eingerichtet hatten. Sie zu entdecken, sollte den 1980er-Jahren und mir selbst in meinem 1985 erschienenen Buch >Zweimal deutsche Kunst<  vorbehalten bleiben, und daran hatten Klaus Werner, Gabriele Muschter und Christoph Tannert, später auch Judy Lybke einen wesentlichen Anteil.

VI                                                                                                                                                                                                     Am Ende der 1970er-Jahre werden die beiden letzten Ausstellungen mit Kunst aus der DDR über den Kontakt mit politischen Organisationen ausgerichtet und vom Zentrum für Kunstausstellungen der DDR organisiert. In einer durch die DKP vermittelten Ausstellung präsentiert Katrin Sello im Kunstverein Hannover vom 2. Dezember 1979 bis 3. Februar 1980 Kunst aus dem Bezirk Halle, von Albert Ebert über Uwe Pfeifer bis zu Willi Sitte, in die das Werk von Karl Völker aus den 1920er-Jahren als Traditionshintergrund integriert ist.13 Die ein halbes Jahr später gezeigte Ausstellung Mensch und Umwelt – Malerei Grafik Plastik aus der DDR im Künstlerhaus Bethanien (Mai bis Juli 1980) wird zum Politikum eigener Art. Weil nach Lesart der DDR Westberlin eine „selbständige politische Einheit“ bildet, wird nicht die DKP zum politischen Partner, sondern über die Zusammenarbeit mit der Majakowski-Galerie die „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft Westberlin“. In der Ausstellung, für deren Katalog Ullrich Kuhirt einen längeren Einleitungstext verfasst hat, sind vor allem Künstler der jüngeren Generationen vertreten: u. a. Manfred Butzmann, Sighard Gille, Michael Morgner, Wolfgang Peuker, Uwe Pfeifer, Arno Rink, Volker Stelzmann, Claus Weidensdorfer.

Mit der Verkaufsausstellung Künstler aus der DDR, die am 5. April 1981 mit Unterstützung des Industriellen Georg Schäfer von den Galerien Brusberg (Hannover) und Meyer-Ellinger (Frankfurt) in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Kunsthandel der DDR in der Jahrhunderthalle Hoechst veranstaltet wird, erfolgt die Wende von der vorrangig politischen zu einer dominant ökonomischen Zwecksetzung bei der Präsentation von Kunst aus der DDR in der Bundesrepublik. Diese Neuorientierung wird dadurch nachhaltig unterstrichen, dass der Staatliche Kunsthandel nur zwei Monate später erstmals an der internationalen Kunstmesse ART Basel teilnimmt.

1982 versucht die mit großem Presseaufwand angekündigte und von der Kunstzeitschrift art  mit einem opulenten Katalog spektakulär inszenierte Ausstellung Zeitvergleich eingefahrene Wahrnehmungsklischees zu durchbrechen. Am 20. November eröffnet der Hamburger Kunstverein die Schau, die als „Verkaufsausstellung des Staatlichen Kunsthandels der DDR in Zusammenarbeit mit der Galerie Brusberg, Hannover“ annonciert wird. Sie zeigt Werke von 13 Malern, neben den d 6-Teilnehmern auch Altenbourg, Claus, Hartwig Ebersbach, Sighard Gille, Gerhard Kettner, Gregor Thorsten Kozik, Walter Libuda, Volker Stelzmann und Hans Vent, die Dieter Brusberg, Axel Hecht und Uwe Schneede ausgewählt haben, und macht anschließend in Stuttgart, Düsseldorf, München, Nürnberg und Hannover Station.

Eine Exponatenauswahl von durchweg hoher Qualität, die Beteiligung unangepasster Künstler und die von westdeutschen Autoren verfassten Künstlerporträts bringen eine neue Perspektive in die Präsentation von ostdeutscher Kunst auf westdeutschem Boden. Doch das als provokant empfundene Katalog-Vorwort  von Günter Grass, in dem er die Künstler in Deutschland als „Mauerspringer aus Passion“ und den kraftvollen Realismus in der ostdeutschen Kunst würdigt, lenkt die Aufmerksamkeit verstärkt auf die politischen Implikationen der Ausstellung. An Mauersprüngen, also an Begegnungen der Künstler, ist den Kulturinstanzen der DDR allerdings wenig gelegen, sie fürchten die Folgen eines künstlerischen Gedankenaustauschs. Ostdeutsche Künstler, die nicht zu den Teilnehmern gehören, können die Ausstellung nicht besuchen, und unter westdeutschen Künstlern findet sie wenig Widerhall.

Nur der in den USA lebende, sich mit politisch-konzeptioneller Kunst profilierende Hans Haacke reagiert 1984 auf die Zeitvergleich-Wanderausstellung mit der parodistischen Installation >Weite und Vielfalt der Brigade Ludwig<. Haacke ironisiert mit dieser Installation nicht nur die modernistische Handschrift, mit der ein Staatskünstler wie Walter Womacka auf westdeutschem Boden in Erscheinung tritt. Er entlarvt auch das Gemisch unterschiedlicher Interessen von Politik, Kunsthandel und Industrie, das sich hinter den nun vermehrt in Szene gesetzten Ausstellungen mit Kunst aus der DDR und den Sammlungsaktivitäten des Industriellen Peter Ludwig verbirgt. Ludwig, der seine Schokoladenexporte in die DDR mit Kunst kompensieren lässt, avanciert in kurzer Zeit zum Sammler umfangreicher Werkkonvolute von Kunst aus der DDR. Deren Nobilitierung durch eine Dauerpräsentation, Seite an Seite mit Werken westdeutscher Künstler, die Peter Ludwig am wichtigsten Standort seiner Sammlungsaktivitäten, dem Kölner Wallraf-Richartz-Museum, angestrebt hat, ist ihm – vor allem wegen der hartnäckigen Weigerung des damaligen Museumsdirektors Siegfried Gohr – nicht gelungen. Auch die Kataloge zu seinen Beständen von Kunst aus der DDR, 1979 von der Neuen Galerie Aachen von der Ausstellung Kunst heute in der Deutschen Demokratischen Republik begleitet  und 1984 mit der Schau Durchblick im 1983 gegründeten Ludwig Institut für Kunst aus der DDR in Oberhausen verbunden, bleiben in weiten Kreisen der westdeutschen Kunstkritik mit dem Hautgout politisch-wirtschaftlicher Interessenüberlagerung behaftet. Besondere Kritik löst die Ausblendung Pencks aus eigenen Ausstellungsaktivitäten aus, die Ludwig mit der unzutreffenden Behauptung begründet, Penck habe sich einer Mitgliedschaft im Künstlerverband der DDR verweigert.

VII                                                                                                                                                                                                    Dass sich ab 1980 erweiterte Möglichkeiten für Ausstellungsprojekte mit Kunst aus der DDR abzeichnen, zeigen eine von Christoph Brockhaus im Dezember 1980 realisierte Ausstellung mit 50 Plastiken und 180 Zeichnungen von Fritz Cremer im Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg sowie Aktivitäten des Neuen Berliner Kunstvereins im Jahr 1982. Dort wird im April eine Ausstellung mit Werken von Hermann Glöckner eröffnet, im Dezember folgt eine Werkschau zu Dieter Tucholke. Der Oldenburger Kunstverein rückt die Kunst aus der DDR in den Kontext Aktuelle Kunst aus Osteuropa und präsentiert im September 1982 u. a. Werke von Erhard Monden, Michael Morgner und Robert Rehfeldt, die per Brief regen Gedankenaustausch mit west- und osteuropäischen Künstlerkollegen pflegen.

Eine interessante Entwicklung zeichnet sich 1985 ab, als zwei Ausstellungen vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Rückblicke auf die Entwicklung der Kunst in Deutschland vornehmen. Die vom Pharmaunternehmen Boehringer initiierte und finanzierte Ausstellung 100 Jahre Kunst in Deutschland 1885 – 1985, die vom 28. April bis 30. Juni 1985 in Ingelheim gezeigt wird, präsentiert unter der Rubrik „Künstler aus der DDR“ Werke von Altenbourg, Heisig und Tübke. Im Kontrast zu dieser gesamtdeutschen Sicht enthält die ein dreiviertel Jahr später eröffnete Schau der Stuttgarter Staatsgalerie Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik 1905 – 1985 (8. Februar bis 27. April 1986) für die Zeit nach 1945 ausschließlich Werke von Künstlern, die in der Bundesrepublik leben.

1985 ist es Gosbert Adler und Wilmar Koenig im Rahmen der Westberliner „Freunde der Werkstatt für Fotografie“ in Zusammenarbeit mit dem Staatlichen Kunsthandel der DDR gelungen, eine Ausstellung mit Katalog >DDR Foto< zu realisieren, die wichtige Fotografen der jungen Generation wie Christian Borchert, Thomas Florschuetz, Gundula Schulze, Rudolf Schäfer und Ulrich Wüst vorstellt. Drei Jahre später widmet sich die Zeitschrift Niemandsland unter dem Titel „Angehaltene Zeit“ ausführlich neuen Tendenzen in der Fotografie der DDR.

Einen publizistischen Sonderfall stellt der Katalog >Tiefe Blicke< dar, der zur Präsentation eines neuen Sammlungsbestandes im Hessischen Landesmuseum Darmstadt mit „Kunst der achtziger Jahre aus der Bundesrepublik Deutschland, der DDR, Österreich und der Schweiz“ 1985 im Kölner DuMont Buchverlag erscheint. Im Vorwort bemerkt der Direktor des Museums Johann-Karl Schmidt: „Zum ersten Mal in einem Museum der Bundesrepublik ist auch die junge Kunst der DDR zu sehen, und zwar nicht jene kunstpolitisch gebilligten Werke des gewöhnlichen Kulturaustausches, sondern Bilder, die ungeachtet aller Schwierigkeiten entstehen.“ Es sind nur wenige Beispiele, Reinhard Sandner aus Dresden, Wolfram Adalbert Scheffler aus Ostberlin und die von Hartwig Ebersbach betreute Leipziger experimentelle Künstlergruppe 37,2, die neben den kurz zuvor nach Westberlin übergesiedelten Malern Ralf Kerbach und Cornelia Schleime vorgestellt werden, doch eröffnet diese publizistische Konzeption einen erweiterten Wahrnehmungshorizont auf Kunst aus der DDR. Dies unterstreichen zwei Katalogbeiträge von Eckhart Gillen und – eine pikante Fußnote – von Sascha Anderson, der im Erscheinungsjahr des Katalogs noch in Ostberlin lebt. Sein Text enthält eine erstaunliche Polemik gegen drei „Staatsmaler“:

„HERR SITTE LÄSST FICKEN
HERR TÜBKE DELABORIERT
HERR HEISIG FLAGGT FAUSTKEILE
DER HALBMAST IST SCHON KONSTRUIERT.“14

Diese provokanten Verse ihres IM dürfte die Stasi vor deren Übermittlung an den Verlag wohl nicht gekannt und gebilligt haben.

VIII                                                                                                                                                                                                  Erst am 6. Mai 1986 gelingt es, ein bereits im Grundlagenvertrag von 1972 als eine Folgevereinbarung anvisiertes Kulturabkommen zwischen den beiden deutschen Staaten zu schließen, das jedoch von Skeptikern eher als kontrollierte Kanalisierung des künftigen Kulturaustausches empfunden wird, wie vor allem Günter Grass kritisch angemerkt hat. Immerhin ist im Umfeld des Kulturabkommens eine gewisse Belebung von Ausstellungsaktivitäten unverkennbar.

Seit Mitte der 1980er-Jahre finden verschiedene Projekte im Rahmen des deutsch-deutschen Kulturaustausches statt, von denen hier die von Salamander gesponserte Esslinger Exposition Kunst der DDR in den achtziger Jahren (17. Mai bis 19. Juni 1986) sowie die vom Land Nordrhein-Westfalen initiierte Ausstellung Menschenbilder hervorgehoben werden sollen. Letztere wurde am 12. November 1986 von Johannes Rau in der Bonner Landesvertretung eröffnet und gastierte anschließend in Münster und Saarbrücken. Im Gegenzug konnte übrigens gegen den Widerstand von Willi Sitte mit Unterstützung der Akademie der Künste und des stellvertretenden Kulturministers Dietmar Keller eine in der DDR viel beachtete Ausstellung mit frühen Zeichnungen von Beuys im Ostberliner Marstall und in der Galerie der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (Jan.- April 1988) gezeigt werden.

Eine direkte Folge des Kulturabkommens ist die im September 1987 eröffnete Ausstellung Bildhauerkunst aus der DDR im Rheinischen Landesmuseum Bonn, die in einem umfassenden Überblick 50 Bildhauer aus der DDR vorstellt und anschließend in München und Mannheim zu sehen ist. Dass es sich hierbei auch um ein Politikum handelt, macht das Vorwort von Wolfgang Schäuble, seinerzeit Chef des Bundeskanzleramtes, deutlich. Sie folgt der Ende Oktober 1986 bis Januar 1987 im Ostberliner Alten Museum und in Dresden präsentierten Schau Positionen, die erstmals elf der wichtigsten Künstler aus der Bundesrepublik in der DDR bekannt gemacht hat.15

Solche kulturellen Kooperationsprojekte rufen gleichzeitig das Bemühen der DDR-Politik hervor, die politische Abgrenzung zu betonen. Zu dieser Abgrenzung gehört das Konzept der „sozialistischen Nationalkultur“ ebenso wie die Konstruktion einer sozialistischen Nationalgeschichte mit eigenen Traditionen. Als ich 1985 mit meiner Publikation >Zweimal deutsche Kunst<, die den Untertitel „40 Jahre Nähe und Ferne“ trägt, hinter der Realität zweier Staatsgründungen auch nach einem gemeinsamen Traditionsfundus suchte, der sich in der Kunst und Kultur der beiden Teilstaaten auf deutschem Boden wiederfindet, und außerdem eine Reihe unangepasster Künstler vorstellte, erregte ich den Unmut der Kulturinstanzen in der DDR.

Auch bei der zweiten Zeitvergleich-Unternehmung (die am 10. September 1988 durch den Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen und Dietmar Keller als Festspiel-Ausstellung prominent eröffnet wird) zeigt sich die kulturpolitische Brisanz gesamtdeutscher Kunstprojekte. Die DDR verhindert, dass Beiträge zum Katalog von Henry Schumann, Christoph Tannert, Klaus Werner und Diether Schmidt in Auftrag gegeben werden können. Die ursprünglich für den Katalog vorgesehene, von Günter Feist unter Mitarbeit von Eckhart Gillen verfasste Chronik zur Kunst und Kunstpolitik der DDR muss auf Druck der DDR entfallen und erscheint unter dem Titel >Stationen eines Weges< schließlich als eigenständige Publikation des Museumspädagogischen Dienstes Berlin.

Doch die Steuerungsversuche, die die SED für Präsentationen mit Kunst aus der DDR in den 1980er-Jahren unternimmt, werden  zunehmend von Kräften unterlaufen, die sich in den Zirkeln einer nonkonformistischen Kunst zusammenfinden. Mit ausgereisten oder ausgewiesenen Freunden vernetzt, schaffen sich die aus dem Staatsauftrag ausgestiegenen Künstler eigene Kommunikationswege, die auch die Grenze überwinden. Dazu gehören  intermediäre handgefertigte Künstlerbücher, aber seit Ende 1987 auch die Westberliner Zeitschrift Niemandsland, an der Autoren aus dem Osten und Westen gleichermaßen beteiligt sind.

Allerdings sind in den Werkpräsentationen ostdeutscher Kunst, die westdeutsche Wirtschaftsunternehmen wie Hoechst, Salamander und einzelne Landesregierungen, vor allem Nordrhein-Westfalen, in den achtziger Jahren organisieren, stets die Favoriten des Staatlichen Kunsthandels der DDR vertreten, wobei Gerhard Altenbourg und Carlfriedrich Claus als Vertragspartner der Galerie Brusberg wichtige, ökonomisch begründete Ausnahmen darstellen. Nur selten ergreifen die Ausrichter solcher Veranstaltungen Initiativen, die Künstlerbeteiligung nach eigenen Vorstellungen durchgreifend zu beeinflussen.

IX                                                                                                                                                                                                    Das Verdikt, dass der deutsch-deutsche Kunstdialog von der Politik instrumentalisiert worden sei, findet sich in der Westpresse vor und nach dem Ende der DDR. Werner Hofmann hat nicht übertrieben, wenn er noch 2003 bilanziert, dass die Kunst aus der DDR für den Westen ein Ärgernis geblieben ist. Sie blieb es nicht zuletzt auch deshalb, weil eine vorurteilsfreie, werkbezogene Rezeption von Kunst aus der DDR nur in Einzelfällen stattgefunden hat. Als Folge des Kalten Krieges konnte sich in der alten Bundesrepublik eine generelle Negativeinschätzung von Kunst aus der DDR festsetzen. Im Juni 1990 gipfelte sie in dem viel zitierten Interview, das Georg Baselitz der Zeitschrift art gegeben hat. Den Kollegen aus dem anderen Deutschland warf Baselitz seinerzeit „ohne Ausnahme“ vor, stets Propagandisten des Systems gewesen zu sein, womit sie „die Phantasie, die Liebe, die Verrücktheit verraten“ hätten. Alle Künstler von Relevanz seien frühzeitig weggegangen, die Verbliebenen hätten an Rekonstruktionen gearbeitet, aber nichts erfunden.16 In solchen Äußerungen reproduziert sich das Überlegenheitsgefühl, das von der Politik mit der als >Weltsprache der Freiheit< apostrophierten Abstraktion seit den frühen 1950er-Jahren gegen den Sozialistischen Realismus in Abwehrposition gebracht worden ist.

Es war ein konfliktreicher Prozess, eingeleitet durch einen Literatur- und Bilderstreit, in dem die Abwertung der Kunst und Literatur aus der DDR auch nach der deutschen Vereinigung zunächst fortgesetzt wurde17, bevor die Ausstellung Deutschlandbilder 1997 einen ersten ermutigenden Versuch unternommen hat, die deutsche Kunst nach 1945 in einem gesamtdeutschen Horizont wahrzunehmen. Doch erst die von amerikanischen und deutschen Kunsthistorikern zuerst in Los Angeles, seit dem 28. Mai in Nürnberg und ab 3. Oktober in Berlin präsentierte Ausstellung Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945 –8918 lässt auf einen Durchbruch hoffen, der endlich einen westdeutschen Kulturimperialismus überwinden könnte. Bis jetzt haben wir mit dem politischen Paradox gelebt, dass es die Bundesrepublik war, die bis 1989 zwar die Einheit der deutschen Kultur als die Klammer für die Einheit der Nation beschwor, diese aber, als das Ziel, die deutsche Vereinigung erreicht war, allzu schnell wieder vergessen hat.

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1 In: Ausst.-Kat. Kunst in der DDR. Eine Retrospektive der Nationalgalerie, hrsg. von Eugen Blume und Roland März,  Berlin 2003, S. 33. Auf Hofmann selbst trifft diese kritische Beobachtung allerdings nicht zu. Er war einer der ersten Museumsdirektoren in der Bundesrepublik, die auch Werke von Künstlern aus der DDR für die Hamburger Kunsthalle angekauft haben.

2 Das Beratergremium (bestehend aus Kuratorium und Beirat) ist erstmals am 23. Oktober 2008 im Springer-Hochhaus zusammengetreten. Das Protokoll ist in Auszügen auf S. 16 – 23 wiedergegeben. Das Zitat von Walter Smerling findet sich auf S. 19.

3 Deutsche Übersetzung >Ist moderne Kunst kommunistisch?<, in: Charles Harrison und Paul Wood (Hrsg.), Kunstheorie im 20. Jahrhundert. Künstlerschriften, Kunstkritik, Kunstphilosophie. Manifeste, Statements, Interviews, Bd. II: 1940 – 1991, Ostfildern-Ruit 1998, S. 810ff.

4 In: Ausst.-Kat. documenta 1955, München 1955, Einleitung von Werner Haftmann, S.22.

5 Ausst.-Kat. II. documenta, Malerei, Köln 1959, Einführung von Werner Haftmann, S. 15.In den Abteilungen >Gemälde< und >Skulptur< der d2 war kein Künstler aus der DDR vertreten. Lediglich in der Abteilung >Druckgrafik< befanden sich zwei Zeichnungen von Gerhard Altenbourg aus einem Mappenwerk, das der  Westberliner Galerist Rudolf Springer herausgegeben hatte. Schon 1952 organisierte Springer im Westberliner Maison de France eine erste Einzelausstellung für Altenbourg.

6 Dietrich Mahlow hatte schon 1963 auch in der von ihm konzipierten, gemeinsam mit dem Amsterdamer Stedelijk Museum realisierten Ausstellung Schrift und Bild, die ab Juni in der Kunsthalle Baden-Baden gezeigt wurde, Werke von Carlfriedrich Claus einbezogen.

7 Will Grohmann (Hrsg.): Kunst unserer Zeit – Malerei und Plastik, Köln 1966, S. 257.

8 Ebd., S. 253.

9 Auf die Galerien, die sich für Kunst aus der DDR engagiert haben, kann hier nicht näher eingegangen werden. Eine der wichtigsten Initiativen: Michael Werner zeigt Ende 1968 in der Kölner Galerie Hake die erste Einzelausstellung von Ralf Winkler unter dem Titel deutsche avantgarde 3 a.r.penck, bilder. Seit den 1970er-Jahren erweitern sich diese Galerieaktivitäten zunehmend. Beispielhaft seien hier nur noch die Galerien Hertz (Bremen), Döbele (Ravensburg) und Tim Gierig (Frankfurt) erwähnt.

10 Andreas Karl Öhler, Vom Kalten Krieg zum warmen Händedruck, in: Hannelore Offner und Klaus Schroeder (Hrsg.), Entgrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961 – 1989, Berlin 2000, S. 466.

11 Ausst.-Kat.  Wilhelm Rudolph, Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Holzschnitte, Städtische Kunsthalle Düsseldorf 1975, S. 5.

12 Außerhalb der von Lothar Lang verantworteten Auswahl der sechs politisch sanktionierten Künstler aus der DDR, die in einer geschlossenen Rauminszenierung gezeigt werden, ist neben Penck auch Gerhard Altenbourg – wie schon 1959 – in der Abteilung >Zeichnung< der d 6 vertreten.

13 Im November 1979 eröffnet die mit dem gleichnamigen Verlag verbundene Elefanten Press Galerie in Westberlin eine Ausstellung >DDR-Kunst heute<, die in einer größeren Überblicksschau neben Heisig, Sitte, Tübke und den Altmeistern Niemeyer-Holstein, Mohr, Kettner und Rudolph auch Harald Metzkes, Nuria Quevedo und Volker Stelzmann sowie die Plastiker Fritz Cremer, Jo Jastram und Werner Stötzer vorstellt.

14 Zitate in: Tiefe Blicke, Köln 1985, S. 13 (Schmidt) und S. 328 (Anderson). Im folgenden Jahr (Juni 1986) zeigt das Westberliner Haus am Waldsee eine Ausstellung von fünf jungen Künstlern, von denen drei in Dresden und Ostberlin leben und zwei wenige Jahre zuvor in den Westen übergesiedelt sind: Der von Thomas Kempas inszenierte >Malstrom< umfasst Bilder von Ralf Kerbach, Helge Leiberg, Cornelia Schleime, Reinhard Sandner und Skulpturen von Hans Scheib.

15 „Projektleiter“ Lothar Romain hatte Antes, Girke, Graubner, Kiefer, Klapheck, Nay, Polke, Richter, Schumacher und Uecker ausgewählt. Für die DDR-Seite ist dem Katalog ein Vorwort von Kurt Nier, Stellvertreter des Ministers für Auswärtige Angelegenheiten, beigegeben. Auch in dieser protokollarischen Differenz zur Bonner Bildhauerkunst-Ausstellung zeigt sich der Gegensatz beider Staaten in der nationalen Frage.

16 „Ein Meister, der Talent verschmäht“. Interview von Axel Hecht  und Alfred Welti mit Georg Baselitz, in: art 6 (1990), S. 70. In diesem Zusammenhang soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass der westdeutsche Malerfürst Markus Lüpertz seine noch 1990 kategorisch formulierten Verdikte gegenüber ostdeutschen Kollegen revidiert und sich als Rektor der Düsseldorfer Kunstakademie 2005 an einer Festschrift für Bernhard Heisig zum Achtzigsten (im Leipziger Verlag Faber&Faber) mit einem Gedicht beteiligt hat. Darin finden sich folgende Zeilen: „So schufen die Maler hinter der Mauer/eine große Trotzdem-Bildwelt/die man lesen können musste/Bernhard Heisig ist ein Gigant/ dieser vergangenen Bretterwelt gewesen.“

17 Siehe dazu Rüdiger Thomas: Wie sich die Bilder gleichen. Ein Rückblick auf den deutsch-deutschen Literatur- und Bilderstreit, in: DA 5 (2007), S. 872ff.

18 Siehe den vorzüglichen Ausst.-Kat. Stephanie Barron und Sabine Eckmann(Hrsg.): Kunst und Kalter Krieg. Deutsche Positionen 1945-89, Köln 2009. Die Ausstellung wurde gemeinsam von Stephanie Barron und Eckhart Gillen kuratiert.

In: Deutschland Archiv, 42. Jg., H.4, 2009, S. 684-695.

© Karin Thomas

Ernst Brücher und die Neue Musikszene – Erinnerungssplitter

Text als Word-Dokument downloaden: Ernst_Bruecher_und_die_Neue_Musikszene_-_Erinnerungssplitter.doc

2008

Ernst Brücher und die Neue Musikszene – Erinnerungssplitter

Seit ich Ernst Brücher kennengelernt habe, gehören sein fundiertes Wissen zur Kunst, sein geradezu enzyklopädisches Bilder-Gedächtnis und seine nie versiegende Neugier auf alle Tendenzen der Avantgarde wie selbstverständlich zu seiner verlegerischen Persönlichkeit. Dass ihn aber darüber hinaus schon frühzeitig in der Nachkriegsära die Neue Musik in ihren Bann gezogen hat – diese Facette seiner Interessen wurde mir erst im Verlauf meiner langjährigen Lektoratstätigkeit in seinem Buchverlag offenkundig. Das publizistische Engagement des Kunstbuchverlegers für Mauricio Kagel und Nam June Paik, zu denen Ernst Brücher eine mäzenatische Freundschaft pflegte, war mir einleuchtend. Verbanden doch beide Künstler ihr musikalisches Experimentieren mit den performativen Aktivitäten der Fluxus-Bewegung, die in der Köln-Düsseldorfer Kunstszene seit den 1950er Jahren eine lebhafte Präsenz entfaltete. Doch den elektronisch-synthetisierten Klangschichtungen von Karlheinz Stockhausen verweigerte mein ausschließlich auf klassische Harmonien gepoltes Ohr zunächst jede Rezeptionsbereitschaft. So hat es geraume Zeit gedauert, bis ich 1994 erste Blicke in Stockhausens nun schon in mehreren Bänden bei DuMont edierte Werkdokumentation warf. Anlass dazu gab mir das Begleitheft zu der Ausstellung >Neue Musik in Köln 1945 – 1971<, das Franz-Xaver Ohnesorg 1994 zur Ersten Musik Triennale in der Kölner Philharmonie herausgegeben hatte. Eingestreut zwischen den Rückblicken längst zu internationalem Ruhm aufgestiegener Protagonisten der Neuen Musik, stieß ich auf die „Erinnerungen“ von Ernst Brücher an eine Zeit, als das von Herbert Eimert schon 1951 im WDR eingerichtete >Studio für Elektronische Musik< vielen Komponisten der Avantgarde die Realisierung ihrer Werke an den technischen Mischpulten des Senders und deren Aufzeichnung in der Sendereihe >Musik der Zeit< ermöglichte. Mit der für ihn so signifikanten Mischung aus humorvoller, auf die Anekdotenpointe fokussierter Erzählung und bescheidenem Hintanstellen der eigenen Kennerschaft blickt Ernst Brücher auf seine Erlebnisse im Konzertsaal des WDR zurück: „Es zirpte, klöppelte, schabte, zischte, piepste, murkelte und scharmützelte nur so, daß es eine reine Freude war. Na, dachte ich, das kann ja heiter werden, denn ich war ursprünglich gewohnt, zum Beispiel bei Beethovens Neunter Symphonie heimlich mitsummen zu können oder bei Wagnerschem Gebrause geistig-sinnliche Stimmungen in der Gegend des Unterleibes zu verspüren. (…) Dessen ungeachtet und trotzdem: Aus mir fast unerfindlichen Gründen lernte ich dann offenbar langsam doch, die sinnlich-heiteren Passagen von Berio, die pathetische Schönheit von Boulez, die phantasiebewegten, streng gegliederten Musikstücke von Mauricio Kagel, die sphärisch-mystischen Klänge von Stockhausen, die wunderbaren Innovationen von Nono und Ligeti, die hoch intelligente, mehrschichtige Arbeit von Paik zu verstehen und zu genießen.“

Diese Worte weckten meine Neugier auf das, was in DuMonts frühem Verlagsprogramm zum Thema Neue Musik zu entdecken war. So konnte bereits der zweite Produktionszyklus nach der Verlagsgründung mit einer Trouvaille aus dem Studio für Elektronische Musik überraschen. Dort entsteht 1957 die Schallplattenaufzeichnung Fa:m’Ahniesgwow, eine Komposition in 43 Strukturen von Hans G. Helms. Laute, Silben, Worte, Phrasen der Umgangssprache und Slangausdrücke sind derart zu Begriffskomplexen verbunden, dass sie unversehens in eine scharfe Kritik an dem medialen Sprachverschleiß durch Reklame und Propaganda umschlagen. Brücher veröffentlicht die Strukturenfolge als Buch und als Schallplatte mit Synchronisationsplan und etabliert mit dieser ersten Künstleredition die Reihe studio dumont, die fortan außergewöhnlichen Einzelpublikationen und Künstlerbüchern vorbehalten ist. 1969 veröffentlicht Dieter Schnebel in dieser Reihe unter dem Titel Mo-No Musik zum Lesen, die den Benutzer des Buches für sich allein agierend – mono – zum Ausführenden von Musik im Kopf macht. Bereits 1960 hatte Ernst Brücher in den DuMont Dokumenten, die sich zur erfolgreichsten Reihe in der Verlagsgeschichte entwickeln werden, mit dem Titel Kommentare zur Neuen Musik I eine Auswahl der ursprünglich vom WDR-Studio für Elektronische Musik unter der Regie von Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen edierten Hefte 1 bis 7 Information über serielle Musik herausgebracht. Der Sammelband würdigt zunächst mit Texten u. a. von Pierre Boulez, Herbert Eimert, Heinz-Klaus Metzger, Ernst Krenek und Arnold Schönberg die Bedeutung Anton Weberns für die elektronische Musik, während Komponisten wie John Cage, Henri Pousseur, Gottfried Michael König, Boulez und Stockhausen Einblicke in ihre Konzeptionen elektronischer Klangerzeugung geben. Noch heute ist das Buch eine profunde Quelle zur Geschichte der Neuen Musik.

Zu Brüchers Freunden aus der Szene der Neuen Musik gehörte auch John Cage. Wir finden den Amerikaner  sowohl im WDR-nahen Eiscafé des Jazz-begeisterten Gigi Campi und unter den Gästen der späteren Ehefrau Stockhausens, Mary Bauermeister, die aus ihrem Kölner Atelier einen salonartigen Treffpunkt der Rheinischen Avantgarde macht, wie auch im Hahnwald-Anwesen der Familie Brücher. Daran erinnert sich Ernst Brücher geradezu lustvoll in seinem Essay für die Broschüre der Musik Triennale 1994: „Gemeinsam mit Kind und Kegel (…) reisten wir (…) zu den seinerzeit höchst aufregenden und produktiven Musiktagen in Darmstadt. Zur selben Zeit begannen wir, zu Hause unprätentiös-vergnügt sogenannte Hauskonzerte zu veranstalten. Neben manchen der schon erwähnten kühnen Meistern der Tonkunst erschien auch John Cage, dessen musikalischer Beitrag insofern angenehme Stille und gute Konzentration verbreitete, indem er sich zwischen uns auf den Boden hockte, ein Bettlaken über den Kopf zog und einen hölzernen Kochlöffel ab und zu unten aus dem weißen Linnenberg herausschauen ließ: >Listen, that’s a beautiful and intelligent mouse…<, rief er uns aus seinem Versteck zu.“ In den Erzählungen des Komponisten gibt es eine weitere Anekdote aus dem Haus in Hahnwald, die Ernst Brücher wohl stets geleugnet hat, die aber von Teilnehmern aus dem Brücherschen Freundeskreis ihre Bestätigung fand. Danach soll Cage im Hause Brücher eine Privatvorführung seines berühmten Stückes 4’33 vorgenommen haben, ohne dass dies vom Gros der Anwesenden bemerkt worden wäre. Als der Hausherr gegen Mitternacht den Künstler fragte, wann er denn seine Komposition spielen werde, soll der verwundert geantwortet haben, sie sei bereits vor dreieinhalb Stunden vorgeführt worden. In der Tat bestand das 1952 konzipierte Stück aus den Zufallsgeräuschen eines vom Künstler ausgewählten Zeitintervalls von 4 Minuten und 33 Sekunden.

Während der weitläufige Hahnwald-Neubau der Familie Brücher einen vielzähligen Freundeskreis aufnehmen konnte, befand sich Mary Bauermeisters Atelier in einer kleinen Dachbodenwohnung in der Lintgasse. Um die Gäste ihrer geschätzten Soireen unterbringen zu können, musste Frau Bauermeister jeweils Möbel rücken und Ernst Brücher um das Anmieten von Klappstühlen bitten. Das tat er bereitwillig, wie er mir erzählte, bis der Stuhlverleih ihn darauf hinwies, dass der Fußboden im Bauermeister-Atelier den außerordentlichen Belastungen nicht gewachsen sei und dass daraus im Ernstfall ein kostspieliges Versicherungsproblem entstehen könnte.

In der langjährigen Freundschaft zu Nam June Paik spiegelt sich das außerordentliche Engagement Brüchers für die Videokunst, die schon in ihren Anfängen bei DuMont eine breite publizistische Präsenz erhielt. 1971 verfasst Paik auf Veranlassung von Ernst Brücher für meine eigene Dokumentation aktueller Ästhetik Kunst Praxis heute (erschienen 1972) einen ersten Bericht über den gemeinsam mit Shuya Abe konstruierten Videosynthesizer, der es möglich macht, dass Töne Bilder werden. Aus der „elektronischen Musik“ entwickelt Paik seine elektronische Videokunst. Als der Kölner Kunstverein 1976 die erste deutsche Retrospektivausstellung zum Werk von Paik veranstaltet, erscheint der Ausstellungskatalog mit einer detaillierten Werkchronologie des Künstlers bei DuMont. Gerd de Vries, der das Lektorat des Katalogs betreut, stellt bei der Kontrolle der Werkabbildungen mit dem Kennerblick des Musikwissenschaftlers  fest, dass die Partitur einer frühen Symphonie – anders als vorgegeben – unvollständig ist. Im Unterschied zu den Ausstellungsorganisatoren nimmt Brücher den Hinweis seines Lektors auf die Unvollständigkeit der Dokumentation ernst und macht in vielen Telefonaten Paik ausfindig, der zu dieser Zeit seinen Aufenthaltsort ständig zwischen Tokio, New York und Köln wechselt. Dankbar für die Umsicht des Lektors und die Brüchersche Vermittlung schickt Paik umgehend das fehlende Partiturstück seiner symphonisch konzipierten Komposition.

In den frühen 1970er Jahren erweist sich Brücher als Fan der Pop-Kunst und der Beatles. Nach einem seiner vielen London-Aufenthalte schenkt er seinem Freund Mauricio Kagel – wie Achim Mantscheff berichtet – eine Platte der Beatles mit dem Kommentar: „Mauro, jetzt wird es ernst, mit diesen Burschen wird die Sache anders.“ Hatte Brücher doch erkannt, dass mit den Stücken der Pilzköpfe die Grenzen zwischen den Bereichen von E- und U-Musik endgültig durchbrochen wurden. Da er die Kontinuitäten und Wandlungen von künstlerischen Konzepten stets frühzeitig wahrnahm, erkannte er die durchkomponierte Struktur in den Stücken der Beatles, die dem Musikverständnis eines Stockhausen weit näher waren als jeder gängigen Schlagerproduktion. So wundert es nicht, dass der Einfluss Stockhausens auf die Beatles in der Literatur häufig apostrophiert wird. Michael Kurtz berichtet in seiner 1988 erschienenen Stockhausen-Biografie sogar von den Plänen eines gemeinsamen Konzerts. So manchem Mitglied der avantgardistischen Rock-Szene hatten Stockhausens elektronische Klänge den Einstieg in neue Sound-Texturen gewiesen. Als John Lennon im Dezember 1980 ermordet wurde, veröffentlichte die Welt am Sonntag Stockhausens Würdigung, in der es hieß: „Lennon hat mich früher oft angerufen. Er liebte besonders meine Hymnen und den Gesang der Jünglinge und hat manches übernommen, zum Beispiel für Strawberry Fields Forever.“ So tat Ernst Brücher recht daran, als er den alten Freunden der Neuen Musik auch weiterhin editorisch die Treue hielt. Er publizierte sorgfältig erarbeitete Werkdokumentationen zu John Cage und Mauricio Kagel, Kataloge und Schriften von Paik sowie über mehrere Jahrzehnte die Schriften von Karlheinz Stockhausen in einer Werkausgabe von insgesamt sechs Bänden.

© Karin Thomas

In: Ernst Brücher. Ein Erinnerungsbuch. Köln: DuMont Buchverlag 2008, S. 120-125.

Expeditionen eines „Bilderkämpfers“

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2008

Expeditionen eines „Bilderkämpfers“

Wer immer das Berliner Atelier des 1968 im  russischen Krasnodar geborenen Malers Igor Oleinikov betritt, wird unwillkürlich von der herausfordernden Melancholie der hier versammelten großformatigen Gemälde in Bann gezogen. Weit entfernt von der modischen Attitüde, mit der hierzulande gegenwärtig eine erzählfreudige Figuration Ironie mit Nostalgie und Pop-Voyeurismus mit Obsessionen vielfältiger Herkunft zu einer bunten Zitatenmalerei verschränkt, begegnet man in den asphalttonigen Bildern Oleinikovs einer malerisch ausgereiften Sublimation von Selbstanalyse und Realitätserfahrung.

Jedes Sujet verweigert eine direkt ablesbare Bildanekdote. Der Prozess des Malens erweist sich vielmehr als ein existenzielles Geschehen, in dessen Verlauf der Künstler seine Emotionen verortet und sich selbst reflektierend zu umgreifen sucht. Je intensiver man diese von starken Hell-Dunkel-Kontrasten durchsetzten Tableaus betrachtet, um so mehr bemerkt man ihre tonale Vernetzung: Man erlebt sie als eine sehr persönliche Positionsbestimmung, wie sie nur in einer wortfernen Sprache erfolgen kann, vergleichbar den zyklischen Melodien in Schuberts Winterreise, deren Texte ein Naturbild beschreiben, während sich auf einer Metaebene der reinen Musik ein Seelendrama offenbart.

Oleinikovs vereinzelte Gestalten befinden sich jeweils in einer extraordinären physisch-psychischen Herausforderung, die zwischen Resignation und Abschiedsqual, Aufbruch und banger Erwartung oszilliert. Die Begegnung mit einer fremd anmutenden Welt, die der Maler auf seinen Bildern inszeniert, wird zur Metapher für das Sondieren eigener Befindlichkeiten: Entkräftet kauert ein sich selbst überlassener Wanderer inmitten einer eisigen Ödnis, die sich fast endlos als riesige Leerstelle zwischen ihm und seinem Ziel, einer kleinen Ansiedlung am Fuße eines Berges, ausdehnt (Berg). Auf einem anderen Bild ist ein verzweifelter Fluchtversuch im giftgrünen Dschungel einer selbstquälerischen Ausweglosigkeit gescheitert. So wie sich in die rigorose Abstraktheit der weißen Ebene das melancholische Angstdunkel des Wanderers als apokalyptisches Stimmungsbild eingeschrieben hat, ist auch dieses Szenarium einer gefahrvollen Randlage Allegorie, in der sich ein psychischer Zustand Sinn-verbildlicht (Fluchtversuch). Auf dem Gemälde mit dem verrätselten Titel Jahre sucht ein wahrhaft Alleingelassener nach Orientierung inmitten eines Labyrinths. Die mit minutiöser Realistik figurierte Gestalt in Mantel und Hut, die wir nur in Rückenansicht sehen, verharrt vor einer schemenhaft gezeichneten Raumkulisse, deren Wände vom Sog dunkler Fensterhöhlen wie von schwarzen Löchern durchstoßen werden. Folgt man der Fährte, die der Bildtitel auslegt, so erschließt sich das hermetische Gehäuse als das eigene Leben, dem der Flaneur gegenübersteht. Sein Weg ist gleichermaßen Rückschau und Suche nach Aufbruch. Und doch ist diese sorgfältig konzipierte Komposition keine Episodenschilderung, sondern sie verdichtet mit beklemmender Aura ein traumartiges Verweilen, in dem sich Urszenen des Lebens zeit- und raumentrückt vergegenwärtigen.

Oleinikovs melancholische Wanderer durch unwirtliche Regionen wecken Assoziationen an die Figur des Stalker aus dem gleichnamigen Film, den der russische Regisseur Andrej Tarkowski 1978/79 drehte und der aufgrund seiner eigenwillligen Bildsprache sofort nach seiner westlichen Erstaufführung beim Festival in Cannes als Meisterwerk der Filmkunst gefeiert wurde. Was dort zunächst wie ein Science-fiction-Abenteuer angelegt ist, die Expedition des Stalker in postapokalyptische verbotene Zonen, entpuppt sich sehr bald als ein Geschehen mit verschlüsselter Symbolik in einer dichten Atmosphäre zwischen Traum und Poesie. Denn die Expedition, die der Stalker mit seinen Begleitern ausführt, wird letztlich für alle zur Reise in die Innenwelt – dorthin, wo sich Erinnerungen, Ängste und Wünsche begegnen. Der amorphe Vegetationsteppich, der auf Oleinikovs Gemälde Déjà-vu den Schlafenden und seine Traumgestalten wie in einer bizarren Naturhöhle umschließt, erinnert unmittelbar an Szenarien aus den verbotenen Arealen, die Stalker zu betreten wagt.

Oleinikov allegorisiert wie Tarkowski hinter der Protagonisten-gestalt seines nomadischen Sinnsuchers, der seit der Romantik unter vielfältigen Maskierungen in Kunst und Literatur in Erscheinung getreten ist, seine Existenz als Künstler und sondiert mit einer rigorosen Neugier deren Tiefenschichten. Aufschlussreich sind die wie Tagebücher anmutenden Skizzenblätter, auf denen er die Rhythmen seines Künstleralltags in allen Nuancen festhält und zugleich sein Werkprogramm in akribischen Bildplänen erprobt. Gedankensplitter und wie zufällig aneinander gereihte Wortakkumulationen sind durchwebt von Emotionsprotokollen, die mit ganzen Serien kastenartig gefasster Miniaturzeichnungen korrespondieren. Diese rasch mit dem Bleistift zu Papier gebrachten Skizzen erweisen sich bei eingehender Betrachtung als szenische Bozzetti, in denen der Maler die landschaftlichen oder architektonischen Bühnenprospekte seiner Gemälde entwirft, aber auch seinem Porträt in immer anderen Selbstbeobachtungen gegenübertritt. Worte wie „Schock, Begeisterung, Melancholie, Verlust, Trennung, Hoffnung, Warten“ mischen sich mit momenthaften Psychogrammen und allegorischen Zustandsbeschreibungen. So enthalten die Randspalten der Blätter neben Notaten, die an Alltagsverpflichtungen erinnern, tiefsinnige Satzfetzen, in denen sich eine schonungslose Fährtenlese an den Grenzzonen der eigenen Psyche artikuliert. Je genauer man den Spuren dieser verbalen Zustandsprotokolle und der szenischen Genese der Bildkonzeptionen folgt, umso mehr öffnet sich ein Zugang in den Sinnfundus, der sich in den Motiven verrätselt. Damit verbunden ist ein magischer Hermetismus, der den Betrachter in das Eigenleben dieser metaphorischen Bilder hineinzieht und seine eigenen Imaginationen in Gang setzt.

Oleinikovs Malerei verweigert sich jeder Berührung mit der auf Moskau zentrierten Soz-Art seiner gleichaltrigen Landsleute, die ihre postsowjetische Kunst mit einem staunenden Blick auf konträre Welten aufgeladen haben. Verbinden sie doch ihre Kritik an der gebeutelten heimatlichen Zivilisation mit einer plakativen Theatralik, die sich zwischen Banalität, Pathos und Ironie ansiedelt. Oleinikov hatte jedoch den Mut, sich einem radikalen Selbstfindungsprozess auszusetzen, als er vor zehn Jahren nach einer in Krasnodar abgeschlossenen Ausbildung, nach Militärdienst und anschließender Tätigkeit als „Agit-Prop-Maler“ in einer Lederwarenfabrik nach Deutschland kam und sich für ein weiteres Studium der Malerei an den Kunstakademien von Karlsruhe und Düsseldorf entschloss. Statt vorgegebene malerische Konzepte zu annektieren, suchte er nach einer angemessenen Bildform für die unabhängige künstlerische Existenz, die sich seiner Vorstellung eingeschrieben hatte und nach einer expressiven Gestaltung verlangte.

Während der Düsseldorfer Akademiezeit avanciert Oleinikov zum Meisterschüler von Markus Lüpertz, der die außer-ordentliche Begabung und Eigenständigkeit des seit 2005 freischaffend tätigen Malers treffend mit den Worten würdigt: „Es wäre zu einfach, bei den Bildern von Igor Oleinikov das Russische zu sehen und dennoch ist man verführt, der Bequemlichkeit halber daraus vieles zu erklären. Erwecken die Bilder von Igor Wehmut, Weite und Seele, Attribute, die sich nur thematisch gesehen mit dieser russischen Seele verbinden. Igor malt sicherlich aus vielen, aus anderen und aus diesen Gründen.“ In der Tat wird hier die Kultivierung eines individuellen Malkonzeptes deckungsgleich mit einer prozessualen Expressivität, die in ihrer kathartischen Selbstreinigung eine an Dostojewskis Seelenanalysen erinnernde Rigorosität entfaltet hat. Das eigentliche Faszinosum, das von diesen Bildern ausgeht, entspringt ihrem Wagnis, sich den dunklen Kehrseiten des Schönen dort zu nähern, wo aus dem Chaotischen die inspirierende Meditation über etwas Neues hervorgeht.

Zwei Gemälde aus dem Jahr 2006, Licht und Bilderkämpfer, zeigen in einem allegorischen Aktionismus die obsessive Vehemenz, mit der sich die künstlerische Selbstverortung vollzogen hat. Auf beiden Gemälden wehrt sich eine prometheische Gestalt, die sich in einem Kraftakt des erhellenden Feuers bemächtigt, gegen eine geballte Phalanx von bewaffneten Angreifern, die sie – aus gespenstischen Nebelschwaden auftauchend – mit ihren Aggressionen attackieren. Diese mythologisch chiffrierten Selbstgespräche des Malers über sein Künstler-Dasein beschwören eine kafkaeske Stimmung, die an die Schwarzen Bilder Goyas gemahnt. Dort begegnen wir erstmals der beklemmenden Atmosphäre von rigorosen Selbstgesprächen, der komplementären Spannung zwischen dem Dunkel und dem Licht, in deren unausweichlicher Zerrissenheit die Kreativität ihre Quellen findet. Auch Oleinikov versteht es meisterhaft, seinen Bildern eine dramatische Raumtiefe aus dem Wechsel-spiel zwischen dunklen Grau- und gleißenden Lichtzonen zu geben und in sie hinein seine Autoporträts zu projizieren. Ein subtil gemalter Schleier aus schwebenden Farbschlieren legt sich in dem Gemälde Licht über das Figurationsgeflecht aus einer in die Tiefe fluchtenden öden Industrielandschaft und den als geballte Masse auftretenden Angreifern. Im Fluchtpunkt ihrer Bajonette steht der aus ihren Reihen Herausgetretene. In diesem Traumbild erinnert der Künstler noch einmal den für seine Psyche geradezu gewaltsamen Akt der Selbstfindung.

In einer Reihe von Traumbildern tritt ein roter Farbfluss in Erscheinung und behauptet sich kraftvoll gegenüber dem Sog der dunklen Bildräume. Während die Gemälde Entscheidung und Pause  Wegetappen des Abschieds und des Aufbruchs in traumanalytischen Rückblicken rekapitulieren, verdrängen die Impulse der monochromen Farbe im puren Rot zunehmend das Figurenpersonal und die Landschaftsprospekte aus den Erinnerungsbildern. Stattdessen breitet sich ein Areal der Meditation aus, dem sich das Künstler-Ich anheimgibt. Dessen abstrakte Transparenz speichert die künstlerischen Hoffnungen, Wünsche und Erwartungen an die Zukunft, transformiert aber auch im Prozess des Malens bittere Erfahrungsmomente in eine poetische Sphäre entrückter Wehmut.

Wie bereits anfangs konstatiert, porträtiert sich Oleinikov als Wanderer, dessen Sinnsuche nicht geradlinig verläuft. In Notaten auf den Skizzenblättern und in seinen Selbstbeobachtungen sondiert er stets aufs Neue, was es für ihn heißt, sich ganz „für die Kunst“ zu entscheiden. Das Gemälde Pause gibt Aufschluss darüber, dass die den Bilderkämpfer angreifende Phalanx keine Fremden sind, sondern – ausgestattet mit der signifikanten Physiognomie des Sinnsuchers – als dessen beunruhigende Wiedergänger aus anderen Lebensabschnitten auftauchen. Auf dem Gemälde Pause sind sie wie auch der Sinnsucher für einen Moment des Innehaltens in einen bleiernen Schlaf versunken.

Existenz für die Kunst, wie ein Bildtitel lautet, bedeutet Vereinsamung, Leiden an Verlusten und an Erinnerungen – Zustände, denen Oleinikov in allegorischen Parabeln viel-schichtigen Ausdruck gibt. Dem inneren Gedächtnis entsteigen rätselhafte Imaginationen, die in den Tiefen des Unter-bewussten ihre Ursachen lagern und im malerischen Akt ihr Ventil finden. So mag sich dem Betrachter beim Blick auf das Gemälde Mohnfeld die Frage aufdrängen, ob sich hinter dem roten Farbfluss jenseits seiner allegorischen Verweisfunktion auf die künstlerische Selbstentäußerung nicht auch ein historischer Assoziationsraum öffnet, eine im Verlust verklärte Reminiszenz an die Heimatstadt Krasnodar verbirgt. Krasnodar bedeutet – wörtlich übersetzt – „rotes Geschenk“. So wurde die Stadt 1920 von den Sowjetkommunisten benannt. Gegründet hatte sie 1794 unter dem Namen Jekaterinodar die in Deutsch-land als Prinzessin von Anhalt-Zerbst geborene Zarin Katharina die Große als Festung und Militärstandort der Schwarzmeerkosaken, die ihren Unabhängigkeitswillen und Freiheitsanspruch noch unter sowjetrussischer Herrschaft verteidigten. Wie nachhaltig – wenn auch in Malvorgängen verschlüsselt – sich Oleinikov in dieser Tradition sieht, lässt sich an dem Umstand ablesen, dass er sich selbst gelegentlich wie ein Kosak ins Bild setzt. Die Landschaft in der Region Krasnodar am Fuße des Kaukasus wird von weiten fruchtbaren Getreidefeldern geprägt, über die sich im Sommer ein Meer von Mohnblüten ergießt. Halb eingetaucht in dieses idyllische Erinnerungsbild schaut ein selbstbewusstes Künstler-Ich auf einer Variante von Mohnfeld, die den Titel August trägt, mit melancholischem Blick zurück auf sein in Verzweiflung verharrendes Alter Ego. Oleinikovs Metapher des Mohnfeldes legt mit ihren zwiespältigen Assoziationshorizonten von Verlusten und Sehnsüchten den Vergleich mit den emphatischen Bildern zwischen Tragödie und neu aufkeimender Hoffnung nahe, die der Lyriker Paul Celan in dem Gedichtband Mohn und Gedächtnis (erschienen 1952) beschworen hat. Wie bei Celan aus der ästhetischen Kraft des Natursymbols eine poetologische Selbstreflexion an den Rändern des Unsagbaren hervorgeht, so verankert auch Oleinikov traumatische Realitätserfahrungen und Erwartungen an seine künstlerische Selbstverwirklichung im sensiblen Gewebe seiner Metaphorik, um dort eine Begegnungsebene von Bewusstheit und Unbewusstheit auszuloten.

Das Atelier, ein einsamer Raum aus purem Rot, ist die Transformationsschleuse, in der sich die Imaginationen aus der Vergangenheit mit neuen Projektionen amalgamieren. Hier entstehen Bilder, in denen Oleinikov die Bruchstellen von gesellschaftlicher Entfremdung und einsamer Selbstfindung in neuen kulissenhaften Einkleidungen erforscht. Jedes Detail der szenischen und figuralen Bildkompositionen wird dabei in zeichnerischen Arbeitsgängen vorbereitet. So wie die Bleistiftnotationen der Skizzenblätter eine landschaftliche Motivik erproben, die auf suggestive Tiefenwirkung fokussiert ist, werden auch Materialphänomene, kühne Raumausschnitte und Körperhaltungen in der Zeichnung akribisch vorformuliert. Aus dem Mit- und Ineinander von hauchfeinen Strichlagen, die der Bleistift auf den Bildträger setzt, und kompakten Kompartimenten der Ölfarbe resultiert eine raffiniert inszenierte Wechselwirkung von Licht- und Schattenpartien, mit deren Effekten Oleinikov nicht nur Körperlagen in extremer Schrägsicht konstruiert, sondern auch Raumebenen differenziert und unterschiedliche Materialkonsistenzen mit fotografischer Präzision beleuchtet (siehe hierzu die Zeichnungen Tastend, Kälte, Glas oder Holz).

Als Betrachter ist man geneigt, eigene Vorstellungen in Oleinikovs mysteriöse Bildwelten und deren sinnliche Magie hinein zu interpretieren. Und doch schreckt man im gleichen Moment solcher Anwandlungen vor dem Ausdeuten zurück, weil sich in jedweder Konkretion das Wesentliche dieser Bilder, die Anziehungskraft ihrer geheimnisvollen Impression, verflüchtigen würde. Vor allem jene Gemälde, die einen intimen Dialog zwischen ihrer bildfüllenden Architekturkulisse und der psychischen Befindlichkeit der Person austragen, die sich in dieser Bildwelt bewegt, verweigern eine narrative Lektüre und erobern sich mit sanftem Zwang das ästhetische Wahrnehmen ihrer geheimnisvollen Aura.

Auf dem Bild Korridor sieht sich der Betrachter von den drei Treppenstufen im Vordergrund und dem Lichtschein am Ende des schmalen Ganges zum Einstieg in die Korridortiefe auf-gefordert. Doch gleichzeitig entströmt dem Bildgefüge eine Gegenbewegung. Diese geht von dem alten Mann aus, der sich – mühsamen Halt ertastend – an die linke Korridorwand klammert, um der kalten Helligkeit in der Fluchttiefe des Raumes zu entfliehen. Albtraum und Faszination vereinigen sich zu einer atmosphärischen Symbiose, die bildimmanent aus dem malerischen Procedere hervorgeht. Tritt man nahe an diese Gemälde heran, wird ihre subtile Bildkomposition im hand-werklichen Detail ablesbar. So formt sich aus amorphen, kurz gesetzten Pinselflecken die Weichzeichnung der Landschaftsareale, während Architekturkompartimente – gleichgültig, ob sie einen unscheinbaren Innenraum, ein Ruinenensemble oder den Portikus mit Treppenaufgang an einem verfallenen Herrschaftsgebäude ins Bild setzen (Garten) – eine sorgfältig austarierte Konstruktion aus unterschiedlichen Grautonlagen aufweisen. Wo diese malerischen Modalitäten der Farbnuancierung und des konzeptuellen Raumaufbaus zusammenfließen, schaffen Oleinikovs Bildfindungen eine eigene Welt, in deren melancholischer Poesie die hintergründige Stimmung aus den literarischen Werken Anton Tschechows oder die fotografischen Chamois-Ablichtungen auf alten Plattenkameras nachklingen. In diesen mit der Imaginationskraft seiner Kunst geschaffenen Resonanzraum bettet Oleinikov in Gestalt parabelhafter Figurationen die sich der Sprache entziehenden analytischen Expeditionen seiner Künstler-Existenz.

© Karin Thomas

In: Igor Oleinikov Sturm. Dresden: Sandstein Verlag 2008, S. 7-9.

Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack

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2006

„Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“

Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack

 

Von der Lichtkunst zur Gartenkunst im künstlerischen Schaffen von Heinz Mack ist die Wegspanne nicht weit. Mag die optische und atmosphärische Distanz zwischen den Lichtarealen der Zero-Jahre und den Skulpturengärten aus Kunstobjekten und Naturkompartimenten der jüngeren Werkphase auf den ersten Blick auch groß anmuten. Gartenkunst ist in ihrer jahrtausende-alten Geschichte stets gezähmte Natur, und ihre Ordnungs-instrumente sind den kompositorischen Strukturen der Mack-schen Lichtkunst durchaus vergleichbar.

 

Als Heinz Mack 1958 seine ersten Vibrierenden Lichtsäulen entwarf, betrachtete er selbst diese eleganten Stelengebilde keinesfalls als Skulpturen im traditionellen Sinne. Sie waren für ihn vielmehr materielle Mittel für visionäre Pläne, Filter für Verwandlungen, mit deren Hilfe er seine Vorstellungen von weiträumigen Gärten aus farbigem Licht zu realisieren hoffte. Mack dachte schon zu dieser Zeit über artifizielle Licht-inszenierungen in monumentalen Ausmaßen nach. Er plante Aktionen als Lichtballette, in deren Verlauf sich farbige Lichträume wie immaterielle Schleier über den Wüstensand der Sahara oder das endlose arktische Eis ausbreiten sollten. Sein Traum von vibrierenden Lichtgärten, die ganze Stadtregionen oder elementare Naturformationen in ihrer Erscheinungsweise durch Lichtmodulationen völlig verwandeln würden, war – so utopisch die ersten Ideennotate und Planskizzen etwa zum Sahara-Projekt zunächst noch erscheinen mochten – niemals bloße Schwärmerei eines künstlerischen Idealismus ohne Bodenhaftung. Macks Träume hatten ihre solide Verwurzelung in der Fähigkeit des Künstlers, seine Visionen mit der Disziplin des sorgfältigen Handwerkers und mit der Erprobung modernster Technik symbiotisch zu verbinden. Mit seinen Lichtgittern aus dem Aluminium der Flugzeugindustrie, mit völlig neuartigen Silbernetzen und Spiegelkuben sowie mit der Variation von elektrischem und natürlichem Licht durch seine Instrumente schuf sich Mack einen materiellen Fundus, mit dem er seine Träume von immateriellen Lichträumen in die Realität umsetzen konnte: ab 1962 die Lichtexperimente in der afrikanischen Wüste, 1963/64 die Lichtmauer in Antwerpen, 1966 der Lichtwald aus 20 Spiegelstelen in Manhattan, die vielen Licht- und Spiegelplantagen, die Mack seit den 1970er Jahren an diversen Orten der Welt realisiert hat. Alle diese inszenatorischen Werkkonzeptionen zielten darauf ab, mit der immateriellen Strukturenvielfalt der spektralen Lichtbrechung sphärische Räume topographisch in Relation zu realen Land-schaften zu markieren, um diese durch den temporären Eingriff der Kunst in ihrer natürlichen Erscheinungsweise zu verwandeln.

 

Damit sind wir auf einen zentralen Bezug des Mackschen Werkes zur Gartenkunst gestoßen. Schon der antike Schrift-steller Plinius der Jüngere, der im ersten vorchristlichen Jahrhundert über das Wesentliche eines Gartens nachdachte, sieht die Gartenästhetik dadurch motiviert, ein Theatrum für Visionen zu schaffen, indem aus dem Miteinander von real erlebter Natur und kultivierter Ordnung durch Form der Genuß aller Sinne erwächst, so daß der Garten zum sichtbaren Sinnträger des Schönen avanciert. Es verwundert nicht, daß sich die Gartenkünstler der Renaissance und des Barock eben auf Plinius beriefen und für ihre Gartenanlagen die Villa des Römers in Tuscien zum Vorbild nahmen. 2 Doch erstaunlicherweise lassen sich Sätze wie der des berühmten Gartenarchitekten Jan van der Groen auch ohne weiteres auf die modernen Lichtgärten von Heinz Mack übertragen, wenn es dort heißt: „Durch das Mittel der Kunst kann man die Natur verschönern und ihr die Annehmlichkeit, die Schönheit und die Ordnung geben, die sie vorher (im Zustand der Wildheit) nicht hatte.“ 3

 

Sucht man mit einiger Systematik nach inneren Verbindungslinien zwischen der historischen Gartenkunst und dem Mackschen Œuvre, lassen sich nicht nur in vielen Werktiteln, sondern auch in ganzen Werkgruppen frappierende Nähen entdecken. So muten zahlreiche Pastellzeichnungen – ein Medium, das im Werk der 1990er Jahre verstärkt in Erschei-nung tritt – wie minutiöse Farbentwürfe für die Bepflanzung von Parterrebeeten an. Erhält die Imagination freien Lauf, vermag man in diese geometrischen Farbareale, die Mack sehr offen als Chromatische Konstellationen bezeichnet, die kunstvollen Beetmuster italienischer Renaissance- und französischer Barock-Gartenkünstler hineinzudenken, in denen sich die kultivierende Zügelung der Natur bildhaft verdichtet. Mack, der sich auch ganz real mit der Planung von Gärten in unter-schiedlichen Landschaften und klimatischen Regionen beschäftigt hat, wird beim Anblick der abstrakten Farbfelder auf seinen Pastellen nichts einzuwenden haben gegen die Assoziation von farbigen Blumenteppichen, wie sie auf den alten Parterreplänen so sorgfältig in Gestalt verschiedener Pflanzenarten verzeichnet sind, damit der Betrachter der Gärten zu jeder Jahreszeit einen anderen Eindruck erleben möge.

 

Die Gärten des Barock waren geprägt von einem verzweigten Achsensystem, das durch wechselnde Blickbezüge zwischen Wasserspielen, Skulpturenensembles, künstlichen Grotten und Boskettpflanzungen die Gartenanlage mit einem individuell zu gestaltenden Erlebnisangebot ausstattete. Auch für Mack ist die Arealisierung ein wichtiges Moment seiner artifiziellen Lichtgärten. Er schafft wie der Gartenkünstler – allerdings mit den Mitteln moderner Technologie – reale Erlebnisräume, auch wenn diese immateriell temporär sind. Ihre Dynamik wird durch die sorgfältige Plazierung der lichtbrechenden Reliefs, Spiegel-kuben, Stelen und Gitterflügel in Gang gesetzt und dadurch zugleich auch räumlich wie zeitlich begrenzt.

 

Heinz Mack ist ein Künstler, der sich bei allem Avantgarde-bewußtsein stets in Traditionen eingebunden sah, der sich in der Kunstgeschichte auskennt und sein Werk jenseits der Nutzung industrieller Werkstoffe in den Kontexten historisch gewachsener Symbolik und Metaphorik reflektiert. So weiß er sehr genau, daß die Vorstellung des Gartens im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung bis hin zum Landschaftsgarten des 19. Jahrhunderts stets auf das Urwunschbild aller geordneten Natur Bezug genommen hat, auf das Paradies. Das wird im Alten Testament (1. Mos. 2, 8-15) als der Garten Eden, als eine sinnlich erlebbare wunderschöne Parklandschaft des Friedens beschrieben. Dem Garten Eden und dem Paradiesgarten begegnen wir mehrfach in den Werktiteln bei Mack, wobei die von ihm bewußt gesuchte Assoziation weniger auf den theologischen Bedeutungshorizont der alttestamentarischen Vorstellung als auf deren ästhetische Utopie zurückgreift. Das Paradies bezeichnet einen Ort der Balance, in dem die schöne Ordnung einer sinnlich erlebbaren Natur zum Sinnbild des Idealen wird. Ein Wandrelief im Düsseldorfer Schauspielhaus – 1981 durch Vandalismus leider schwer beschädigt – trägt den Werktitel Der Garten Eden (Abb. 98). Eine von Mack für die Kirche St. Theresia in Kaiserslautern entworfene Glasmalerei ist als Paradies-Garten bezeichnet, Verbindung zwischen dem alttestamentarischen Garten Eden und dem durch Christus verheißenen Himmlischen Jerusalem. Auch hier – wie so oft im Schaffen von Heinz Mack zu beobachten – die Übertragung einer Idee von einem Medium in ein anderes. Das Kirchen-fenster weist direkte Bezüge zu den Chromatischen Konstellationen der Pastellzeichnungen auf, hier wie dort evozieren die abstrakten Formen aus leuchtendem Blau und Gelb die Assoziation eines Blumenbeetmusters wie auf persischen Teppichen. Mack hat mit dem dominierenden Azurblau und Gelb die Farben des Wassers und des Blüten-staubs gewählt, die Farben der lebenspendenden Grundelemente einer blühenden Gartenarchitektur. Ihre Mischung ergibt die Farbe Grün, die Grundfarbe aller Vegetation, eine chromatische Konstellation, die sehr häufig auf den Mackschen Pastellen zu finden ist.

 

In Macks leuchtenden Farben aus der Regenbogenskala erhalten die abstrakten Farbanalysen aus der Geschichte der modernen Kunst ihren Reflex und ihre Weiterführung. Schon Bilder aus der Vor-Zero-Phase bekunden die Auseinandersetzung des jungen Künstlers mit Paul Klees polyphonen Aquarellen aus der Bauhaus-Ära. Die nachhaltigen Eindrücke, die der Bauhauslehrer auf einer Ägyptenreise vom 17. Dezember 1928 bis zum 17. Januar 1929 sammeln konnte, haben ihren Niederschlag in einem aus der Wüstenlandschaft deduzierten Kompositionsgefüge gefunden. Das blendende Sonnenlicht und die linearen Formationen des Wüstensandes spiegeln sich auf den „ägyptischen Blättern“, die Licht streift durch die Ebene, Monument an der Grenze des Fruchtlandes oder B. e. H. (Oberägypten) betitelt sind, in Gestalt horizontal gelagerter Parallelogramme, Trapeze und streifig gelagerter Tonwerte aus hellem Ocker, Rosa, Gelb und Rosa – eine chromatische Konstellation, die auf den Mackschen Pastellen in neuen Formationen wiederkehrt. Interessant ist dabei die Tatsache, daß auch für Paul Klee wie 40 Jahre später für Heinz Mack mit dem Erlebnis der Wüste eine einschneidende Lichterfahrung verbunden ist. In Ägypten fand Klee, wie Christian Geelhaar konstatiert, „die Lösung des wichtigsten Problems, das seiner zu dieser Zeit noch harrte – das Phänomen des Lichtes“. 4

 

Neben Klee ist Henri Matisse mit seinen über die gesamte Bildfläche pulsierenden Farbflecken und Arabesken schon früh ein Anreger für die Findung puristischer Strukturen, mit denen Mack seinen Lichtmodulationen abstrakte Gestalt und ordnende Symmetrie verleiht. Intensive Beschäftigung mit der islamischen Kunst, die Matisse 1910 auf einer Reise durch das maurische Spanien und beim Besuch der großen Islam-Ausstellung in München vornahm, motivierte ihn zur Dezen-trierung der Bildfläche nach den Vorgaben orientalischer Teppiche, deren stilisierte Floralornamentik nicht zuletzt ein Abbild des Gartens Eden beinhaltet. Aus der Erfahrung des orientalischen Ornaments, dessen transzendierende Sinnbild-lichkeit dem islamischen Ikonoklasmus geschuldet ist, rehabilitiert Matisse das Dekorum. In den Arabesken des Orients, die er anhand von bildfüllenden Vorhängen und Stoffmustern zitiert, sieht Matisse eine mimetische Hinter-lassenschaft der mittelöstlichen Kunst, die zu reaktivieren und der abendländischen Kunst einzugliedern ihm ein zentrales Anliegen ist. 5

 

Das Allover der vegetabilen Muster, das den Gemälden des Franzosen ihre wie aus Tapetenstücken collagierte Flächigkeit und vitale Dynamik verleiht, findet bei Mack sein Pendant in der Endlosigkeit der Strukturen, aus deren lichtmodulierenden Energien die Raumzeichnung der Spiegelkuben, Stelen, Prismen und Gitterflügel hervorgeht. Eingepflanzt in den vegetationslosen Wüstenboden, konstruieren diese Objekte Areale aus Licht- und Farbkompartimenten, die wie ein orientalisches Teppichgeflecht einen gartenartigen Raum abgrenzen. Immer wieder zieht Mack auch thematisch Parallelen zwischen seinen künstlichen Lichtgärten und den eingefriedeten Vegetations-oasen, die eine jahrtausendealte Kultivierung in die Wüste eingeschrieben hat. Eines der ältesten Zeugnisse solcher Oasen, die schon die Ägypter anlegten, kennen wir aus den piktographischen Gartendarstellungen einer Grabanlage in Tell-el-Amarna, die auf 1355 v. Chr. datiert wird. War in diesen symmetrisch geordneten Anlagen schattenspendender Baumpflanzungen ein Wasserbecken die ‚Seele’ des ‚locus amoenus’, so übernimmt das Licht bei Mack diese energetische Funktion, aus der die Verwandlung der Wüstenödnis in einen Garten der Kunst hervorgeht.

 

Hat man sich auf die Suche nach historischen Parallelen zu den modernen Lichtgärten von Heinz Mack eingelassen, ist die Assoziationskette von einer erstaunlichen Breite. Schon die antiken Schriftsteller formulierten mit schöner Anschauungs-kraft das Faszinosum ungewöhnlicher Gärten, denken wir nur an die Berichte von den sagenhaften Hängenden Gärten Babylons. Heinz Mack, der sich unter der mediterranen Sonne Ibizas heute ebenso zu Hause fühlt wie im rheinischen Mönchengladbach, wird die utopische Vorstellung der Hängenden Gärten im Palast des Nebukadnezar mit Genuß nachvollziehen können: im sonnenversengten Mesopotamien eine zwischen hohen Palastmauern eingespannte Terrassenlandschaft, ein architektonischer Raumgarten, dessen fruchtbares Grün nicht nur die Bodenfläche des Areals bedeckte, sondern sich – wie Macks Lichtballette – zum kunstvollen Raumerlebnis zwischen Erde und Himmel ausdehnte. Märchenhaft ausschmückende Überlieferung hat die historisch verbürgte Realität des antiken Weltwunders zur utopischen Sensation verklärt, wobei es kein Zufall sein mag, daß dieses Schlaraffenland nicht weit entfernt war von dem Ort, wo christliche Deutung den alttestamentarischen Garten Eden geographisch lokalisierte: in der Region von Euphrat und Tigris. Was vor allem an den Hängenden Gärten Babylons stets fasziniert hat, war die unglaubliche Verwandlung eines Raumes – ein künstlerisches Prinzip, mit dem die Macksche Raumkunst seit ihren Anfängen bis heute operiert.

 

Neben die spektakulären Lichtexperimente in weiträumiger Natur- und Stadtlandschaft traten stillere, in ihrer Irritationskraft aber nicht weniger faszinierende Arbeiten wie die Verwandlung eines Museums, die für das Haus Esters in Krefeld konzipiert wurde (Abb. 85 B). Der Entwurf zeigt, wie Mack sein Konzept, das aus Kostengründen nicht zur Ausführung gelangen konnte, gedacht hatte. Alle Fenster des Museums sollten durch Spionspiegel ersetzt werden, so daß sich die Parkanlage rund um das Mies van der Rohe-Gebäude in den Fenstern widerspiegeln würde. Die erstaunlichen Metamorphosen des Außenraums lassen sich an den Simu-lationen des Künstlers ablesen. Viele Spiegelexperimente sind mit ihren faszinierenden Bildern auf Spiegelkuben in die Macksche Landschaftsarchitektur eingegangen, wobei sich die künstlichen Lichtgärten um Gartenskulpturen mit floralen Spiegelungen erweitert haben (Abb. 85 A).Vegetation und Skulptur inszenieren in dieser Nachbarschaft jeweils ihre eigenen Dynamik.

 

Die Kunst Macks ist stets wie die Gartenkunst ein ästhetisches Theatrum, ein Manifest der Schönheit, womit sich ein weiterer Bogen zum Garten Eden schlagen läßt. Denn die schönsten Panoramen vom Garten Eden stellt uns die islamische Kunst vor Augen, wenn sie die Verheißung des Korans ins Bild setzt. Während das Alte Testament den Garten Eden ex negativo aus dem Verlust beschreibt, den das Urmenschenpaar nach dem Sündenfall erleidet, schildert die Sure 65 des Korans die sinnlichen Wonnen und erotischen Genüsse des paradiesischen Daseins: „Und wer an Allah glaubt und das Rechte tut, den führt er ein in Gärten, durcheilt von Bächen, ewig darinnen zu verweilen für immerdar. Eine schöne Versorgung hat er für ihn bestimmt.“ Dieses arkadische Szenarium des Paradieses lebt fort in der reichen Gartentradition der islamischen Länder, vor allem in den stilisierten Darstellungen persischer Garten-teppiche und indischer Miniaturen, die Heinz Mack seinerseits als anregende Quellen für seine Bilder und Installationen heranzieht (Abb. 83 und 84). Ein System von Bächen gliedert den islamischen Garten in Zierbeete mit Blumen und Platanen, die von Gärtnern umhegt werden und deren Pflanzenreichtum ebenso grüne Wiesen wie Orangenbäume und Granatapfel-spaliere umfaßt. Solche betörende Sinnlichkeit hat die christliche Askese schon früh aus dem abendländischen Vorstellungshorizont des Paradieses verdrängt.

 

Das dunkle Mittelalter durfte diesen Garten ausschließlich als gemalte Vision wahrnehmen, eingebunden in die religiöse Ikonographie der Marienverkündigung. Solche Bilder imaginieren im Hintergrund der Verkündigungsszene eine kleine, oft durch Mauern geschützte Oase mit idyllischer Flora und Fauna, abgetrennt von der Außenwelt und damit Metapher für etwas real nicht Existierendes, Transzendentes. Der gläubige Betrachter verstand das winzige Stück verzauberter Natur als Verheißung, die der in Maria Mensch werdende Gottessohn nach dem Willen des göttlichen Vaters erfüllte – als Symbol für die Wiedererlangung des Paradieses, allerdings nicht im Leben, sondern erst nach dem Tod. Wenn Mack das Paradies mit Hilfe von Werktiteln zuweilen sehr direkt in seine Werke hineinimaginiert, so zielt er nicht auf solche religiöse Transzendenz. Er beschwört vor allem den sinnlichen Glanz dieser schönen Utopie, die Faszination der Idee und deren auratische Realitätsfähigkeit im sinnlich erlebbaren künstlerischen Szenarium. Mit der auratischen Wirkung greifen wir hier Walter Benjamins Begriffsverständnis von Aura auf. Nach Benjamin ist Kunst Mnemotechnik des Schönen, und die auratische Wirkungskraft eines Kunstwerks vollzieht dessen Einbettung in die erinnerungswürdige Erfahrung der menschlichen Gesellschaft. 6 Die Kunst bewahrt mit ihrer auratischen Wirkung die Wunschbilder der Gesellschaft, d. h. für Benjamin die Erinnerung an ein friedvolles Dasein, dessen utopisches Ideal in der Vorstellung des Paradieses gipfelt. 7

 

Den Rückgriff auf die faszinierende Diesseitigkeit der Garten-architektur wagten erstmals nach der Antike wieder die Gartenkünstler der Renaissance und des Barock. Doch ihre zierlichen Oasen einer gezügelten Natur, bereichert mit raffinierten Wasserspielen, wurden bei aller Pracht und allem Erfindungsreichtum vom höfischen Zwang der gestutzten Formen und von der Exklusivität ihrer Nutzung eingeengt – Gründe genug für die Aufklärung, den höfischen Ziergarten durch den Landschaftsgarten abzulösen. Und dieser Land-schaftsgarten wurde zum symbolischen Bild einer allseits versöhnten Gesellschaft stilisiert. In den zurechtgestutzten Bäumen, gezirkelten Hecken und geometrischen Parterre-anlagen sah Jean-Jacques Rousseau Metaphern einer falschen Erziehung. Aber von dem philantropischen Reformgeist eines Rousseau, wie er im Garten der Gesellschaft von Clarens zur utopischen Vision avanciert 8, ist Heinz Mack weit entfernt, ebensoweit wie von den Zierparks des Barock. Denn jede moralisierende Sinnhinterlegung des Gartens widerspricht seiner auf das Aufscheinen des Schönen, auf räumliche Dialoge durch Licht und Farbe fokussierten künstlerischen Haltung. Das Besondere seiner Kunst erwächst aus der Aura, die seine Werke besitzen und in die sich Ideen, aber keine Theorien einnisten. Was sie mit der Gartenkunst generell verbindet, ist ihr Ent-stehen aus dem „Ungenügen der vorhandenen Realität“, worin Mack – darin wiederum den Benjaminschen Kunstvorstellungen nahe – das „eigentliche Movens eines jeden utopischen Entwurfs“ sieht.

 

„Die Hoffnung aufs Paradies durchzieht als anthropologische Konstante das utopische transzendierende Denken des Menschen“, so resümiert Klaus Börner die lange Geschichte der Paradies-Vorstellungen: „In der Sehnsucht nach dem Glück verbindet sich die Erinnerung an verlorene Paradiese, wie sie am Anfang aller Zeiten existiert haben sollen, mit der Hoffnung auf dieses utopische Ziel in der Zukunft oder in der Ferne.“ 9 Als Heinz Mack einem Interview mit Yvonne Schwarzer das Motto voranstellt: „Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“ 10, begibt er sich – geradezu unzeitgemäß – in die Tradition der Paradiessucher, aber er tut es nicht mit den Rousseauschen Erwartungshaltungen der Weltumsegler aus dem 18. Jahrhundert, sondern formuliert seinen Anspruch im Sinne Gauguins, der seinen nicht erfüllten Lebenstraum vom Elysium der Seligen in seinen Bildern sublimiert.

 

Als Gauguin sein irdisches Paradies auf Tahiti suchte, gaben ihm die seinerzeit immer noch äußerst populären Reiseberichte des Seefahrers Louis-Antoine de Bougainville 11 aus dem Jahr 1771 den Anreiz für den eigenen Mut, die europäische Zivilisation gegen ein erhofftes Glück in den tropischen Idyllen der Südsee einzutauschen. Denn Bougainville schildert die tropischen Inseln als ein wahrhaft irdisches Paradies, in dem sich das antike Kythera, die Liebesinsel der Göttin Aphrodite, mit dem Garten Eden im harmonischen Dasein der Ein-geborenen vereint. Doch die Realität, die Gauguin 1891 bei seiner Ankunft vorfindet, entlarvt die Erwartungen als Illusion. Das ozeanische Arkadien, das seine Entdecker 100 Jahre zuvor vorgefunden haben, ist hinter der kolonialen Verelendung der Eingeborenen verschwunden. Gauguins real enttäuschte Hoffnung verlagert ihren utopischen Horizont in die Kompositionen der Tahiti-Bilder. In ihnen erfindet der Maler seinem ersehnten Paradies ein Gesicht, in dem sich christliche und pagane Topoi miteinander verbinden.

 

Auch Heinz Mack bezieht seinen Ausspruch, „das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“, auf den Stellenwert, den die Kunst als beflügelnder Impetus des Kreativen in seinem Leben einnimmt. Mit dem Licht und dem daraus deduzierten Farbspektrum  als Grundelementen seiner Kunst besitzt er ein energetisches Instrumentarium, mit dem er elysische Gärten als konstruierte Territorien vorzustellen vermag.

 

Werfen wir einen letzten vergleichenden Blick auf die Geschichte der Gartenkunst und suchen in ihr nach Berüh-rungspunkten mit dem Mackschen Werk, so finden wir sie bezeichnenderweise in Dessau, dort wo die Bauhaus-Kunst eine Überführung der Utopie in die Realität für kurze Zeit auch nur ansatzweise zu leisten imstande war. Dem Bauhaus gilt Macks große Hochschätzung seit den Studienjahren, das Bauhaus ist für ihn „eines der wenigen Beispiele, wo der Versuch der Realisierung von utopischen Entwürfen, wenn auch nur in ersten Schritten und Stufen, in der Tat unternommen worden ist“. Dem Bauhaus gingen in Dessau die reformerischen Aktivitäten des Fürsten Leopold Franz von Anhalt-Dessau voraus, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich eine Parklandschaft unter Einbezug landwirtschaftlicher Nutzung schuf. 12 Uns interessiert hier weniger die an sich durchaus bemerkenswerte ökono-mische Komponente des Konzepts als vielmehr die spezifische Fähigkeit des Fürsten, eine sinnliche Sensibilität für Orte und deren kultivierende Umgestaltung durch Verwandlung, Unterbrechung, Markierung auszubilden. Der für seine Zeit utopische Entwurf des Fürsten bestand in der Ortsverwandlung durch den erstaunlichen Zusammenklang von Naturkultivierung und Nutzungskultur – ein Phänomen, das Mack in seiner Terminologie als „dynamische Erweiterung“, als „Idee in progress“ bezeichnen würde. Was an der Schwelle zum 19. Jahrhundert in einer armen, ausschließlich agrarisch nutzbaren Region eine innovative Idee von kunstvoll „veredelter Natur“ darstellte, fand im Industrialisierungsschub des 20. Jahr-hunderts durch den Abbau und die Nutzung der Braunkohle-vorkommen sein Ende bis hin zur akuten Krise. Doch auf den ideellen Ressourcen des Fürsten aufbauend, arbeitet eine Projektgruppe im Bauhaus Dessau seit Mitte der 1990er Jahre am Konzeptentwurf eines industriellen Gartenreichs, in dem die Umwelt in ihren natürlichen, geschichtlichen und sozialen Verhältnissen gleichermaßen respektiert wird. Für diese Region, in der die Industriewüste Bitterfelds unmittelbar an das Weltkulturerbe Dessau-Wörlitzer Gartenreich angrenzt, ist dieses Projekt seit langer Zeit ein Novum, das nicht Politik und Wirtschaft, sondern ein künstlerischer Entwurf bereitgestellt hat. Sinnliche Sensibilität für den Ort manifestiert sich in diesem künstlerischen Programm ähnlich wie in den Mackschen Orientierungstopographien aus Licht und Farbe. Wie nötig wir die Wahrnehmung spezifischer Ortsbedingungen heute haben, machen wir uns immer dann bewußt, wenn wir den Natur-verlust und die Unwirtlichkeit unserer Stadträume sinnlich empfinden. Die Erfahrung solchen Ungenügens ist für Mack der Bewegungsimpuls eines jeden utopischen Entwurfs, sei es eine Rauminszenierung, eine Zeichnung oder eine Brunnenscheibe auf einem Platz: „Das Kunstwerk hat seinen eigenen Raum, seine eigene Zeit, sein eigenes Licht. Irrational ist seine Fremdheit und seine besondere Sichtbarkeit, wodurch es in Nachbarschaft zur Natur bestehen kann, selbst wenn diese außergewöhnlich reich ist an Formen, Farben, Größe, Rätsel.“

 

 

Der Essay erweitert Reflexionen, die 1998 von der Autorin für das Buch Heinz Mack: >Utopie und Wirklichkeit< formuliert worden sind.

1 Seit den frühen 1990er Jahren hat sich Heinz Mack der Skulptur zugewandt, wobei er unter Skulptur im klassischen Begriffssinn das bearbeitete raumplastische Bildzeichen aus Holz, Stein oder Metall versteht. Diese Skulpturen stehen immer in Korrespondenz zu ihrem Umraum, und „sie finden eine natürliche Nachbarschaft zur Natur“.

2 Nach Adrian von Buttlar geht die Nachbildung des Vestatempels in der römischen Villa d’Este auf den Villengarten des Plinius zurück. Siehe dazu das Einleitungskapitel zu Adrian von Buttlar: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik, Köln 1989, S. 7ff.

3 Jan van der Groen:Le jardinier du Pays-Bas etc., Bruxelles 1672, S.3.

4 Christian Geelhaar: Paul Klee und das Bauhaus, Köln 1972, S.120.

5 Siehe dazu Philippe Büttner: Ornament und Erinnerung – Matisse, Kandinsky und Mondrian, in: Markus Brüderlin, Fondation Beyeler (Hrsg.): Ornament und Abstraktion. Kunst der Kulturen. Moderne und Gegenwart im Dialog, Fondation Beyeler, Riehen/Basel 2001, S.46.

6 Siehe Walter Benjamins >Zentralpark< -Fragmente von 1938/39, wo es heißt: „Ableitung der Aura als Projektion einer gesellschaftlichen Erfahrung unter Menschen in die Natur: der Blick wird erwidert“ (I, 670) und den Aufsatz >Einige Motive bei Baudelaire< von 1939: „Dem Blick“, so Benjamin, „wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird (…), da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. >Die Wahrnehmbarkeit<, so urteilt Novalis, ist >eine Aufmerksamkeit<. Die Wahrnehmbarkeit, von der er spricht, ist keine andere als die der Aura. Die Erfahrung der Aura beruht also auf der Übertragung einer der menschlichen Gesellschaft geläufigen Reaktionsform auf das Verhältnis des Unbelebten oder der Natur zum Menschen“ (I, 646).

7  Siehe Walter Benjamin, erstes Exposé zum >Passagen<-Werk, 1935: „Diese Bilder sind Wunschbilder und in ihnen sucht das Kollektiv die Unfertigkeit des gesellschaftlichen Produkts sowie die Mängel der gesellschaftlichen Produktionsordnung sowohl aufzuheben wie zu verklären“ (V, 46f.).

8 Siehe hierzu Birgit Wagner: Gärten und Utopien. Natur- und Glücksvorstellungen in der französischen Spätaufklärung. Reihe Junge Wiener Romanistik, Wien-Köln-Graz 1985, bes. das Kapitel >Utopische Gärten<,  S. 126ff.

9 Klaus Börner: Prélude – Paradies-Vorstellungen, in: Georg-W. Költzsch (Hrsg.): Paul Gauguin – Das verlorene Paradies, Ausst.-Kat. Museum Folkwang Essen und Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie 1998, S. 12.

10 Yvonne Schwarzer: Kunst Porträt. Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten. Ein Gespräch mit dem Maler und Bildhauer Heinz Mack, ars momentum 2004.

11 Louis-Antoine de Bougainville: Voyage autour du monde par la frégate la Bondeuse et la flute l’Etoile, Paris 1771.

12 Siehe Norbert Eisold: Das Dessau-Wörlitzer Gartenreich. Der Traum von der Vernunft, Köln 1993.  

 

 

© Karin Thomas 

 

(In: „Das Paradies auf Erden schon zu Lebzeiten betreten“. Gartenkünstlerische Aspekte bei Heinz Mack. In: Mack. Transit zwischen Okzident und Orient. Faszination und Inspiration der islamischen Kultur. Ein Werk-Aspekt 1950-2006. Köln: DuMont Literatur und Kunst Verlag 2006, S. 43-49.)

Die architektonische Komposition des Raumes als Abbild des Himmlischen Kosmos

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2005

Die architektonische Komposition des Raumes als Abbild des Himmlischen Kosmos

 

Noch heute bewundern wir  die gewaltigen Anstrengungen, die das mittelalterliche Abendland mit der Errichtung der romanischen und gotischen Kathedralen vollbracht hat. Staunend stellen wir uns die Frage, wie die Menschen, die damals zumeist auf engstem Raum in dunklen Behausungen lebten, zu solchen ehrgeizigen Leistungen und finanziellen Opfern fähig waren. Aus den Quellen zum Bau der heute zerstörten Kirche von Saint-Trond bei Lüttich erhalten wir ausführliche Auskunft darüber, wie die Gläubigen „in großer Frömmigkeit freiwillig Steine und Säulen aus Köln auf ihren Wagen zur Baustelle fuhren“, und aus anderen Berichten erfahren wir auch, daß Bauern Nahrungsmittel zu billigen Preisen in die Werkstätten der Kathedralen lieferten. Und doch ist die verbreitete Vorstellung, die großartigen Kirchenbauten des Mittelalters seien Denkmäler überbordender christlicher Frömmigkeit der jeweils ortsansässigen Bevölkerung eine romantisierende Legende. Tatsächlich waren Bischöfe mit fürstlichem Status und Äbte reicher Klöster Bauherren der großen Kathedralen und Abtei-kirchen, und der Klerus bediente sich zur Ausführung seiner Bauvorhaben geschulter Baumeister und ambulanter Werk-gemeinschaften, die von Baustelle zu Baustelle zogen.

 

Der sakrale Raum bot den Priestern und Mönchen den geweihten Ort für den Vollzug der liturgischen Gebete und Gesänge sowie für die Verkündigung der christlichen Lehre an die weithin leseunkundigen Gemeinden. Wesentlicher Gehalt der Heilshandlungen ist die Leidensgeschichte Christi zur Erlösung der Menschheit, und eine der großen Errungenschaften der romanischen sakralen Kunst bestand darin, in ihren plastischen und malerischen Bild-werken dieser Heilserzählung sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Wie die Triumphbögen Roms die Siege der römischen Kaiser über den barbarischen Feind in ihrer steinernen Monumentalität verherrlichten, verkünden die Skulpturen und reliefartigen Szenarien an den Portalen und Säulenkapitellen der romanischen Kirchen den Triumph des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Den antiken Basiliken vergleichbar, schaffen die von mächtigen Pfeilern gestützten und von anspruchsvollen Gewölbe-konstruktionen überdachten Gotteshäuser den auratischen Raum für die Feier des Dialoges mit dem Himmlischen Kosmos und der Vergegenwärtigung der Heilstat Christi in der Eucharistie.

 

Raum war in der mittelalterlichen Vorstellung weit entfernt von der abstrakten Begrifflichkeit, die wir in der Moderne ausgebildet haben. Raum war sichtbare Ausdehnung, meßbares Intervall, und seine überwältigende Wirkung in der erhabenen Weite und Höhe der Kathedralen verlebendigte die Worte der apokalyptischen Vision des Johannes aus der Offenbarung 21: „Ich sah, wie die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkam. Sie war festlich geschmückt wie eine Braut, die auf den Bräutigam wartet (…), und der Engel trug mich auf die Spitze eines sehr hohen Berges. Er zeigte mir die Heilige Stadt Jeru-salem, die von Gott aus dem Himmel herabgekommen war. Sie strahlte die Herrlichkeit Gottes aus und glänzte wie kostbarer Stein, wie ein kristallklarer Jaspis. Sie war von einer sehr hohen Mauer mit zwölf Toren umgeben.“  Die strahlenden Kaskaden regenbogenfarbigen Lichts, die durch die kunstvoll verglasten Fensterrosetten in die Kathedralen einströmten und die homophone Meditationsmelodik Gregorianischer Choral- und Antiphongesänge gaben dieser Vision des neuen Jerusalem kristallinen Glanz und akustischen Widerhall in einem Raum, dessen Dimensionen die Empfindung der menschlichen Körper-größe auf Zwergenmaß reduziert haben mag.

 

Romanische und gotische Kunst sind Amalgamgebilde aus viel-schichtigen Einflüssen. Der Terminus >Romanik<, den die Kunsthistoriker des 19. Jahrhunderts prägten, betont die seit Karl dem Großen vollzogene Wiederbelebung der römischen Antike unter christlichen Vorzeichen. Doch darüber lagern sich auch die labyrinthische Flechtornamentik der insularen Kunst sowie Einflüsse aus Byzanz in der Darstellung des Himmlischen Kosmos mit der Majestas Domini, der Muttergottes, den Aposteln und Heiligen sowie den himmlischen Heerscharen. Obwohl die große Kathedralarchitektur auf englischem Boden mit der Herrschaft der normannischen Invasion begann, ist die angelsächsische Spätromanik kein kolonialer Baustil nach nordfranzösischem Vorbild. Wenn auch die englischen Kirchenräume in ihrer Raumatmosphäre französischen Vorbildern folgen, konnte sich eine insulare Eigenständigkeit in den Wandaufbauten und Gewölbekonstruktionen entwickeln, die erst unter Heinrich VIII. mit dem Ende der katholischen Kirche in England verebbt.

 

Die Kreuzzüge brachten die kriegerische Auseinandersetzung der Kreuzritter mit den Osmanen, aber auch das Eindringen islamischer Motive und bordenartigen Dekors in das christliche Baukunstprogramm von Südwestfrankreich, Nordspanien und Sizilien. Die akute Gefährdung des Oströmischen Reiches durch türkische Eroberungen löste die das gesamte christliche Europa erfassende Bewegung der Kreuzzüge aus. 1095 erbat eine byzantinische Gesandtschaft den Beistand des Papstes. Am 18. November 1095 berief Papst Urban II. ein Konzil ein, das zur Befreiung der im Orient lebenden Christen und der Heiligen Stadt Jerusalem aufforderte und den Teilnehmern des Kreuzzuges den Sündenablaß versprach. Als heiligste Stätten der Christen waren die Orte des Leidens und das Grab Christi wesentliche Motivation für die Eroberung Jerusalems. Im Herbst 1096 brach das erste Kreuzfahrerheer auf und eroberte am 14./15. Juli 1099 Jerusalem. Auf dem beschwerlichen Weg nach Osten mußte der Kampfesmut durch wundersame Reliquienfunde wie die der Heiligen Lanze immer wieder neu entfacht werden, und weitere fünf Kreuzzüge waren notwendig, um die Eroberung Jerusalems zu sichern, bis die letzten Kreuzfahrer unter französischer Führung der muslimischen Übermacht unterlagen und Jerusalem 1244 endgültig verloren ging. Kulturell getragen wurde der Impuls der Kreuzzüge von einer burgundisch-provenzalischen Ober-schicht, in der die Gesellschaftskunst der Troubadore herangereift war und sich geistliche Musik in der Gestalt der Gregorianischen Choräle und lateinischer Hymnen in den Abteien und Domen entfalten konnte.

 

Als multinationale Organisation war die Kirche im Mittelalter wichtigste Instanz für die Verbreitung künstlerischer Kenntnisse in Anbindung an die Verkündung der christlichen Heilsbotschaft, da sie mit dem Lateinischen eine einheitliche Sprache besaß. Große Förderung erlebten Architektur, Skulptur, Buch- und Glasmalerei durch das Klosterleben, das Mönchen und Nonnen neben dem Gebet auch  künstlerische Betätigung und Ideenaustausch im Kontext der Ordensniederlassungen ermöglichte. Eng mit den Klöstern verbunden waren Wallfahrten und Pilgerreisen zu den Reliquien  von besonders verehrten Heiligen. Die drei populärsten Pilgerwege führten nach Jerusalem, nach Rom mit den Reliquien von Petrus und Paulus sowie nach Santiago di Compostela, wo angeblich der Leichnam des Apostels Jakobus des Älteren mit einer von der göttlichen Vorsehung gelenkten Schiffsbarke angelandet war. Auf den Reiserouten boten die Klöster den Pilgern Herberge und geistliche Erbauung. Um den Reliquien einen feierlichen Rahmen zu verleihen, entstanden prächtige Kirchen-bauten wie die der hl. Magdalena geweihte Kirche von Vézelay, die sich auf einem der festgelegten südfranzösischen Reisewege nach Santiago di Compostela befand.

 

In den hochgotischen Kathedralen Frankreichs wird die reich verzierte Westfassade zum sichtbaren Anklang an die „Wohnungen des Himmlischen Jerusalem“ (Joh. 14,2). Die Weihenamen vieler französischer Kathedralen wie die von Chartres, Reims, Amiens und L’Epine bekunden die Gestalt Mariens als Bindeglied zwischen Gott und den Menschen.  Die filigranen Kirchenbauten der Gotik verwandeln sich mit ihrer durch Strebebögen, Maßwerkfenster und schwerelos aufragende Bündelpfeiler erzeugten ätherischen Vertikalität zum Abbild des himmlischen Raumes, in dem sich das Licht des Göttlichen materielos niederschlägt. König Ludwig IX. von Frankreich, der den Beinamen >der Heilige< erhielt,  ließ inmitten seines Königspalastes auf der Pariser Ile de la Cité ein gigantisches Reliquiar, die Sainte-Chapelle, zur Aufbewahrung der Leidenswerkzeuge – u.a. der Dornenkrone, die er von Byzanz erworben hatte – errichten. Der vom kaleidoskopischen Licht der Buntglasfenster entmaterialisierte Raum machte die Sainte-Chapelle zum locus sanctus, von dem sich auch das kapetingische Königshaus mit weihevoller Glorie überhöhen ließ.

 

Italien nahm an der gotischen Baukunst keinen wesentlichen Anteil, und schon in der frühen Renaissance betrachtete man in Florenz und Rom den Stil der Strebebögen als >barbarische< Abkehr von den Errungenschaften der auf ausgewogenen Proportionen fundierten antiken Baukultur.  Orientiert an den 27 v. Chr. geschriebenen Zehn Lehrbüchern über Architektur und Bautechnik des römischen Bauingenieurs Vitruv verfaßte der Florentiner Künstler und Kunsttheoretiker Leon Battista Alberti eine Proportionslehre, die er an den Intervallverhältnissen antiker Gebäude exemplifizierte. Besondere Würdigung widmete Alberti 1435 der kurz zuvor von Filippo Brunelleschi vollendeten Kuppel des Florentiner Domes, die er überschwenglich als derart groß beschrieb,  daß „die gesamte Bevölkerung der Toskana in ihrem Schatten Platz finden könnte“. Was Alberti als kühne Neuerung bewunderte, war die technische Großtat eines riesigen Kuppelbaus, der zum Symbol eines neuen Stils, der Renaissance, werden sollte.

 

Schönheit ist für Alberti Übereinstimmung der Teile zum Ganzen, und gemäß dieser auf ausgewogenenen Proportionen gegründeten Harmonievorstellung sieht er eine Analogie zwischen der Architektur und der Musik. Ein Zeitgenosse Albertis, Guillaume Dufay, komponierte in diesem Geist anläßlich der Florentiner Domeinweihung am 25. März 1436 die Motette >Nuper rosarum flores<, die in ihrem Aufbau vielfachen Bezug auf die Architektur nimmt. David Fallows erläutert diese Intervallkongruenz zwischen der Raumkomposition der Architektur und den Zeitproportionen der Motette sehr konkret: Dufay „baut sein Nuper rosarum flores auf zwei tieferen Stimmen auf, die viermal mit verschiedener Geschwindigkeit in einem Längenverhältnis von 6:4:2:3 auftreten – das entspricht dem Verhältnis von Schiff, Vierung, Apsis und Höhe der Kuppel im Dom“. Mit ihrer eleganten Außenhülle prägte die Kuppel Brunelleschis die Kulisse der Stadt Florenz und wurde – anders als der in die himmlischen Sphären weisende Turm der Gotik – zum Symbol städtischen Reichtums und mäzenatischen Selbstbewußtseins, das vor allem die kunstsinnigen Medici zu demonstrieren verstanden.

 

Die von der Antike inspirierten Zehn Bücher über die Architektur von Alberti beeinflußten auch die päpstliche Baukunst in Rom, wo in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Peterskirche nach dem Vorbild der antiken Maxentius-Basilika und des Pantheon umgestaltet wurde. Am 18. April 1506 legte Papst Julius II. den Grundstein für die neue Peterskirche, deren Bau in der Folgezeit ein Jahrhundert beanspruchen wird. Nach den Entwürfen Bramantes sollte ein kolossaler Zentralbau über dem Grundriß eines griechischen Kreuzes innerhalb eines quadratischen Außenbaus entstehen. Die Kuppel nach dem Modell des Pantheons sollte die triumphierende Kirche als Vermittlerin zwischen Geist und Materie, zwischen den himmlischen und irdischen Sphären versinnbildlichen, letztere repräsentiert durch die Päpste in der Nachfolge von Christus und Petrus.

 

Im Bauentwurf für den Tempietto auf dem römischen Monte Gianicolo, wo frühen Chroniken zufolge Petrus mit dem Kopf nach unten gekreuzigt worden sein soll, griff Bramante die Zentralität der Peterskirche wieder auf und gestaltete den Rundtempel ganz nach den antiken Lehren Vitruvs. Den Durchmesser von 16 altrömischen Säulen, die er für den Bau zur Verfügung hatte, benutzte Bramante als Proportionsgrundmaß. So beträgt der Abstand zwischen den Säulen das Vierfache, ihr Abstand zur Raumwand das Zweifache ihres Durchmessers. In dieser Dehnung und Öffnung des Raumes nach außen manifestiert sich der von Petrus ausgehende Missionsauftrag der römischen Kirche in der geometrischen Perfektion der Architektur. Eine vergleichbare harmonische Proportionalordnung wie die des Tempietto sah auch Bramantes Entwurf für den Außenbau des Petersdoms vor, Michelangelos spätere Ausführungen brachen jedoch mit den antiken Regeln zugunsten eines dynamischen Aufwärtsdrangs in Gestalt von Doppelpilastern.

 

In Venedig, wo der Byzantinismus bis in die Renaissance hinein den Kirchenbau prototypisch bestimmte, war es Andrea Palladio, der mit San Giorgio Maggiore und Il Redentore die Neudefinition des sakralen Raumes nach antikem Muster einführte.  Als der Senat der Serenissima nach einer verheerenden Pestseuche 1576 den Beschluß faßte, eine Votivkirche zu Ehren des Erlösers zu errichten und Palladio mit dem Bauauftrag betraute, hatte der Baumeister eine dreifache Aufgabe zu erfüllen. Il Redentore sollte Votivkirche, Prozessionskirche – für die alljährliche Stadtprozession am 21. Juli – und Klosterkirche der Kapuzinermöche sein. Allen diesen unterschiedlichen Funktionen trug Palladios Raumkonzept Rechnung. Der zum Wasser hin gelagerte, weithin sichtbare Portikus bildet wie eine antike Tempelfront den einladenden Introitus zum Langhaus, in dem sich das letzte Stück des feierlichen Prozessionsweges vollzieht. Hat der Gläubige das von Langpfeilern rhythmisierte Langhaus durchschritten, öffnet sich ihm der von einer mächtigen Tambourkuppel überwölbte ovale Zentralraum des Presbyteriums, in dessen Rundung sich die Unendlichkeit Gottes versinnbildlicht. Abgetrennt von den vorderen Raumkompartimenten dient die Exedra hinter der Rotunda ausschließlich der mönchischen Andacht. Sinnfälliger kann der Kontrast zwischen den byzantisierenden Figurationen von San Marco und der antikischen Klarheit von Il Redentore nicht sein: Statt irisierender Farbigkeit vor schwerem Gold strahlt ein puristisches Weiß symbolhaft für die Reinheit des göttlichen Geistes.

 

In den Kirchen des süddeutschen Hochbarock, die den ekstatischen Geist katholischer Glaubenserneuerung nach den Herausforderungen durch die Reformation und den Greueln des Dreißigjährigen Krieges atmen, dient eine übersprudelnde Prachtentfaltung dazu, die Herrlichkeit des Göttlichen als raumgreifendes Andachtsbild den Sinnen erfaßbar werden zu lassen. Bestimmten in der Renaissance die mathematischen Regeln einer harmonischen Proportionalität die Baukunst, intendiert barocke Architektur die Überwältigung des Auges. So gleitet der Blick des Gläubigen über das strahlende Weiß der Freipfeiler, Wandaufbauten und Putti zu den jubelnden Farbrhythmen von Stuckmarmor, Kartuschen und Draperien, um in den illusionären Malereien riesiger Gewölbeovale paradiesische Seligkeit im Angesicht Gottes, Marias sowie der Heiligen und Märtyrer als bildliche Vision zu erleben. Ähnlich wie in der Gotik schafft die barocke Sakralarchitektur den Rahmen für ein spirituelles Gesamtkunstwerk, das sich im feierlichen Vollzug der Liturgie und der kirchlichen Gesänge, begleitet vom Duft des Weihrauchs, meditativ konstituiert. Zu den zentralen Ausstattungen der Barockkirche treten neben Altar und Kanzel die Orgel und die Empore für den Chor. Messe-Kompositionen zu den Texten der Liturgie, Oratorien und Kantaten bringen mit Chorgesängen, Da-capo-Arien und instrumentalen Zwischenspielen eine polyphone Rhetorik in die Kirchenmusik ein, deren drama-tischer Gestus seinen Widerhall im konzertierten Theatrum sacrum von Architektur, Dekor und Malerei erfährt.

 

Idyllisch in die Landschaft eingebettete Wallfahrtskirchen, denen sich die Gläubigen häufig auf mehrtägigen Fußmärschen näherten, um Gnade oder Gesundung von körperlichen und seelischen Gebrechen zu erflehen, reagieren in ihrer Baustruktur auf die Kulisse ihrer Umgebung und holen die Schönheiten der Natur in Gestalt floralen Dekors in ihre Innenräume hinein. So erhebt sich die Birnau mit ihrem haubenbekrönten Turm als Schauseite weithin sichtbar auf einer Weinbergterrasse über dem Bodenseeufer, während die Dachlinie der oberbayerischen Wieskirche in Steingaden die gestufte Silhouette der hinter den Wiesen sich aufbauenden Tauchberge nachzeichnet.

 

Mit der 1754 geweihten Wies, die das wundertätige Gnadenbild des >Gegeißelten Heiland< beherbergt, schuf Dominikus Zimmermann die vollendete Raumform einer Wallfahrtskirche. Der Gedanke der Erlösung von allem Übel durch das Leiden Christi bestimmt das Bildprogramm des Altars und gipfelt im Deckengemälde von Johann Baptist Zimmermann.  Das Kreuz schwebt als Zeichen ewiger Versöhnung mit der Menschheit im strahlenden Zentrum des Bildes. Hell in das Kirchenschiff einfallendes Tageslicht verbindet den realen Raum, in dem sich die Pilger in andächtiger Meditation aufhalten, mit dem illusionistischen Raum der gemalten Himmelsanschauung, die vorwegnimmt, was die Pilger für das Ende ihres Lebensweges ersehnen: den Eintritt in die Herrlichkeit Ewigen Lebens.

 

Eine besondere Vorliebe für die Rotunde verbindet die Barock-architektur mit der Renaissance. Balthasar Neumann wählt den von vier Freisäulen flankierten Rundtempel als Mittelpunkt der Benediktinerabteikirche Neresheim und läßt in ihn Langhaus und Chorraum einmünden. Auch Johann Bernhard Fischer von Erlach konzipiert das Kernstück der Wiener Karlskirche als Oval, um das sich Chor und Kapellen reihen. Markante Akzentuierung erhält diese Raumkonzeption durch die mächtige Tambourkuppel, die sich über dem Kernoval wölbt. Ihre Innenrundung schmückte der kaiserliche Hofmaler Johann Michael Rottmayr 1725 bis 1730 mit einem in leuchtenden Farben gehaltenen Deckenfresko, das den hl. Karl Borromäus in der Glorie zeigt. Der Renaissancegeist des päpstlichen Rom und die Herrschaftsattitüde der deutschen Kaiseridee spricht aus dem von zwei mächtigen Triumphsäulen gerahmten antikisierenden Tempelportikus. Anders als die auf Andacht ausgerichteten Wallfahrtskirchen ist die Karlskirche nicht nur sakraler Ort, sondern auch Machtmonument unter dem Habsburger Kaiser Karl VI., regierte dieser doch über ein Reich, in dem – wie ein geflügelter Spruch stolz verkündete – „die Sonne nicht unterging“.

 

In Österreich verarbeiteten die Baumeister unter der Habsburger Dynastie das schöpferische Potential der vorausgegangenen Renaissance, ließen sich aber nicht vom strengen Regelkanon der auf Vitruv basierenden Traktatliteratur einengen. Sie verbanden die Wiedergeburt der antiken Baukunst mit einer phantasiereichen Theatralik, in der die Pracht des schönen Scheins und zeremonielle Frömmigkeit gleichermaßen Ausdruck finden. Jacob Burckhardt sah daher in der Baukunst des 18. Jahrhunderts das „eigentliche Ende“ und das „glanzvolle Hauptresultat“ der epochalen Architekturgeschichte im christlich geprägten Abendland.

 

 

© Karin Thomas

 

In: Himmlische Harmonien. Heilige Räume und geistliche Musik.(Architekturfotografien von Achim Bednorz).Mit 2 CDs.Köln: DuMont 2005, S. 7-13.)

Laudatio auf Cornelia Schleime

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2004

Laudatio auf Cornelia Schleime

Es gibt heute nur wenige Künstler und Künstlerinnen, die subjektive Authentizität, d.h. die unklischierte Realität ihres Ego in eine ästhetische Sprachform transformieren. Zumeist wird das fiktionale Bild eines individuellen Lebensstils als Identitätsaussage inszenatorisch aufbereitet. Bei Cornelia Schleime ist das anders. Ihrer nie versiegenden Malleidenschaft folgend, setzt sich die Künstlerin immer wieder von neuem den Spannungen kontroverser Erfahrungen und daraus aufkeimender Empfindungen aus. Der Vollzug des Zeichnens und Malens reagiert auf Wahrnehmungen der Gegenwart, reaktiviert ins Unbewusste abgesunkene Eindrücke, die oft bis in die Kindheit zurückreichen, und konstruiert das künstlerische Bild als Metapher für die Amalgamierung der erinnerten Erfahrung mit dem Jetzt- Empfinden.

Die jüngst entstandene Bilderserie, die sich dem seit 1978 amtierenden Papst Johannes Paul II. in komplexen Umkreisungen zu nähern sucht, ist signifikantes Beispiel der bildnerischen Strategie. Offensichtlich der Presse entnommene Vorlagen werden in einer malerischen Anverwandlung ihrer glatten Medienästhetik entzogen und auf Widersprüche der Person und der Institution Kirche zentriert. In dem Maße, in dem Cornelia Schleime mit dem Sog eines aus brüchiger Farbigkeit entwickelten Zooms das Gesicht des von Krankheit gezeichneten Papstes aus den Verpuppungen der Amtstheatralik herausholt, projiziert sie ihre Erinnerungen an die katholischen Rituale ihrer kindlichen Erziehung und daraus resultierende Reflexe ihrer Psyche in die Porträtserie hinein. Was sie an Johannes Paul II. anzieht, ist die Auswirkung biografischer Erfahrungen während der nationalsozialistischen deutschen Okkupation und der kommunistischen Diktatur auf die Art und Weise, wie der Pole Karol Wojtyla seine Amtspflichten ausübt. Wie kein anderer Papst vor ihm nimmt er die sozialen und weltpolitischen Probleme der Zeit  in den Blick und lässt sich dennoch in seinen konservativen Moral-vorstellungen nicht am Zeitgeist messen. Die Antizipation paradiesischer Erlösung in den Transzendenzgebärden der Liturgie hat seine mahnende Sicht auf die apokalyptischen Dimensionen menschlichen Unrechts in unserer Zeit nicht verunklaren können. Mit ihrem ausgeprägten Gespür für Rollen- und Selbstdarstellungsgesten registriert Cornelia Schleime die Brüche zwischen dem medienwirksam ausstrahlenden Charisma und der Unangepasstheit dieses Menschen, die ihr Rückbezüge auf eigenen Befindlichkeiten erschließen. Es ist dieses besondere Persönlichkeitsprofil, durch das Johannes Paul II. in der malerischen Anäherung für Cornelia Schleime ein Teil ihrer Selbstbezogenheit wird.[1]

Dabei besitzen Zeichnen und Malen unterschiedliche Dis-positionen. Zeichnungen sind keineswegs Vorstudien oder Entwürfe für Gemälde, sondern eigenständige spontane Notate, in denen sich wie in einem Zettelkasten Eindrücke aus flüchtigen Momenten und Eingebungen der Phantasie sammeln. Dagegen ist die Malerei konstruktive Annäherung an ein Nicht-Gewusstes; in ihr „gerinnt die Zeit“[2], lösen sich die Fesseln des Wissens, hebt sich die Grenze zwischen der äußeren Welt und dem eigenen Innern auf. In einem Gespräch mit Christiane Bühling beschreibt Cornelia Schleime den Malprozess als Spurensuche ihrer „inneren Sehnsucht“ nach etwas, von dem sie „selbst nicht weiß, wie es aussieht, das in der Arbeit aber Gestalt annimmt“.[3] Ihre Bilder visualisieren somit das Exerzitium eines in Werkserien sich vollziehenden und immer wieder neu einsetzenden existenziellen Fragens – ein Prozess, durch den die Künstlerin zu sich selbst findet. In einem Statement bekennt sie: „Ich kann mich nur aushalten, wenn ich male, sonst bin ich unerträglich.“[4]

Auf einem Erinnerungsfoto von 1993 gibt uns die Künstlerin Einblick in ihre Strategie der Entgrenzung von Zeit und Raum, mit der sie ihre Subjektivität im Kunstprozess durchleuchtet. Auf dem gestellten, mit Selbstauslöser belichteten Foto sehen wir sie als Mädchen im kurzen Trägerkleid. An überlangen Zöpfen, die fortan das Leitmotiv einer größeren Werkgruppe sein werden, zieht die kindliche Person einen Kinderwagen rückwärts. Doch festen Schritts setzt sich das Mädchen, das die Zukunft seines Erwachsenseins bereits hinter sich herschleppt, der Vergangenheit aus. Diese biografische Erinnerung, die Erlebnisse aus der eigenen Kindheit ebenso wie Erfahrungen als junge Mutter mit dem Sohn Moritz einschließt, entfaltet in Zeichnungen langbezopfter, in ihrer unbewußten erotischen Ausstrahlung aufreizender Mädchen ein vielgesichtiges Eigen-leben. Die aus dem Aquarellkasten fließenden Zopfkapriolen changieren zwischen den Zwangsritualen srangulierender Haar-bändigung und fühlerhaft sich verselbständigenden Wuche-rungen. In ihnen verschlüsseln sich gleichermaßen erotische Phantasien und psychische Albträume der Pubertät mit der Doppelbödigkeit der Parodie.

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang noch eine weitere Fotografie, die Cornelia Scleime mit einer signifikanten Übermalung bis heute als Selbstporträt auf ihrer Visitenkarte verwendet. Das Foto entstand 1992 in Afrika während ihrer Studienreise durch Kenia und zeigt die Künstlerin an der Delta-Mündung des Tana-Flusses in den Indischen Ozean. Ihren Körper hat sie mit weitgreifenden fühlerhaften Schwingen ausgestattet. Diese Sehnsuchtsmetapher für einen Ego-Zustand, der die Überwindung der Koordinaten von Raum und Zeit ermöglicht, taucht als Motiv schon ein Dutzend Jahre zuvor, in einer Radierung von 1980, auf, als die Künstlerin – noch an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden studierend – vieles erprobte, um den normierten Vorstellungen einer Kunst im gesellschaftlichen Auftrag zu entfliehen. Eckhart Gillen, der diese Radierung in seinem Beitrag zum Katalog Tiefe Blicke 1985 abgebildet hat, beschreibt aus eigener Beobachtung das Lebensgefühl, das Cornelia Schleime in dieser Zeit für sich kultivierte, als Rückzug in ihre Träume mit Hilfe von „virtuellen Reisen“, die sich in übermalten Kunst-reproduktionen niederschlagen. In der Sächsischen Landes-bibliothek Dresden findet sie bei Francis Bacon, Arnulf Rainer, Cy Twombly parallele Bildgesten zu ihrer eigenen Innenwelt.[5] Großformatige Horizontbilder formulieren – durchglüht von einer gelbbraunen Patina – ein romantisches Panorama der Innerlichkeit als Gegenbild zu den ideologiegesättigten Gesellschaftsentwürfen des offiziellen DDR-Sozialismus. Mit dem Blow-up einer Filmbildprojektion konzentrieren sie sich gänzlich auf den Mikrokosmos der Psyche. Fragile Gestalten, die Selbstbildnishaftes in sich bergen, balancieren auf einer Scheidelinie zwischen Nähe und Ferne oder versuchen den Kokon ihrer Einschnürung abzustreifen. Piktogrammhafte Zeichensetzungen auf Transparentpapier, das von Licht durch-leuchtet wird, performative Malaktionen und partiturhafte Bilderskripten, deren poetischer Fluss aus der Choreografie des Unterbewussten aufsteigt, erproben ein agogisches Aufschreiben von Imaginationen, das der surrealistischen écriture automatique verwandt ist.

Solcher Eigen-Sinn wird 1981 von den DDR-Behörden mit Ausstellungsverbot geahndet. Die Künstlerin antwortet darauf mit der Beantragung ihrer Ausreise. 1984 verlässt sie die DDR, ihr Œuvre muss sie in Ostberlin zurücklassen, es wird für immer verschwunden bleiben. In der westdeutschen Kunstszene erfährt sie – wie auch andere ihrer Ostberliner und Dresdner Freunde, die ebenfalls von Ost nach West wechseln – „eine Ernüchterung ihrer Sicht auf die Dinge und die Welt.“[6]

Dünne Farb- und Tuscheflüsse, die sich zunächst sanft über Japanpapier ausbreiten, erhalten plötzlich im spontanen Einfall von Härte und Schwere eine mit Sand, Leim und Kaffeesatz erzeugte rauhe Tektonik ihrer Oberfläche. Über den leicht-füßigen Tanz anmutiger Körpergebärden lagern sich spröde Elemente des Alltäglichen. Figurationen graben sich als Ritzungen in die Farbhaut ein. In den narrativen Momenten des Malprozesses spiegeln sich die kontroversen Erfahrungen des Lebensablaufs. Schon bald wird sich diese Spannung auf den Gemälden farbmateriell in einem abrupten Nebeneinander von hellen transparenten Tonflüssen vor krustig dunklen Asphaltlackhinterlegungen verfestigen.

Selbstbildnisse, die sich hinter Werktiteln wie Beinahe selbst, Windsbraut, Wanderdüne oder Explosion verschlüsseln, durchleuchten die Reaktionen der Sinne und der Psyche auf eine Zeitgenossenschaft in einem veränderten Gesellschafts-kontext. Das im Osten kultivierte sentimentale Lebensgefühl einer subjektiven Autarkie, die sich in der Kunst gegen eine reglementierte Masse Mensch zur Wehr setzt, relativiert sich nun an den lockenden Klischeebildern des kapitalistischen Konsums. Die traumverlorene Innenwelt der früheren Jahre hat an Boden verloren, eine vitale Neugier sucht nach dem Fremden, um eine innovative Einkreisung der eigenen Identität zu leisten. Dieser rigorose Anspruch schlägt sich in Tage-büchern nieder, deren Oszillogramme sowohl die Grundmuster des urbanen Lebensgefühls in einer westlichen Großstadt wie auch die veränderte Selbstwahrnehmung in Gestalt von Wort- und Zeichnungsniederschriften erfassen. In dieser intuitiven Interaktion fluoreszierender Bilder und Texte friert der Kunstvollzug zentrale Augenblicke des täglichen Erlebens ein, verlängert sie in die Zukunft und ermöglicht zugleich ein diskursives Feedback zu den gespeicherten Erinnerungen, die bereits früher malerischen Niederschlag gefunden haben.

Als die Mauer Ende 1989 fällt, lässt Cornelia Schleime die ostdeutsche Vergangenheit hinter sich, in die sie die Begegnungen mit den alten Freunden aus dem Osten noch einmal zurückholen könnten. Ausgestattet mit einem Jahresstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes, das ihr den Aufenthalt im legendären Atelierhaus P.S.1 ermöglicht, setzt sie sich den überbordenden Oberflächenreizen vo New York aus. In Bann gezogen von dem Bilderecycling des Trivialen in der Werbung und den Inszenierungen des Starkults imitiert sie in eigenen Kostümierungen die Posen und Gebärden, die sie in der Reklame- und Glamourwelt verortet. Mit dem Malpinsel erprobt sie Methoden der Übertreibung, wobei der Effekt des Theatralischen von Ironie hinterfangen wird. Mäuse verknäueln einander mit endlosen Schwänzen, und Bilderserien von Bananen, Porree- und Spargelstangen haben ein maßlos übertriebenes Längenformat. Neben derartig parodistischen Anverwandlungen von Pop-Art-Strategien lassen sich persiflierende Übernahmen konzeptueller Serieneffekte beob-achten, die sich zu Wiederholungen und rituellen Variationen eines Themas verselbständigen und 1996 in den Tuscheblättern langbezopfter Mädchen kulminieren werden. Auffallend an Schleimes New York-Aufenthalt ist die Brechung der Glamour-Faszination in einer Distanz, die sich je nach Befindlichkeit zwischen Ironie und Melancholie bewegt.

Um 1994 bündelt sich der bildnerische Zugriff auf die Erfahrungen der Realität ausschließlich in Malerei und Zeichnung. Eine breit gefächerte Palette von Gemäldeserien, die allesamt spezifische Aspekte des klassischen Porträtgenres in sich tragen und sich dieser Zuweisung dennoch entziehen, thematisiert Differenzen zwischen Pose und Individualität.

Den Gemälden ging zwischen 1992 und 1993 eine Folge von fotografischen Selbstinszenierungen voraus, in denen Cornelia Schleime nach Akteneinsicht den Observierungen ihrer Person durch die Zuträger der Stasi einen bildnerischen Reflex gab. Besonders getroffen fühlte sie sich von jenen Berichten, die inoffizielle Mitarbeiter über ihre Intimsphäre angefertigt hatten. Als sie diese las, hatte sie das Gefühl, man hätte ihr die Vergangenheit gestohlen. Mit hyperbolischer Ironie kommen-tierte sie ihrerseits die denunziatorischen Kommentare ihrer Person und holte sich mit künstlerischen Dynamisierungen der Vergangenheit ein verlorenes Stück ihrer Individualität zurück.

An Porträts von Schauspielerinnen wie Marylin Monroe oder Liz Taylor, deren Starkult zu diesem Zeitpunkt bereits längst Teil der Mediengeschichte geworden war, exemplifiziert Schleime ihre Einsichten in die Konstruktions- und Dekonstruktionsmethoden der Idolisierung, wobei es ihr darauf ankommt herauszufinden, wie weit das Repertoire von Kostümstaffage, Schminke und Mimik variierbar ist. Derartige inszenatorische Erprobungen werden nachfolgend auf die Bildnisse erfundener oder aus Kunst und Literatur entlehnter Gestalten übertragen. Bildtitel wie Nora (1999), Die Herrin (2002), Die Kommissarin (2002), Princess Kaiulani (1999) weisen auf den malerischen Vorgang einer abgewandelten  Nachinszenierung hin, die den Regieeinfällen bei der Schaffung eines Charaktertypus auf die Schliche kommen will. Delikat ist an diesen scheinbar mime-tischen Bildern die konzeptuelle Öffnung überkommener Rollenmodelle für die Vortäuschung von Individualität. In diese Phalanx fiktiver Gestalten und personaler Simulationen reiht die Künstlerin gelegentlich Selbstbildnisse ein, die auch das eigene Konterfei dem Vexierspiel von Anschein und Wahrheit aus-setzen. Je offenkundiger physiognomische Ähnlichkeit wie in den Gemälden Flieger (2995) und Anwärterin (1997) sichtbar ist, um so intensiver wird der Betrachter verunsichert, ob diese Bilder in der Tat als Selbstbildnisse gelesen sein wollen. Die Vorliebe der Künstlerin für Verwandlungen und Kostümierungen schafft sich hier mit einer ordentlichen Portion Selbstironie Abbilder ihrer Maskeraden, während sich das eigentliche Selbst in seiner subkutanen Authentizität nur in Stellvertreterbildnissen Schicht für Schicht enthüllt.

Diese Funktion übernehmen die vielen Kinder- und Mädchenporträts, in denen Cornelia Schleime ihrer malerischen Zeitmaschine komplizierte Projektionen abfordert. Erinnerungen an Erlebnisse aus der eigenen Kindheit verbinden sich mit den Sehnsüchten und Wunschidentitäten, die Erwachsene in eine idealisierte zwangfreie Kindheit hineinblenden. In ihren Zeichnungen holt sich Cornelia Schleime die Widersprüche ihrer Kinderzeit als anekdotische oder ein Sprichwort überzeichnende Parabel in die Gegenwart hinein. Wie in den Collageromanen von Max Ernst metaphorisieren allerlei Gerätschaften aus dem Illustrationsfundus alter Nachschlagewerke das Changieren der Vorstellung zwichen Neugier und Angst, Qual und Lust. Doch was bei Max Ernst rätselhafte Komplizenschaft mit aus dem Unterbewussten auftauchenden Bildern ist, verwandelt sich in Schleimes Animationen und Mutationen zum Trick der Parodie, der die verborgenen Widersprüche stellvertretend für das eigene Ich in den erfundenen kindlichen Subjekten aufspürt. In den fiktiven Posen der Kinder-Porträts gibt es die Schwestern  von Lolita und Alice, die einem somnambulen Exhibitionismus frönen und ihre erotischen Träume selbstverloren nach außen kehren. Und es gibt Unsere Besten (2002) oder den Kleinen Tiroler (2001), die sich den Dressuren der Erwachsenen zu fügen scheinen, aber hinter dem anerzogenen Gehorsam ihre kindliche Sehnsucht nach Ausbruch nur mühsam verbergen. In alle diese Kinder- und Mädchenposen, deren aufreizende Zeichnung zuweilen an Balthus und Klimt heranrückt, malt die Künstlerin spezifische Augenblicke ihres Ich-Bewusstseins hinein. Das illusionistische Bild liefert auf diese unaufdringliche Weise die Figuration einer unsichtbaren Realität.

Nur auf den ersten Blick ist die thematische Kluft groß, die sich zwischen den rasch nacheinander folgenden Porträtserien der verschiedenen Fimdiven und den Nonnenbildern auftut. Denn in ihrem malerischen Arrangement formulieren beide Serien mit Hilfe eines starken Close-up und surrealen Attributen einen verfremdenden Kommentar. Das Porträt von Doris Day auf dem Bild Mitternachsspitzen (1998) synthetisiert beinahe unmerklich mehrere Zeitebenen. Der gespannte Blick der Schauspielerin auf ein unerwartetes Geschehen deckt sich nicht mit unserer Rückerinnerung an den komödiantischen Film von 1960. Denn die scheinbare Filmstill-Einstellung erhält duch das Repoussoir eines nur in schemenhaften Details sichtbaren schwarzen Voile-schleiers eine gespenstische Anmutung, in die sich das Verblassen des Filmruhms hineinschiebt. Aus den irrlichternden Kontrasten der Farben und Schlagschatten schafft der Malprozess ein doppelbödiges Illusionsbild, das in die Hautoberfläche des inszenierten Rollenporträts auch dessen subkutane Ansicht hineinmischt. Hinter diesem malerischen Fake verbirgt sich die innere Wahrheit, dass der Glamour von der ramponierenden Patina des Alterns aufgezehrt wird.

Die gleiche Dekonstruktionsmethode einer delikaten Malerei wird in den Nonnenbildern – wenn auch mit umgekehrt gepolten Vorzeichen – angewendet. Anregungen bezieht die Künstlerin hier nicht aus den Medien, sondern aus Eindrücken, die sie während einer Reise durch Brasilien sammelt. Dort ist es jedoch weniger die exotische Folklore als die Theatralik südamerikanischer Religiosität, durch die Cornelia Schleime veranlasst wird, Rückblicke auf die familiären und kirchlichen Rituale der eigenen Erstkommunion in die inszenierten Nonnen-porträts einzuschleusen.

Auslöser der Verfremdungen sind kompositorisch eingesetzte Irritationen. Cornelia Schleime verleiht den Nonnengesichtern eine laszive Sinnlichkeit und drapiert sie mit ornamentalen Beigaben, die den Gelübden einer Ordensfrau offensichtlich nicht angemessen sind. Dadurch entsteht eine ironische Brechung zwischen dem spirituellen Anspruch der Bild-bezeichnung und ihrer Darstellung. In dem Nonnenbildnis, das den Namen Hoc est corpus meus trägt, stehen die lateinischen Worte aus dem eucharistischen Hochgebet der katholischen Kirche in provokanter Spannung zum erotisch angehauchten Porträtprofil einer jungen Nonne unter ornamental gemus-tertem Schleier, das die Formel der Transsubstantiation ihrer auratischen Aufladung beraubt und auf ihre lapidare Wört-lichkeit zurückführt: Das ist mein Körper.  Cornelia Schleime implementiert in diese sinnlich aufgeladenen Darstellungen der Bräute Christi den biografischen Kontext ihrer eigenen Erstkommunion: Erinnerung an die Ängste von damals, für den Eintritt des Herrn in den eigenen sündigen Leib nicht würdig zu sein und doch die Feierlicheit des Rituals in seiner ästhetischen Dimension so sehr zu genießen. „Von Angesicht zu Angesicht“[7] wird das Ich der Künstlerin deckungsgleich mit ihrem Gegen-über in den psychoanalytischen Verdichtungsprozessen ihrer Malerei, die sich Schritt für Schritt ein Bild des Sublimen im Realen schafft. 1999 porträtiert sich die Künstlerin als Erstkommunikantin mit Kranz und Schleier auf einem Gemälde, das mit dem gemalten Oval eines Passepartouts ein foto-grafisches Konterfei simuliert. Doch das Kind hat die Naivität des unmittelbaren Erlebens verloren, es trägt unverkennbar die Gesichtszüge und den melancholischen Ausdruck einer Erwachsenen. In einem Statement bekennt Cornelia Schleime: „Malerei ist wie ein Schwamm, der Aggressivität und Melancholie aufsaugt.“[8]

 

© Karin Thomas

 

(In: Cornelia Schleime. Fred Thieler Preis für Malerei 2004. Berlinische Galerie, S. 7-14.)

 


Anmerkungen

[1] Siehe Cornelia Schleime, „Ich wollte meinen eigenen Papst malen…“ Im Gespräch mit Christiane Bühling, in: Ausst.-Kat. Cornelia Schleime: „Das Paradies kann warten“, Galerie Michael Schultz, Berlin 2003, S. 35ff.

[2] Statement der Künstlerin, veröffentlicht auf ihrer Homepage www.cornelia-schleime.de

[3] ebd.

[4] ebd.

[5] Eckhart Gillen, Cornelia Schleime: Ich male, also bin ich, in: Ausst.-Kat. Cornelia Schleime, Von Angesicht zu Angesicht, Galerie Michael Schultz, Berlin 2002, S. 5

[6] ebd.

[7] siehe Anm. 5

[8] Statement der Künstlerin (wie Anm. 2)

Aufstand der Bilder

Aufstand der Bilder

Selbstfindung in unzeitgemäßen Bildwelten: Neo Rauch

Unter den Vorzeichen des deutsch-deutschen Bilderstreites hätte in den ersten Nachwendejahren wohl niemand die Vorhersage gewagt, dass ein in Leipzig noch zu DDR-Zeiten ausgebildeter Maler zu den international bekanntesten und gefragtesten Künstlern avancieren könnte. Neo Rauch, der von 1981 bis 1986 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig studierte und anschließend bis 1990 Meisterschüler von Arno Rink war, hat diesen beispiellosen Siegeszug durchlaufen. Ihm gelang dies erstaunlicherweise mit der Wiederbelebung einer figurativen Malerei, die „so vieles außer Kraft setzt, was die Tradition der Moderne verordnet hat“.[1] Museen und Sammler aus der ganzen Welt reißen sich heute um seine Gemälde, die den Betrachter mit ihrem eigentümlich bunten Farbklima verführen, ihn dann aber mit ihrer rätselhaft-allegorischen Bildsyntax in eine befremdliche, geradezu unheimliche Traumwelt hineinziehen. Der herausgehobene Stellenwert, den Neo Rauch inzwischen im Kunstbetrieb einnimmt, bekundet sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass innerhalb von nur fünf Jahren mehrere große deutsche Museen dem Werk umfangreiche Sichtungen gewidmet haben.

Nach der Retrospektive mit dem Titel „Neue Rollen. Bilder 1993–2006“ im Kunstmuseum Wolfsburg 2006 folgten 2010 das Museum der bildenden Künste Leipzig und die Münchner Pinakothek der Moderne mit der Doppelausstellung „Begleiter“ anlässlich des 50. Geburtstags des Künstlers, und in diesem Sommer zeigt das Museum Frieder Burda in Baden-Baden eine ausgesuchte Werkschau, die von dem früheren Direktor des Pariser Centre Pompidou, Kunstkritiker und vielfachen Buchautor Werner Spies kuratiert wurde.

Sein Ausstellungskonzept vollzieht eine Werksondierung, die bei den ersten von Neo Rauch als „gültig“ bezeichneten Bildern der Jahre 1992/93 einsetzt, um dann innerhalb des weiteren Entwicklungsverlaufs bis 2010 mehrere Umbrüche herauszufiltern. Mit Blick auf Struktur, Kolorit, Bildinventar und Figurenkonstellationen durchwandern die Katalogkommentare von Werner Spies und seinen Mitautoren die Atmosphäre der Bilder, diagnostizieren ihre Wurzeln in der realistischen Leipziger Bildsprache und folgen der collagehaften Kombinatorik, in der sich die Resonanzen des Künstlers auf die im Unterbewusstsein sedimentierten Traditionen ebenso wie die jeweiligen individuellen Zeiterfahrungen verschlüsseln.

Mit Burdas Neuerwerbungen „Flut I“ und „Flut II“, beide 1992/93 entstanden, bietet die Baden-Badener Ausstellung Einsicht in die Übergangsphase, in der sich Neo Rauch von der an Bernhard Heisig orientierten, spätinformellen Malweise seiner Studienjahre löste. Amöbenhaft schälen sich aus dunklen Farbschlieren figurative Schemen heraus, die sich zu Realitätspartikeln verdichten und eine eigene imaginative Bildrealität inszenieren. Eduard Beaucamp rekapituliert in seinem Kalalogessay diese frühe Selbstfindungsperiode, in der sich Neo Rauch sowohl von seinen Leipziger Lehrern wie auch von der Versuchung emanzipiert, sich westlichen Vorbildern anzuverwandeln. In einem 1995 mit Roswitha Siewert geführten Interview, aus dem auch Beaucamp zitiert, hat der Künstler die Intention seiner malerischen Metamorphose folgendermaßen erläutert: „ich bin offenbar ein Erzähler, ich benötige Gegenständliches, um der Poesie meiner Träume näher zu kommen. (…) Ich kann jetzt endlich mit diesen Dingen buchstabieren. (…) Ich versuche, Regie zu führen. Ich versuche, die Dinge im Zaum zu halten und die Aspekte des Unterbewußten bewußt zu inszenieren. (…) Das ist das Schöne am Prinzip Malerei, daß sich die Verwerfungen im Seelischen, die unterseeischen Strömungen sehr direkt manifestieren, ob ich es will oder nicht.“[2]

Mit der Rundform des Tondo, die Neo Rauch den 1993 entstandenen Bildern „Lot“, „Saum“ und „Plazenta“ gibt, wird eine imaginäre Bildsinngebung eingekreist, während die eingeschriebenen Worte das prozessuale Suchen in Tiefenschichten pointieren, ohne dass sich dabei eine eindeutige Bilderzählung konkretisiert. Gesichtslose Figuren agieren schemenhaft in einem konstruierten Raum, der den Betrachter in die Gefilde des Unwirklichen, Surrealen hineinzieht. Angesichts solcher Motivsyntax, in der sich die Flucht aus der Realität spiegelt, findet der Surrealismus-Kenner Werner Spies Parallelen zu dem Collageroman von Max Ernst „La Femme 100 têtes“, in dem Materialien aus disparaten Quellen mit Hilfe einer „labyrinthischen Logik“ ein unverwechselbares Gesamtbild zustande bringen. Seine Details liefern ein absurdes Sinngefüge und entziehen sich der Interpretation. Stattdessen entsteht ein desaströses Klima, in dem sich die sozialen Verunsicherungen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg allegorisieren. Wie in dem Collageroman von Max Ernst fällt auch in den Bildern von Neo Rauch auf, dass die inhaltlichen Spannungen keineswegs von stilistischen Brüchen begleitet werden.

Mit gemalten Collagen wie „Ebenen“ (1995) zieht Rauch den Betrachter seinerseits in eine paradoxe Welt. Deren Fragmente sind um die Mitte der 1990er-Jahre der postkommunistischen Leipziger Umbruchlandschaft entnommen und mit Architekturrelikten aus den 1930er-Jahren verschweißt. Solche Zeitbrücken werden sich nach 2000 verstärken und sich zunehmend so camouflieren, dass es keine Schnittstellen mehr gibt. Sie entstehen aus der „alogischen Kombinatorik“, die den Bildkörper aus bühnenhaft gestaffelten Ebenen konstruiert und auf ihnen wie in einem Baukastensystem abgetakelte Werkhallen, Baracken und Silos, brachliegende Baustellen oder halbfertige Gebäudeskelette ansiedelt.

Durs Grünbein entwirft ein poetisch-beklemmendes Wortszenarium für den „Zonenrandbruch“, den Neo Rauch bruchstückhaft in seinen Gemälden registriert und aus dem sich Alpträume verselbständigen: „Baracken trotzen dem Wind vor plakatfarbenen Himmeln, / Im Hintergrund Abraumhalden, manchmal ein Bergmassiv, / Vorn ist die Erde aufgerissen, zeigt ihre bitteren Innereien. (…) Jemand war dort zwischen den Jahreszeiten. Er sah sie, / Die schlimmen Hütten, abrissreif, die Geheimanlagen, / Von denen jeder gewusst hat, kenntlich am Trafohaus, / (…) Und was für Räume das waren! Gespensterzimmer, / Mit zerbrochenen Fensterscheiben, die Vorhänge morsch, / An den Wänden hingen Plakate mit abstrakter Malerei, / (…) Einer steht da, der Bildermacher, / Einer, der aus dem Alltag ausschert, sich zurückzieht / Und nurmehr dem Traum vertraut.“[3] In diesen kontaminierten Landschaften verharren einsame Gestalten wie eingefrorene Marionetten, während andere Figuren – die Alter Egos des Malers – wie Explorateure in die unheimliche Fremdheit eindringen, um aus dem Desaströsen ihre Kraft zur Auflehnung herzuholen. „Wo man nachfragt“, so Werner Spies, „liefert der Künstler konkrete, immer wieder bei der eigenen Beobachtung abgesicherte Assoziationen: An den unscheinbaren Baracken, die in dem einen oder anderen Bild auftauchen, radelt er täglich vorbei. In ihnen waren KZ-Häftlinge untergebracht, die für die Junkers-Werke arbeiten mussten.“[4] In Motiven wie „Modellbau“, „Übung“, „Agitation“, „Manöver“ oder „Appellplatz“ verdichten sich die bleiern gewordenen Relikte des realsozialistischen Fortschritts, wie ihn der Künstler in seiner DDR-Kindheit und -Jugend erlebte – Relikte, die mit dem Ruinösen und Desaströsen patiniert sind.

Wie diese Schwingungen der nationalsozialistischen und der DDR-Vergangenheit in Rauchs Bildräumen nachbeben, so verklammern die poetischen Montagen auch Versatzstücke aus der Kunstgeschichte und den Bildwelten des Comics mit aus dem Unbewussten aufsteigenden Traummotiven, in die sich die Agonie der verdämmernden DDR-Spätzeit eingenistet hat.

Immer wieder webt Rauch konstruktivistische Emblematik und Anklänge an den historischen Surrealismus in seine Bildgeschichten hinein und lässt sie assoziativ, nicht erzählend ihre Aura entfalten. Als Faszinosum konnte sich der Surrealismus schon in die Fantasie des Heranwachsenden „hineinschmeicheln“, wie Rauch selbst berichtet.[5] So stieß er im Bücherschrank seines Großvaters, bei dem er nach dem frühen Unfalltod seiner Eltern aufwuchs, als Zwölfjähriger auf Dalís brennende Giraffen und die verlaufenden Uhren, deren „Nachzittern“ sich ganz konkret im aufgeweichten Inventar des Bildes „Aufstand“ von 2004 wiederfindet. In Dalís apokalyptischen Deformationen sah er später die Traumatisierungen des modernen Menschen widergespiegelt.

Mit den Bilderserien der „MOSAIK“-Comics hat sich schon früh eine weitere, der Fantasie entsprungene Lebenswelt in das Gedächtnis des Malers einlagern können. Neo Rauch selbst spricht dem Einfluss von Comics und insbesondere der Lektüre der „MOSAIK“-Heftreihe von Hannes Hegen eine nachhaltige Rolle als Inspirationsquelle für das Kolorit und das bauliche Inventar seiner Bilder zu. So lassen sich konstruktionstechnische Kompartimente und ineinander geschachtelte Perspektivsichten ebenso wie das Bild-im-Bild-Prinzip auf Rauchs Vorliebe für die Comics zurückführen. Die Comic-Sprechblase mutiert bei ihm zu einer blasenartigen Binnenform im Bildkörper, mit der fremdartige Parallelwelten in das szenische Ambiente implantiert werden. Das Gemälde wird zur Bühne, auf der Neo Rauch seine Konstruktionsteile – die realen und die erträumten – wie Kulissen arrangiert. Doch nicht nur im strukturellen Bildaufbau, auch im motivischen Entwurf von fantastischen Parallelwelten besitzen die in der DDR zum Mythos avancierten Protagonisten der „MOSAIK“-Bildergeschichten, die in außerirdische Gefilde vorstoßenden Digedags, ihren Nachhall in Neo Rauchs Malerei.

Erfunden wurden die inzwischen legendär gewordenen liebenswerten Kobolde in den 1950er-Jahren von dem Pressezeichner Johannes Hegenbarth, der seine Comic-Serien unter dem Pseudonym Hannes Hegen seit Dezember 1955 als kreativer Privatunternehmer veröffentlichte und sich auch gegen politischen Argwohn zu behaupten wusste: „Die Karriere der Digedags beginnt in der Südsee, ehe sie das alte Rom – noch drei Jahre vor Asterix – entdecken. Von dort begeben sie sich nach einer spektakulären Entführung auf eine Reise in den Weltraum, wo sie auf dem NEOS-Planeten landen.“[6] Die Abenteuer der vergnügt-eigensinnigen Digedags auf diesem Planeten haben Neo Rauchs Vater – wie der Künstler selbst vermutet – wohl dazu veranlasst, den Vornamen seines 1960 geborenen Sohnes von diesem außerirdischen Territorium der Fantasie abzuleiten. Jeder, der diese „MOSAIK“-Geschichten las, drang in einen entgrenzten Freiraum ein.[7] Für den Künstler Neo Rauch bot er darüber hinaus eine ästhetische Inszenierungsform für das spannungsgeladene Nebeneinander von Realität und Science-fiction.

In den hellen Räumen des Museums Frieder Burda haben die meist großformatigen Gemälde von Neo Rauch ideale Wirkungsmöglichkeiten gefunden. So nimmt der Ausstellungsbesucher nicht nur den magischen Sog der Exponate wahr, er registriert auch die Umbrüche, die der Werkprozess nach 2000 durchschreitet. Dieser Wandel konkretisiert sich nicht nur in der Monumentalisierung der Bilder zum Panoramaformat sowie in der Verdunklung und Durchmischung der zuvor eher transparent eingesetzten Primärfarben, er äußert sich vor allem auch in einer Harmonisierung der Malfläche. Die zuvor sichtbaren Trennflächen zwischen den Bildkompartimenten verschwinden zunehmend, wodurch sich die Suggestionskraft der Bildatmosphäre steigert. Die Einbettung in historische Räume wird höchst komplex und durchsetzt zunehmend Alltägliches und Traumhaftes mit Kunstzitaten. Erinnerungen aus Literatur, Kunstgeschichte, Comic, Film, Reklame liefern die Bausteine eines unverwechselbaren Kosmos, der sich im Unzeitgemäßen, ja Biedermeierlichen einnistet, aber Vertrautheit verweigert. Denn in die scheinbar bodenständige Idylle mit Landschaften aus dem Leipziger Umland hat sich die historische Ausbeutung als nicht mehr zu tilgende Beschädigung eingeschrieben, Kommunismus und Kapitalismus haben sich hier gleichermaßen in verfehlten Hoffnungen paralysiert.

Wie sich die surrealistische Kunst nach den Utopieverlusten in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges aus der Zukunftseuphorie der frühen Moderne herauskatapultiert sah und in den Sedimenten des Unbewussten die metaphysischen Abgründe des Normalen aufspürte, so sind Neo Rauchs unzeitgemäße Bildwelten mit Barrieren durchsetzt, die mit ihrer paradoxen Grammatik ein gewöhnliches Nachdenken über den Bildsinn versperren. Fenster bieten keine Ausblicke, Kräne, Schlauch- und Kabelsysteme verweigern gewöhnliche Funktionen, Feuerwehrleute richten ihre Löschinstrumente in die falsche Richtung.

Liest man jedoch solche Bilder als hintergründige Einblicke in Rauchs Auseinandersetzung mit dem Handwerk des Malens, dann öffnen sich hinter den Paradoxien erstaunliche Metaebenen. Programmatische Sonden in diese allegorische Doppelbödigkeit legen ab 1997 Gemälde wie „Start“, „Vorführer“ und „Sucher“, in denen Neo Rauch nicht nur die Problematik des Bildermachens verschlüsselt, sondern auch die Malprozesse als „unheimliche Begegnungen mit dem eigenen Selbst“[8] verrätselt.

Auswahl und Hängung der Baden-Badener Exponate führen den Betrachter gezielt an jene Bilder heran, in denen Neo Rauch moderne und postmoderne Malattitüden zitiert und dabei nicht an Ironie und satirischer Banalisierung spart. Groteske Pop-Gebilde bevölkern ohne Kontext die Raumbühne, auf der vier Gestalten in versteinerter Pose eben das nicht tun, was der Bildtitel „Interview“ (2006) als ihr Begehren suggeriert. In „Unter Feuer“ (2010) versperren gestische Farbschlieren den Fensterausblick, während ein konstruktivistisches Robotergebilde tölpelhaft in den Raum stolpert, ohne dass die Figuren davon Notiz nehmen. Stattdessen schaut das biedermeierlich kostümierte Alter Ego des Malers gebannt auf sein Spiegelbild. In derart historisierenden Verkleidungen und Posen treffen wir immer wieder auf Selbstporträts von Neo Rauch, und in jedem Bild sind wir aufs Neue aufgefordert, sein Tun als Wanderer zwischen den Parallelwelten Realität und Traum während der Genese der Bilder zu hinterfragen.

Peter-Klaus Schuster exemplifiziert dies überzeugend an dem Gemälde „Ausschüttung“ (2009), das inzwischen zur Sammlung des Hausherrn Frieder Burda gehört. Er entschlüsselt das Bildrätsel als Hommage an Philipp Otto Runges Gemälde von 1805 „Wir Drei“, das als „Ikone der Künstlereinsamkeit wie des Freundschaftskultes in einer Zeit des radikalen Umbruchs“ steht.[9] Die drei Figuren auf Rauchs Gemälde lassen sich unschwer identifizieren. So ist die Gestalt am rechten Bildrand der Maler selbst; wie der nebenstehende Künstlerfreund Tilo Baumgärtel vollzieht er die im Bildtitel apostrophierte Ausschüttung unter den Augen seiner Ehefrau, der Malerin Rosa Loy. Während sich aus der Schale des Freundes eine flüssige Substanz über die Absperrung ergießt, fallen aus der Schüssel, die Neo Rauch entleert, unterschiedlich geformte geometrische Körper. Schuster sieht in diesen ausgeschütteten Substanzen die Grundelemente der Kunst, die als das Malerische und das Plastische „in die Welt kommen“.

Ein anderes, bereits fünf Jahre früher entstandenes Schlüsselbild „Aufstand“ rekapituliert die unterschiedlichen Exerzitien der Bildgenese, die Neo Rauch in seinem Werkprozess erprobt hat. Im rechten Bildteil reiht er sich in die Gruppe der Wilden ein, die mit heftigen Pinselhieben die Farben auf die Leinwand schleudern, in der Bildmitte harrt er schlafend der Imagination, die ihm der Traum bringt. Die Malerei, die aus solcher Quelle hervorgeht, setzt die Traditionen der Moderne außer Kraft.

10. August 2011 

In: Deutschland Archiv online 8/2011

Quelle:
http://www.bpb.de/themen/CK6HFB.html 

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2007 BILDATLAS KUNST

Meine Zeitreise durch die Kunst im Spiegel öffentlicher Resonanz

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2007 BILDATLAS KUNST

Ein für mich in mehrfacher Hinsicht ungewöhnliches publizistisches Terrain habe ich 2007 mit dem „Bildatlas KUNST“ (Ernst Klett Verlag, Stuttgart und Leipzig mit Friedrich Verlag, Velber) betreten. Das Buch ist in Zusammenarbeit mit den renommierten Kunstpädagogen Dr. Fritz Seydel und Professor Dr. Hubert Sowa entstanden. Für mich war nicht nur die pädagogisch-didaktische Perspektive des „Bildatlas KUNST“ neu, sondern auch der weite thematische Zeithorizont von der Höhlenkunst der Eiszeit bis zur Moderne, in den wir mit einer umgekehrten Chronologie eingetreten sind. So beginnt der Bildatlas seine Zeitreise in die Kunstgeschichte in der Gegenwart und dringt von hier aus Schritt für Schritt in die Vergangenheit ein. Die Darstellung, die an neue Konzepte der Bildwissenschaft anschließt, folgt einem einheitlichen Strukturkonzept. Ein Kunstwerk wird jeweils auf einer Doppelseite vorgestellt. Der Text ist in drei Rubriken gegliedert: „Auf den ersten Blick“ beschreibt wichtige, direkt ins Auge fallende Werkcharakteristika. „Auf den zweiten Blick“ liefert Impulse für eine vertiefende Werkanalyse. „Nachgesehen“ erschließt Zusammenhänge, stellt Bezüge zu anderen Kunstwerken her und öffnet den Zugang zu ideengeschichtlichen oder politisch-gesellschaftlichen Kontexten. Das gemeinsame Anliegen der drei Autoren war die Förderung von Bildkompetenz, damit Schüler und an Kunst interessierte Laien das Sehen lernen und verstehen, wie Bilder gemacht werden und was sie bedeuten.

Der „Bildatlas KUNST“ wurde in der Kategorie Schulbücher, Lehrbücher für „Die schönsten deutschen Bücher 2007“ ausgewählt und erhielt den von der Stiftung Buchkunst auf der Frankfurter Buchmesse 2008 verliehenen „2. Preis der Stiftung Buchkunst 2007“. Die Begründung der Jury:

„Ein wunderbar klares Schulbuch, das durch wohlgeordnete Organisation des Materials überzeugt. Angenehm, wieviel Raum die Kunstwerke erhalten und wie aufgeräumt die Doppelseiten die Informationen zweckmäßig präsentieren. Erholsam, dass auf Schmuckelemente verzichtet wurde und die Abbildungen atmen dürfen. Verdienstvolle konzeptionelle Idee, sehr gutes Leitsystem im Kolumnentitel, sinnvolle Nutzung von Vorsatz, hilfreicher Anhang mit Glossar und verschiedenen Registern komplettieren den übersichtlichen Atlas. Mutig, sehr prägnant und konsequent: der reduzierte Umschlag mit Spot-Lackierung. Ein ganz erfreuliches Werk für den Kunstunterricht!“

Kunibert Bering hat in seiner ausführlichen Rezension „Ein Bildatlas – zwischen Kanon und Prozess“ ( in der Zeitschrift des Bundes Deutscher Kunsterzieher, den BDK-Mitteilungen, H. 3/2008, S. 29-31) darauf hingewiesen, dass das Atlas-Konzept sich in die Tradition der „großen Sammelwerke von Bildern, Texten und Landkarten“ einreiht, die bis in das Ende des 16. Jahrhunderts zurückreichen und in Aby Warburgs legendärem Mnemosyne-Atlaswerk von 1929 kulminieren, das sich dadurch auszeichnet „mit der Bilderflut seiner Zeit umzugehen und bedeutungsstiftende Kontexte zu schaffen“. Zum „Bildatlas KUNST“ führt Bering u. a. aus:

„Kunstdidaktisches Handeln steckt oft in einem Dilemma, das – in den reflexiven Phasen des Unterrichts – an den Fundamenten zu rütteln vermag: Eine überzeugende Analyse eines Werkes und damit eine plausible Vermittlung ist letztlich nur in Kontexten möglich, weil diese Bedeutung zu vermitteln vermögen. Es öffnet sich jedoch eine häufig kaum zu überbrückende Kluft zwischen der Überfülle der Werke und der Konstruktion der Werk erklärenden Zusammenhänge, verbunden mit dem Problem der Auswahl. (…)

Diesen Herausforderungen haben sich drei ausgewiesene Autoren gestellt und erfolgreich einen Atlas erarbeitet, der einen groß dimensionierten Horizont der kulturellen Entwicklung der Menschheit öffnet, der Jahrtausende umfasst und vor allem auch den europazentrierten Gesichtskreis aufbricht. (…)

Die gefundene Form des Atlasses mit seinen historischen Vernetzungen, vor allem auch in Form von Zeitleisten, entspricht einem oft vernachlässigten Bedürfnis, nämlich dem Wunsch nach umfassenden Zusammenhängen, in denen Erkenntnisse über einzelne Bilder verortet werden können. Ein Gewinn des Atlasses besteht darin, dass Kontexte konstruierbar werden, die dem betrachteten Phänomen erst seine Bedeutung verleihen: Die Doppelseiten lassen bereits einen wichtigen Kontext erkennen, der sich über weitere Kombinationen ergänzen lässt, z. B. durch die Verweise auf der Leiste am unteren Seitenrand, durch die weitere Kontexte aufgebaut werden können. (…)

Als weitere Methode der Erschließung des reichen Materials, in der sich auch ein didaktisches Prinzip erkennen lässt, zeichnet sich in der geradezu ‚archäologischen’ Vorgehensweise ab, die die Schichten der historischen Entwicklung der Kunst sukzessive freilegt. Zugleich werden aber an den Stellen, an denen es sich anbietet und notwendig erscheint, Verknüpfungen über die Zeithorizonte hinweg erstellt. So lässt sich beispielsweise die Bronzefigur des Tanzenden Gottes Shiva aus dem frühen 11. Jahrhundert mit den beigefügten Texten in mehreren Schritten als Visualisierung eines kosmischen Prinzips im Kontext der buddhistischen Lehre erläutern und darüber hinaus mit Hilfe der Angaben der unteren Randleiste mit weiteren Weltbildern und kosmologischen Vorstellungen in Beziehung setzen. Hier finden sich nicht nur Anknüpfungspunkte zum fächerübergreifenden Lernen, sondern auch wichtige Schritte zur Überwindung einer in den gängigen Lehrbüchern gerade auch in der Kunstpädagogik vorherrschenden europazentrierten Sicht. Die gelungene Präsentation von prominenten, im selben Zeitraum entstandenen Werken aus dem Hellenismus, aus der Kultur der Olmeken, der nigerianischen Nok-Kultur und der chinesischen Han-Dynastie in einem zeitlichen Querschnitt auf fünf aufeinanderfolgenden Doppelseiten unterstreicht diese Intention des Atlasses eindrücklich.

Wie umfassend das Autorenteam recherchiert hat, zeigt insbesondere die Aufnahme selbst neuester Funde und Publikationen in den Atlas wie z. B. die 1999 gefundene Himmelsscheibe von Nebra oder die erst 2007 ans Licht gekommene Mammutstatuette aus der Vogelherd-Höhle der Schwäbischen Alb, eines der frühesten, heute bekannten Kunstwerke der Menschheit. (…)

Da sich das gegenwärtige Bildungssystem trotz einer vehement gestiegenen Bedeutung des Bildes in einer globalisierten Welt immer noch auf sprachlich-begriffliches Lernen konzentriert, so muss dem Umgang mit Bildern der Rang von Bildungsstandards zugemessen werden. Dem Fach Kunst fällt dann die Rolle der Vermittlung derartiger Kompetenzen im Umgang mit Bildern zu – der vorgelegte Bildatlas kann viel zum Erreichen derartiger Kompetenzen beitragen. (…) Hervorragende Abbildungen und ein umfassendes Register sowie ein gut formuliertes Glossar zeichnen das Werk aus.“

2002 KUNST IN DEUTSCHLAND

Meine Zeitreise durch die Kunst im Spiegel öffentlicher Resonanz

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2002   KUNST IN DEUTSCHLAND SEIT 1945

Als meine wichtigste Publikation betrachte ich „Kunst in Deutschland seit 1945“, die 2002 erschienen ist. Sie zieht gewissermaßen die Summe aus meinen, durch zahlreiche Projekte und Begegnungen mit vielen Künstlern aus dem Westen und Osten Deutschlands vorbereitete Aktivitäten über mehr als 30 Jahre – ein Buch, das kurz vor meinem Ausscheiden als Cheflektorin aus dem DuMont Verlag entstanden ist.

Martina Wehlte hat dieses Buch im DeutschlandRadio (am 16.10.2002) ausführlich gewürdigt:

Die zweiseitige Fotografie, die einem beim Aufblättern entgegenprangt, könnte als Bildkommentar zur deutsch-deutschen Kunstgeschichte der Nachkriegszeit nicht besser gewählt sein: Sie zeigt ein viel gebrauchtes Tandem, überladen mit Koffern, Reisetaschen und Einkaufsbeuteln, Spaten, Kleiderbügeln und Plastikübertopf, ein symbolhaftes Gefährt (übrigens von Andreas Slominski 1994 geschaffen), ein symbolhaftes Gefährt also, auf dem es sich nicht im gleichen Rhythmus bequem radeln lässt, sondern das mühsam vorwärtsgeschoben werden muss. Und wer nicht eine gehörige Portion deutschen Idealismus, preußische Disziplin und rheinländischen Humor besäße, hätte wohl kaum die Kärrnerarbeit leisten können, das mit allerhand ideologischem Ballast, mit Vor- und Fehlurteilen befrachtete Vehikel ‚Kunst in Deutschland seit 1945’ auf dem Weg der Erkenntnis voranzubringen.

Karin Thomas, eine ausgewiesene Kennerin der Kunst des 20. Jahrhunderts und langjährige Cheflektorin im DuMont Verlag, hat diese Aufgabe in einem opus magnum mit über 500 Seiten und mehr als 600 Abbildungen bravourös bewältigt. Und wer in Erinnerung an die Schwemme kunstgeschichtlicher Lexika und Gesamtdarstellungen zur Jahrtausendwende ,schon wieder’ stöhnt, dem sei versichert, dass der vorliegende Band tatsächlich eine breite Lücke schließt, die wohl nur deshalb so lange geklafft hat, weil es sowohl einer intimen Kenntnis der Besonderheiten in den Kunstszenen Ost und West, ihrer breiten Entwicklungsströme und feinen Verästelungen bedurfte, um sie zu schließen, wie auch des zeitlichen Abstands, um zu einer differenzierten Darstellung und leidlich unvoreingenommenen Wertung zu kommen.

Dass dies auch nur möglich ist, wenn man die politischen Direktiven und die jeweiligen soziokulturellen Strukturen mit berücksichtigt, wie die Autorin dies macht, leuchtet ohne weiteres ein. Denn die Kunst spiegelt sowohl das Selbstverständnis der Schaffenden als auch – seismographisch – gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse. So kam es in der Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR zeitgleich zu entgegengesetzten Bestrebungen in der Kunst, die – bezogen auf das jeweilige Gesellschaftssystem – oppositionellen Charakter hatten. Besonders auffällig war das in den sechziger Jahren. Hierzu schreibt Karin Thomas: Als westdeutsche Künstler in den sechziger Jahren das seit Romantik und Expressionismus in der deutschen Kunst bis zum Abstrakten Expressionismus kultivierte Selbstverständnis vom freien schöpferischen Geist zu problematisieren begannen, behauptete sich eben diese Subjekt-Zeichnung – gespeist aus den genannten deutschen Traditionsquellen – in der DDR im Widerspruch gegen das offiziell eingeforderte, dem gesellschaftlichen Auftrag dienende Künslterprofil. Die deutsche Romantik, der Expressionismus hier als Hort individuellen Rückzugs verpönt, dort in ihrem revolutionären Potential entdeckt.

Und wie diese Rezeptionsgeschichte unterschiedlich verlief, so ja bekanntermaßen auch die Anbindung an die West- bzw. Ostkunst, die beiderseits im Zeichen eines Internationalismus stand, der die Autorin schon im Titel ihres Buches auf den Begriff ‚deutsche Kunst’ wohlweislich verzichten lässt. ‚Nach der Katastrophe’ lautet die Überschrift zum ersten von insgesamt zehn Kapiteln, die das Gärende in der Kunst speziell der sechziger und siebziger Jahre schon in Begriffen wie ‚Treibhaus’, ‚Aufbrüche und Ausbrüche’ usw. aufscheinen lassen. Vorangegangen waren die in Vergessenheit geratenen Totenklagen eines Hans Grundig oder Horst Strempel, die Psychogramme des zerstörten Dresden oder Berlin von Wilhelm Rudolph und Werner Heldt. Es folgte die Zeit der Kämpfe zwischen Vertretern einer abstrahierenden Malerei und eines festgefügten Menschenbildes – Ernst Wilhelm Nay, Oskar Schlemmer und Karl Hofer markieren hier gegensätzliche Positionen. Für wen das Herz der Autorin heftiger schlägt, ist unschwer zu erkennen, wenn sie von Nays Bildfläche schwärmt als von einem ‚autonomen Energiefeld einer rhythmisch-musikalischen Farben-Epiphanie’.

Umso höher ist Karin Thomas’ aufrichtiges Bemühen darum zu schätzen, auch konservativ-figürlichen Werken – speziell in der hochrangigen ostdeutschen Bildhauertradition – Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Davon zeugt ihre sensible Beurteilung von Gustav Seitz, und dem dient auch die exemplarische Schilderung des Werkprozesses von Fritz Cremers Buchenwald-Denkmal, das nach mehrmaligen Einsprüchen der staatlichen Auftragggeber erst in der dritten Fassung angenommen wurde und als Beispiel offizieller Reglementierung der DDR-Kunst gelten kann.

Die unterschiedlichen Medien – Malerei, Plastik, Fotografie, Aktionskunst – sind durchaus angemessen repräsentiert; Video und Computerkunst, die sich im Buch nur schwer vermitteln lassen, erfreulich kompromisslos zurückgedrängt. Die Werkbeispiele verraten nicht nur einen immensen Materialfundus sondern auch den kenntnisreichen, souveränen Umgang damit. Dass es hierbei für den weniger professionellen Kunstsinnigen eine Fülle von Entdeckungen zu machen gilt, sei mit Blick auf Edmund Kestings Fotomontage ‚Tod über Dresden’ von 1945 hervorgehoben oder auf die kritischen Bildfindungen von Klaus Vogelgesang und Joachim Schmettau, die auf dem Kunstmarkt weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Und wer kennt Wasja und Moritz Götze, die im Kontext der ‚Kunst nach Spielregeln’ in den neunziger Jahren verortet sind? Die Autorin wirft immer wieder ein Licht auf die unterschiedlichen Strukturen der künstlerischen Landschaften – verschiedene Kunstzentren in Ostdeutschland, eine eher breite Streuung in Westdeutschland –, auf die Problematik von Auftragsproduktionen – beispielsweise Werner Tübkes monumentales Panorama ‚Frühbürgerliche Revolution in Deutschland’ in Bad Frankenhausen oder öffentliche Ausschreibungen, die – wie Hans Haackes Erdtrog für den Berliner Reichstag – ein heiß diskutiertes Politikum wurden.

Die Darstellung erweist sich – und das ist für kunstgeschichtliche Gesamtdarstellungen bemerkenswert – als bis in die unmittelbare Gegenwart auf der Höhe der Zeit, was besonders in dem auch für Insider erhellenden Schlusskapitel ‚Netzwerke’ hervorsticht. Als Resümée darf man fststellen: das deutsch-deutsche Kunsttandem ist ganz schön in Fahrt.“

(Copyright Deutschlandradio)

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ am Sonntag, 22.9. 2002) stellt das Buch unter der Headline „ Ein Land im Spiegel seiner Kunst“ vor und vermerkt:

„Zwölf Jahre nach der Wiedervereinigung legt die Kunsthistorikerin Karin Thomas nun eine erste gesamtdeutsche Geschichte der Kunst von 1945 bis heute vor und überrascht durch eine differenzierte Präsentation einer Fülle von Positionen. Ein Buch, in dem man zu blättern beginnt und verweilen möchte.“

Im Online-Portal des Goethe-Instituts  schreibt Andrea Lesjak (Juni 2003):

„ Nachdem die Kunsthistorikerin Karin Thomas bereits 1985 die Kunst im Osten und Westen Deutschlands in einem Buch knapp und thesenartig gegenübergestellt hatte, gibt sie nun, mehr als eine Dekade nach der Wiedervereinigung, einen umfassenden Überblick über die gesamtdeutsche Kunstentwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Einen solch monumentalen Versuch hat es bislang nicht gegeben. Einzig Kurator Eckhart Gillen unternahm es 1997, im Rahmen der 47. Berliner Festwochen mit der Ausstellung Deutschlandbilder im Berliner Gropiusbau Werke aus Ost und West gleichberechtigt nebeneinander zu präsentieren. Ziel war es, die Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten der künstlerischen Traditionen in den 40 Jahre lang getrennten deutschen Staaten visuell erfahrbar zu machen. Die Auswahl der Exponate konzentrierte sich damals vorrangig auf Kunstwerke, die explizit der Auseinandersetzung mit dem jeweiligen politischen System gewidmet sind wie Gerhard Richters Oktober-Zyklus zum Terrorismus der späten 1970er Jahre in Westdeutschland oder die großformatigen Geschichtsgemälde der Leipziger Malerschule (Werner Tübke, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte).

Karin Thomas greift diesen Ansatz auf, kann aber in ihrer Gesamtdarstellung den Blick auch auf weniger prominente „Nebenwege“ schweifen lassen. So wird auch Kunst, die auf den ersten Blick unpolitisch erscheint und ganz aus der individuellen Entwicklung eines Künstlers zu erklären ist, zum Signet einer spezifischen, durch die politischen Systeme geprägten Lebenserfahrung. Dazu bettet die Autorin die Werke in den zeithistorischen und kulturellen Kontext ein und versucht, Einblicke in die Alltagswirklichkeit beider Staaten zu geben. Denn die unterschiedlichen Entstehungsbedingungen und Publikationskontexte der Kunst in beiden Teilen Deutschlands hatten wesentlichen Einfluss auf die Etablierung unterschiedlicher Formensprachen und auch die Themenwahl der Arbeiten.

Zehn große Kapitel gliedern das Buch, das mit einer Schilderung der künstlerischen Verarbeitung des Kriegstraumas in den Trümmer- und Wiederaufbaujahren beginnt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung der 1950er Jahre verliert sich im Westen das Interesse, gegenständliche Darstellungen des Krieges und seiner Folgen zu versuchen. Mit abstrakten Ausdrucksformen wie Informel und Tachismus und mit Ausstellungen wie der ersten documenta 1955 wollte man nicht nur an die von den Nationalsozialisten gewaltsam abgebrochene Moderne wiederanknüpfen, sondern auch die deutsche Kunst wieder in den internationalen Diskurs integrieren. Die Orientierung am amerikanischen Kunstmarkt spielte dabei eine wichtige Rolle. Zur selben Zeit wurden im Osten die Grundlagen und Regeln für eine parteikontrollierte Auftragskunst, den sozialistischen Realismus, geschaffen. Abstraktion galt als besonders staatsfeindlich. Die Auseinandersetzung mit modernen Künstlern, die sich wie Picasso offiziell zum Kommunismus bekannt hatten, deren Arbeiten der sozialistischen Formensprache jedoch nicht folgten, lieferte reichlich Konfliktstoff.

Immer wieder weist Thomas auf die unterschiedliche Rezeption der gemeinsamen kulturellen Vergangenheit im geteilten Deutschland hin. Während im Westen in den späten 1960er Jahren das Idealbild des freien schöpferischen Individuums zunehmend als Rückzug ins Private kritisiert wurde, erkannten Künstler in der DDR dieses aus der Romantik herrührende, idealistische Künstlerselbstverständnis als Möglichkeit des Widerstands gegen das vom Staat aufgezwungene, dienende Künstlerprofil. Thomas macht aber auch auf Parallelerscheinungen aufmerksam, wenn sie etwa die Bemühungen um einen erweiterten Kunstbegriff bei Joseph Beuys und Gerhard Altenbourg gegenüberstellt, die beide in West- wie Ostdeutschland in den späten 60er Jahren für die enge Verbindung von Kunst und Leben eintraten.

Wichtige Stationen der jeweiligen Kunstentwicklung und des Dialogs zwischen Ost und West werden referiert, und schließlich wird auch eine erste Bilanz der gemeinsamen Entwicklung seit der Wiedervereinigung 1989 gezogen. Wie die Diskussion um die künstlerische Ausgestaltung des Berliner Reichstagsgebäudes und um die Weimarer Ausstellung zur Kunst im Nationalsozialismus und in der DDR (Aufstieg und Fall der Moderne) unlängst zeigte, ist die Beziehung nach langen Jahren der gegenseitigen Abgrenzung immer noch von Vorurteilen, fehlender Information und Problemen der Verständigung geprägt. Kritische Ansätze, Versuche des Dialogs oder gegenseitige Beeinflussung gerieten dabei oft in Vergessenheit. Mit ihrem umfangreichen und informativen Werk leistet Karin Thomas einen wichtigen Beitrag, das Verständnis für die unterschiedlichen Entwicklungen der Kunst seit 1945 in beiden Teilen Deutschlands zu fördern. Dabei hilft die umfangreiche Bildpräsentation dem Leser, den eigenen Blick zu schärfen. Denn in den Kunstwerken spiegelt sich zwar die jeweilige historische Situation, dennoch bleiben sie Zeugnisse der individuellen Wahrnehmung der Welt und können so vielschichtige Erkenntnisse vermitteln.“ 

 

Aus insgesamt mehr als 40 Rezensionen sollen die folgenden Auszüge angeführt werden:

 „Karin Thomas brilliert mit Detailwissen und Analysen.“

(Focus, 7.10.2002)

 „Ein Trumm von einem Buch für ein paar Jahrzehnte Kunst – gute Vorbereitung für Ausflüge in den Dschungel der Bildmoden, aber auch ein kundiger Überblick der entzweiten, dann wieder vereinigten Stilwelten.“

(Der Spiegel, 7.10.2002)

Unter der Überschrift „Endlich: Ein unaufgeregter Blick“ konstatiert die Frankenpost (24.10.2002):

„Der Titel ist unspektakulär: ‚Kunst in Deutschland seit 1945’. Aber die Sache selbst hat Brisanz. Denn das ganze Deutschland ist gemeint, das doch immer noch in vielem, auch in der Kunst, nicht so recht eins sein will. (…) Jetzt unternimmt Karin Thomas, langjährige Ceflektorin für Kunst im Verlag DuMont, den Versuch einer Zusammenschau, wobei sie erstaunliche Parallelen entdeckt und allerdings auch auf Besonderheiten im ehemaligen Hüben und Drüben verweist.

Ein fabelhaftes Buch ist ihr gelungen. So kenntnisreich und fair hätten das wohl nur wenige schreiben können.“

Alfred Nemeczek schreibt in art (H. 12, Dezember 2002):

 „Die Kölner Lektorin Karin Thomas ist die hier zu Lande wohl erfolgreichste Vermittlerin der Moderne: Ihre Paperbacks zur internationalen Kunstentwicklung seit 1900 (…) liegen leicht in der Hand, wiegen aber schwer dank ihrer Faktenfülle und ihrer verlässlichen Urteile zu Künstlern und Richtungen.

Diese Vorzüge überträgt Thomas jetzt auf ein üppig illustriertes Hardcover, das neben einem profunden Epochen-Report auch eine Art innerer Wiedervereinigung der deutschen Kunst seit 1945 anstrebt.“

Das Darmstädter Echo (16.12.2002) rezensiert:

„Zwölf Jahre nach der Wende beginnen sich die Spannungen zu entkrampfen, die den kulturellen Dialog zwischen Ost- und Westdeutschland in der frühen Phase des Wiedervereinigungs-prozesses belastet haben.’ So lautet der optimistische erste Satz im neuen Prachtband von Karin Thomas aus dem Dumont-Verlag. Sie geht mit Texten voller Tiefgang, detaillierter Sachkenntis und exzellenten Abbildungen das Wagnis ein, die Entwicklungen der Kunst in West- wie Ostdeutschland von 1945 bis heute nachzuzeichnen. (…) Die Autorin ist mit mehreren Büchern zur deutschen Kunstgeschichte nach 1945 eine ausgewiesene Kennerin der Materie. Und: Sie führt ihren Leser sicher durch die Stofffülle von der ‚Stunde Nichts’ nach Kriegsende 1945 bis in die jüngste Gegenwart der Kunst.

Man hat das Gefühl, nahezu alles zu erfahren, was wichtig war in Ost- wie Westkunst: von den ersten Jahren der Erneuerung an, deren Kunst in allen damaligen Besatzungszonen vom Antifaschismus bestimmt wurde, bis hin zur Gegenwart, die in Deutschland wie weltweit von den Netzwerken der virtuellen Kunst geprägt ist. (…) Karin Thomas zeigt: Da gibt es unvermutete Nähen zwischen einzelnen Künstlern in Ost und West, aber auch völlig Unvergleichbares. Zwei Beispiele für letzteres: Während man im Westen seit den fünfziger Jahren den Anschluss an die internationale Kunstszene suchte, gab es in der DDR zu jeder Zeit regionale Zentren, aus deren Subkulturen heraus Kunstwerke entstanden, die in der ganzen DDR bekannt wurden. Und: Während im Westen spätestens seit der Pop Art der sechziger Jahre die Idee des freien künstlerischen Individuums von den Künstlern selbst problematisiert wurde, zogen die kritischeren Geister im Osten sich lange gerade auf dieses subjektivistische Ideal zurück. Denn sie stellten es gegen die offizielle Doktrin vom gesellschaftlichen Auftrag der Kunst.“

Das Handelsblatt (21.12.2002) führt u. a. aus:

„Einen fundierten Parallelblick auf das Schaffen ost- und westdeutscher Künstler seit 1945 riskiert Karin Thomas in einem 540 Seiten starken Buch, das tiefere Einsichten bietet. Der DuMont-Autorin gelingt es in klarer, unverkrampfter Diktion, scharfe Trennungslinien und verborgene oder verdrängte Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Die 500 Abbildungen erhellen in enger Beziehung zum Text, aber auch als chronologischer Bildfundus für sich genommen, die Haupt- und Nebenwege deutsch-deutscher Kunst.“

Die Westdeutsche Zeitung (28.12.2002) übertitelt ihre Besprechung:

„Ein vorzügliches Nachschlagewerk und üppig bebildertes Lesebuch führt durch die Kunst in beiden Deutschlands seit Kriegsende“ und hebt hervor:

„Die Ausführlichkeit und Detailliertheit, mit der hier Künstler wie Harald Metzkes, Gerhard Altenbourg, der Kreis um Sitte, Tübke, Mattheuer, Heisig und der Einzelgänger Ebersbach gewürdigt werden, beeindruckt.(…)

Überhaupt legt die Autorin eine sympathische Zuneigung zu Künstlern außerhalb von Schulen und Gruppen – wie Palermo und Knoebel, Eva Hesse und Darboven, Rune Mields und Thomas Demand, schließlich Jochen Gerz – an den Tag. (…)

So geht man aus der Lektüre gestärkt für zukünftige Museumsbesuche hervor – und bestaunt überdies die fantastische Qualität der Fotoreproduktionen sowie der gesamten großzügigen Ausstattung.“

Dass Kunstkritiker unterschiedliche Erwartungen haben, führt auch zu abweichenden Einschätzungen. Und daher sollen auch die Vorbehalte dokumentiert werden, die Hanno Rauterberg (Die Zeit, Sonderbeilage zur Buchmesse, 9. Oktober 2002) formuliert hat:

„Karin Thomas illustriert in ihrem mächtigen, datensatten Buchlaib, wie wechselvoll und schnell sich die Kunst veränderte. (…). Unendlich viele Namen ziehen an einem vorüber, man staunt über die Fülle und das ständige Drängen zur Novität, bekommt vorgeführt, dass auch in der DDR keineswegs die Arbeitereinheitskunst dominierte. Nach einer Weile allerdings wird man des Chronologischen überdrüssig: Erfreut liest man über die vielen Vergessenen, über jene Kurzzeitkünstler, die in keinem Museum mehr auftauchen. Und doch bleibt diese Kunstgeschichte eine Hangelei vom einen zum Nächsten (…) So fühlt sich der Leser nach der Lektüre, als hätte er in einer erstaunlichen Riesenfundgrube gestöbert, manches Schöne und Skurrile nimmt er mit. Nur einen großen Verständnisbogen hat er nicht entdecken können.“

Diese Besprechung hat mich bei dem häufig geäußerten Lob eigentlich besonders interessiert. Denn sie verweist auf ein Grundproblem der Kunstgeschichtsschreibung: Soll die Information über die Entwicklung der Kunst umfassend sein, und sich damit auch dem Risiko aussetzen, eine vielleicht vewirrende Vielfalt von Kunstäußerungen zu beschreiben, die eine öffentliche Wahrnehmung verdienen, oder sollte sie nach einem roten Faden suchen, einem einheitlichen Deutungsmuster, gar einem „großen Verständnisbogen“, den es möglicherweise gar nicht gibt? Darüber ließe sich trefflich streiten. Vielleicht unterscheiden wir uns vor allem durch die Rolle, die ein Kunstbuchautor oder ein Feuilletonist einnimmt. Während von einem Rezensenten der Mut zum entschiedenen (und das heißt auch subjektiven) Urteil erwartet werden muss, sollte ein Kunsthistoriker nach meinem Verständnis versuchen, den vielen beachtenswerten Künstlern dadurch gerecht zu werden, dass man ihr Werk so ins Blickfeld rückt, dass der Leser und Betrachter selbst die Freiheit des eigenen Urteilens behält. Ich lade Sie als Leser meiner Bücher dazu ein, mit mir über diese spannende Frage weiter nachzudenken.